Donnerstag, 25. April 2024

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"Es gibt keine Kollektivschuld"

Alfred Grosser ist ein deutsch-französischer Publizist, Soziologe und Politikwissenschaftler. 1925 in Frankfurt geboren emigrierte der Sohn jüdischer Eltern 1933 nach Frankreich. Im Zweiten Weltkrieg kämpfte er in der französischen Widerstandsbewegung Résistance. Bei zahlreichen Reisen und Vorträgen in Deutschland und Frankreich sowie mit einer Unmenge von publizistischen Beiträgen hat er an der Aussöhnung der Nachbarländer mitgewirkt und zu ihrer nachhaltigen Festigung beigetragen.

Alfred Grosser im Gespräch mit Stephan Detjen | 24.11.2011
    Sprecher: Prof. Dr. Alfred Grosser, als Sohn jüdischer Eltern am 01. Februar 1925 in Frankfurt am Main geboren, 1933 Immigration nach Frankreich, dort über seine Mutter Erwerb der französischen Staatsbürgerschaft. Im Zweiten Weltkrieg kämpfte Grosser in der französischen Widerstandsbewegung Résistance. Studium an den philosophischen Fakultäten von Aix-en-Provence und Paris der Fächer Politik und Germanistik, Abschluss als Agrégé de l’Université und Promotion. Ab 1955 Inhaber des Lehrstuhls am Institut d’études politiques de Paris. 1992 wurde er als Studien- und Forschungsdirektor an der Fondation Nationale des Sciences Politiques emeritiert. Grosser ist ein herausragender französischer Intellektueller, der sich seit der Nachkriegszeit für die deutsch-französischen Beziehungen einsetzt – so war er einer der intellektuellen Wegbereiter im Vorfeld des Élysée-Vertrags. Bei zahlreichen Reisen und Vorträgen in Deutschland und Frankreich sowie mit einer Unmenge von publizistischen Beiträgen hat er an der Aussöhnung der Nachbarländer mitgewirkt und zu ihrer nachhaltigen Festigung beigetragen. Alfred Grosser ist unter anderem Träger des Großen Bundesverdienstkreuzes mit Stern und Schulterband sowie Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels. Er ist seit 1959 verheiratet und hat vier Söhne.

    Alfred Grosser: "Ich bin ein echter Franzose."

    Sprecher: Von Deutschland nach Frankreich und zurück – Absage an Kollektivschuld.

    Stephan Detjen: Herr Grosser, wer 1925 wie Sie in Frankfurt geboren wurde, hat ein Deutschland in Erinnerung, das vor der Zeit des Nationalsozialismus steht. Wer dann als Kind jüdischer Eltern aus diesem Land vertrieben wurde, hat genügend Gründe, dieses Deutschland entweder zu verklären oder zu verteufeln. Wie erinnern Sie sich an das Frankfurt Ihrer Kindheit?

    Grosser: Ein wenig, nicht allzu viel, aber ich weiß noch, dass ich in der Hitlerzeit, 33 noch Hitlerlieder hörte, und ich kenn noch eins oder zwei. Ich war in der Schule, ich bin als kleiner Jude mal geschlagen worden, das war im Frühling 1933 schon. Und sonst erinnere ich mich an das Schwimmbad am Palmengarten. Wir wohnten im vornehmen Viertel Westend und als mein Vater, der Kinderarzt, außerordentlicher Professor an der Uni war, seine Klinik verlor, ausgewiesen wurde aus der Uni und dann vertrieben wurde aus dem Verband der EK1-Träger des Ersten Weltkriegs und weg wollte, sagten die Westend-Juden: Das ist doch nicht für uns, das ist nur für die Polacken. Das Wort Polacke habe ich später noch mal gehört, 1947 in München, das betraf die Vertriebenen. Und das zeigt übrigens, dass das Anti-Polnische in Deutschland sehr tief sitzt. Und dann sind wir weg, im Dezember 33, mein Vater ist dann gleich ... Wir sind in Frankreich dann am 19. Dezember 33 angekommen, in St. Germain bei Paris. Mein Vater wollte eine Kinderklinik aufmachen – nicht unter seinem Namen, denn er durfte nicht, man musste neue Studien machen in Frankreich, sonst wurden die ausländischen Titel nicht anerkannt – und ist dann gleich am 6. Februar 1934 gestorben. Ich habe schnell Französisch gelernt in ein paar Monaten, paar Wochen, war dann normal in der Schule, bekam 1935 den ersten Preis für Französisch, und bin ... Meine Memoiren auf Französisch heißen "Mémoires d’un Français", Memoiren eines Franzosen. Und das betone ich in Deutschland immer: Ich bin ein echter Franzose. Ich bin kein Deutscher mit französischem Pass, wie sogar von […] heute noch gesagt wird.
    Detjen: Aber Sie haben dann auch viel später, 1993, ein Buch geschrieben, das hatte den Titel "Mein Deutschland". Was ist Alfred Grossers Deutschland – das Deutschland der Kindheit oder das, was Sie sich dann später wieder angeeignet haben?

    Grosser: Nein, nein, das war mein Deutschland der Nachkriegszeit, mein Deutschland, ich war 1947 zum ersten Mal in meiner Geburtsstadt Frankfurt, aber war damals schon entschlossen über zwei Dinge, die ich gelernt habe, also empfunden habe in einer Nacht im August 1944 in Marseille, mit falschen Papieren, wo ich dort lebte und unterrichtete an der katholischen Schule: BBC verkündete, dass die alten Leute von Theresienstadt nach Auschwitz transportiert würden. Es war auch der Fall für die Schwester meines Vaters und ihren Mann – und am nächsten Tag war ich sicher, endgültig sicher, dass es keine Kollektivschuld gibt. Und dann, ein paar Tage später, für die Kämpfe und vor allen Dingen für Marseille, war ich im Krankenhaus bei einem sterbenden Freund, der verletzt worden war, daneben lag ein junger deutscher Soldat, der mein Alter hatte, 19, und er wusste wirklich von nichts. Ich habe lange mit ihm gesprochen, und da entstand die Überzeugung: Ich bin ...

    Detjen: Was heißt das, er wusste von nichts?

    Grosser: Er wusste nicht, was ein KZ war, er wusste nicht, was Auschwitz war, er wusste nicht, was Verfolgung war. Er war ein kleiner Soldat gewesen, und wie viele ... Randbemerkung hier: Im Gegensatz zu dem, was die furchtbare Ausstellung "Hitler und die Deutschen" in Berlin überzeugen will, dass es eine Kollektivschuld gibt – ich war sicher: Es gibt keine Kollektivschuld und dann, dass ich mitverantwortlich war für die Zukunft Deutschlands, der deutschen Jugend.

    Detjen: Wir wissen heute auch aus der historischen Forschung, von Büchern etwa von Peter Longerich, dass das Wissen über das, was im Osten, was mit den Juden geschah, doch viel, viel weiter verbreitet war, dass es eigentlich kaum jemanden gab, der mit Fug und Recht sagen konnte: Ich habe gar nichts gewusst.

    Grosser: Also man hat gar nichts gewusst, man hat vieles geahnt, und man hat auch den Juden viel mehr geholfen. Und das Buch von Löw: Sehr umstritten ist, dass ...

    Detjen: Konrad Löw, ein auch in Deutschland umstrittener Historiker.

    Grosser: Ja, es ist umstritten, auch aber umstritten, weil es Dinge sagt, die zum Beispiel bei meinem Freund Friedländer nie gesagt werden, ...

    Detjen: Sie meinen Saul Friedländer, den tschechischstämmigen, israelischen Historiker.

    Grosser: ... Saul Friedländer, ja, und der völlig vergisst oder übersieht, wie viele deutschen Juden von nicht jüdischen Deutschen geholfen worden war. Und zum Beispiel die ehemalige [Anm. d. Red.: Vorsitzende des Zentralrats der Juden] Frau Knobloch ist versteckt worden als jüdisches Kind von einer katholischen Familie, und man hat gesagt, sie sei das uneheliche Kind eines katholischen Mädchens. Deutschland ist viel komplizierter. Longerich hat ein wunderbares Buch über Himmler geschrieben, aber die Geschichte, wer wusste was, das ist heute noch sehr unbestimmt, sehr kompliziert, und es haben Hunderttausende und Millionen Deutsche nicht gewusst, was das Endschicksal der Juden gewesen ist, unter anderem, weil es ja in letzter Minute entschieden worden ist: Bis 1939 konnte man auswandern.

    Detjen: Der Historiker Peter Longerich, den Sie jetzt mit Blick auf seine Himmler-Biografie angesprochen haben, der hat ein Buch geschrieben, das heißt "Davon haben wir nichts gewusst". Es setzt sich mit diesem Narrativ auseinander, es gebe doch viele Deutsche, die nichts gewusst haben, und er widerlegt das, und er nimmt das ja gerade als eine Erklärung auch für diesen befremdlichen Durchhaltewillen der Deutschen am Ende des Krieges, den Kampf bis zum bitteren Ende, dass da auch die Angst vor einer gerechten Bestrafung eine ganz erhebliche Rolle spielte und instrumentalisiert wurde.

    Grosser: Ja, aber das hat mich keineswegs überzeugt, und jetzt ist – ich habe das Buch noch nicht gelesen, ich habe nur die vernichtende Rezension in der "Süddeutschen" und "FAZ" gelesen – das Buch von Götz Aly, das beweist, wie antisemitisch die Deutschen immer gewesen sind, das ist beinah so schlimm wie Goldhagen, der manipuliert hat, das ist eine andere Frage, der sagt: Der deutsche Antisemitismus war ganz anders als der andere, und wenn die Deutschen sich nicht ...

    Detjen: Er erklärt ihn als einen Neid-Antisemitismus.

    Grosser: ... ja, Neid-Antisemitismus, und wenn sie diesen Neid nicht gezeigt haben, so war er heimlich in ihren Herzen. Quatsch. Und der französische Antisemitismus zum Beispiel Ende des 19. Jahrhunderts war viel stärker als der deutsche Antisemitismus, aber er vergleicht nie.

    Sprecher: Deutschlandfunk, das Zeitzeugen-Gespräch, heute mit Prof. Alfred Grosser.

    Grosser: "Es gibt eine ständige Erpressung der Bundesrepublik durch Israel."

    Sprecher: Alfred Grosser – ein streitbarer Geist – Israelkritik.

    Detjen: Herr Grosser, ich habe eben erwähnt Ihr Buch "Mein Deutschland", 1993 erschienen. Es könnte auch ein Buch geben, eine Erzählung, die heißt "Der Alfred Grosser Deutschlands": Auch dieses Land hat sich den verstoßenen Alfred Grosser wieder, so könnte man sagen, zu eigen gemacht. Sie sind ein gefragter Gesprächspartner deutscher Politiker aller Parteien gewesen, ein omnipräsenter Analytiker, Kommentator in den Medien, Sie sind Mitglied in zahllosen Gremien, Kuratorien, Beiräten in Deutschland, das heißt, Sie sind Teil dieser Gesellschaft geworden wieder.

    Grosser: Ja, also ich bin ... In zwei Gemeinschaften werde ich akzeptiert als Mitstreiter, obwohl ich ihnen nicht angehöre: Das ist als Franzose, als voller Franzose in Deutschland, und auf der anderen Seite als Atheist im französischen Katholizismus. Und das muss ich in Deutschland immer erklären.

    Detjen: Sie haben sich mal als Moralpädagogen bezeichnet, ich glaube, die Bezeichnung kam ursprünglich von anderen, aber Sie haben sie sich auch zu eigen gemacht, haben sie angenommen. Die Deutschen haben gerade nach dem Krieg Moralprediger, politische Pädagogen gesucht.

    Grosser: Ja, aber ich glaube, das gilt heute noch: Zum Beispiel zitiere ich ständig die Rede, die Präsident Köhler vor der Knesset gehalten hat und leider nicht auf die Palästinenser angewendet hat, dass die Hitler-Vergangenheit einen verpflichtet, überall für Verfolgte, Verachtete einzutreten, im Namen der gleichen Würde aller Menschen. Ich war vor Kurzem wieder viel in deutschen Gymnasien, in französischen Gymnasien auch, und in Deutschland fragen dann die Schüler: Was betrifft uns noch diese Vergangenheit? Und ich sage: immer die Pflicht, gegen die Werte von Hitler zu kämpfen, das heißt, alle Menschen sind gleich, die gleiche Würde, das steht schon im Grundgesetz, und das zum Beispiel auf die Palästinenser anwenden. Und das hat mit Antisemitismus nichts zu tun.

    Detjen: Die Deutschen leiten ein besonderes Verhältnis zum Staat Israel aus Ihrer Geschichte ab, das Angela Merkel als Teil der deutschen Staatsräson bezeichnet hat.

    Grosser: Ja, ich finde das eben sehr schlimm und ich habe extra ein Buch darüber geschrieben, das heißt "Von Auschwitz nach Jerusalem" über Deutschland und Israel. Es gibt eine ständige Erpressung der Bundesrepublik durch Israel, eine Kritik, eine berechtigte Kritik bekommt als Antwort: Denk an Auschwitz! Und das finde ich ist eine Erpressung. Und jetzt die ganze Diskussion um die Unterseeboote zum Beispiel, soll Deutschland immer bezahlen – Deutschland hat bezahlt und hat das Recht, zu sagen zum Beispiel, dass die Palästinenser ungerecht behandelt werden. Und dass jetzt die Reaktion auf die Aufnahme in die UNESCO, dass das bestraft werden soll mit einer Weiterentwicklung, der widergesetzlichen, internationalen Gesetz zu verurteilen, neue Siedlungen in einem Gebiet, das Israel nicht gehört.

    Detjen: Aber Herr Grosser, wieso kommen Sie dazu, zu sagen, Kritik an der israelischen Politik, insbesondere der Siedlungspolitik, werde in Deutschland bestraft, oder mit dem, was Sie selber auch in Anlehnung an Martin Walser als die "Auschwitz-Keule" bezeichnet haben auch eben in unserem Gespräch? Die Kritik an der israelischen Siedlungspolitik ist doch in Deutschland Common Sense, es gibt keinen Politiker, kein Medium in Deutschland, das diese Politik verteidigen würde.

    Grosser: Nein. Also wenn Sie sehen, ... Also ich habe gesprochen in der Paulskirche zum 8. November letztes Jahr, da gab es viel Aufsehen, ich sollte nicht sprechen, ich sei so furchtbar. Es hat keinen Eklat gegeben, und Herr Graumann hat ... Ich habe ihm dann sehr nett die Hand gegeben nachher, aber ununterbrochen wird gesagt, jede Kritik, dann ist das, und ich sage das überlegt: Es fördert Antisemitismus.

    Detjen: Aber noch mal, Herr Grosser: Ich kenne keinen Kommentar in den deutschen Medien, der die israelische Siedlungspolitik befördern würde. Hier im Deutschlandfunk haben wir bis in die letzten Tage und Wochen hinein immer wieder kritische Kommentare über die israelische Siedlungspolitik gesendet – niemand hat uns bestraft deswegen.

    Grosser: Also wenn Frau Merkel vor der Knesset redet, könnte man meinen, es sei eine Rede vom Likud, und wenn Sarkozy, von Mitterrand bis Sarkozy die französischen ...

    Detjen: Auch Merkel hat die Siedlungspolitik kritisiert.

    Grosser: Nein, aber nicht vor der Knesset. Es ging darum, zu sagen, wie Israel recht hat, und ständig wird Israel recht gegeben, und zum Beispiel: Man stimmt gegen ... Man macht mit mit dem amerikanischen Veto, das ... Und man sagt zum Beispiel nicht, Israel rühmt sich zu Recht, dass es gegründet worden ist auf eine UNO-Resolution, und seitdem alle UNO-Resolutionen verachtet, wenn sie überhaupt zur Abstimmung kommen, wenn es nicht zuvor ein amerikanisches Veto gibt. Und ich glaube, hier könnte die Bundesrepublik sagen: Israel sollte sich doch den verschiedenen Resolutionen fügen. Aber das wird nie gesagt als offizielle Politik.

    Detjen: Israel ist ja nie so unter Druck gestanden in der internationalen Gemeinschaft, auch die USA, auch Deutschland drängen auf die Zwei-Staaten-Lösung, setzen sich kritisch mit der Siedlungspolitik auseinander.

    Grosser: Die Zwei-Staaten-Lösung ist heute ziemlich ausgeschlossen, denn es gibt kein Territorium mehr, das irgendeine Kontinuität hat.

    Detjen: Wie ist Ihr persönliches Verhältnis zu Israel als politischer Beobachter, aber auch als Kind jüdischer Eltern?

    Grosser: Nein, ich würde sagen, ich kenne für ... Eine der Grundwerte, die ich als Moralpädagoge verteile, ist die Distanz zur eigenen Zugehörigkeit. Es ist, weil ich völlig Franzose geworden war, dass ich die französische Politik in Algerien und die Foltern, die Lage und so weiter so hart verurteilt habe und ständig in Artikeln und Reden bekämpft habe. Es ist, weil meine vier Großeltern und meine zwei Eltern Juden waren, dass ich die Vergehen Israels gegen die Grundrechte bitterer empfinde als bei jedem anderen Land.

    Sprecher: Heute im Zeitzeugen-Gespräch des Deutschlandfunks: Alfred Grosser.

    Grosser: "Ich bin intellektuell pessimistisch, aber genetisch Optimist."

    Sprecher: Die besondere Rolle Deutschlands in Europa und in der Welt.

    Detjen: Sie haben eben gesagt, Deutschland sollte moralische Lehren aus seiner Geschichte ziehen, in der Politik umsetzen gegenüber Israel – in anderen Fällen tut Deutschland das immer wieder, Deutschland geriert sich gern als ein politischer Moralpädagoge in der internationalen Landschaft.

    Grosser: Nein.

    Detjen: Wenn wir anschauen, die deutsche Politik in Kriegs- und Friedensfragen ...

    Grosser: Nein, man kniet nieder vor Putin, man kniet nieder vor China. Ich sehe da nicht, wo die Grundrechte verteidigt werden.

    Detjen: Nehmen wir die Frage Krieg und Frieden, die Abstimmung über Libyen.

    Grosser: Ja, über Libyen habe ich das sehr bedauert, dass Deutschland so gestimmt hat, denn es wurde zu nichts verpflichtet, es war ein Text, das überhaupt keine Verpflichtung irgendjemand auferlegte. Und da Abstand zu nehmen, zusammen mit Russland und China, war ein Akt, der der deutschen Tradition des, ich würde sagen, der Unterwerfung gegenüber Amerika – mit Ausnahme des Irakkrieges, wo es [ein] hervorragendes Nein endlich gegeben hat Amerika gegenüber –, ... hat man in dem Fall Libyen mitstimmen können, ohne sich irgendwie zu engagieren.

    Detjen: Es gibt da eine Kontinuität zwischen diesen beiden Entscheidungen, die etwas zu tun hat mit moralischen Vorstellungen, mit einer Scheu der Deutschen vor einem zu starken, zu mächtigen militärischen Auftreten in der Welt.

    Grosser: Also ich denke an die schönen Reden von einem sehr guten Minister, der 1995 die Kaserne eingeweiht hat, die erste deutsche Kaserne in Berlin, Volker Rühe, und der sprach ... Er taufte sie auf Julius Leber und sagte, der Geist des deutschen Widerstands ist die Grundlage der Bundeswehr. Und dann sagte er im Oktober 1995 zu den Rekruten Ost und West: Die Verpflichtung der Bundeswehr ist die Verteidigung der Freiheiten für die Bundesrepublik und das Eingreifen für die Verteidigung der Freiheit anderer. Das ist theoretisch die Grundlage in Afghanistan, die Freiheit der Afghanen. Die Wirklichkeit sieht ziemlich anders aus. Aber es gibt von vornherein eine Berechtigung der Bundeswehr, woanders zu sein als auf deutschem Boden. Das hat sich übrigens auch im ehemaligen Jugoslawien gezeigt.

    Detjen: Joschka Fischer hat explizit die Verbindungslinie zum Genozid des Dritten Reichs gezogen.

    Grosser: Ja, genau. Ich finde – und das sage ich auch in meinem Buch "Mein Deutschland" und in allen anderen Büchern –, die Bundesrepublik ist etwas ganz Besonderes in Europa, anders als alle anderen, und ich hoffe, die anderen werden so wie die Bundesrepublik.

    Detjen: Das müssen Sie jetzt erklären: Was ist die Andersartigkeit, die die anderen prägen sollte?

    Grosser: Sie ist nicht auf den Gedanken der Nation gegründet worden – die Nation war geteilt –, sie ist gegründet worden auf eine politische Moral: die doppelte Ablehnung von Hitler in der Vergangenheit und der Stalinismus in der Nachbarschaft. Das ist die Grundlage der Bundesrepublik, das ist eine moralische Grundlage, und wenn mein ehemaliger Student, ein Kollege, ein großer Protestant, Axel von Campenhausen, sagt, der Staat ist moralisch neutral, ist das absurd – die Bundesrepublik ist genau das Gegenteil: Man lese nur die 20 ersten Artikel des Grundgesetzes, das ist ein moralischer Katalog.

    Detjen: Wenn Sie sagen, die Überwindung der nationalstaatlichen Vorstellungen ist die Leistung oder der Beitrag Deutschlands zu Europa, der ...

    Großer: Nein, es ist keine Überwindung des Nationalstaatlichen, es ist aber: Wenn die Nation als Nation wieder dasteht, was 1990 geschehen ist, ist sie zuerst mal integriert in Europa. Und das ist das, was ich nicht nachvollziehen kann, wenn Egon Bahr sagt, zum Beispiel, dass nach dem Zwei-plus-Vier-Vertrag die Bundesrepublik voll souverän sei: nein. Sie ist voll souverän im System von 1945. Sie ist nicht mehr unterlegen den vier Großen, es gibt in Berlin keine vier Großen mehr und so weiter. Aber sie ist nicht mehr souverän als alle anderen Staaten der europäischen Gemeinschaft, und seitdem sie die D-Mark verloren hat, noch weniger souverän. Und in diesem Sinn ist kein Nationalstaat im vereinten Europa souverän im vollen Sinn, wie das traditionell gesagt wird.

    Detjen: Deshalb tut sich Deutschland leichter damit, auf Souveränität zu verzichten im vereinten Europa als andere Länder, weil es eben eine historisch begründete und inzwischen lange Erfahrung mit eingeschränkten Souveränitäten hat?

    Großer: Ja, aber umgekehrt – und das wird in Deutschland nie genug gesagt –, was war Europa zu Anfang, zur Zeit des Schumanplans, das entscheidende Datum vom 9. Mai 1950? Frankreich ging herab von voller Souveränität auf geteilte Souveränität über Kohle und Stahl, und Deutschland stieg empor von der totalen Abwesenheit von Souveränität auf ein bisschen mehr Souveränität, die aber geteilt war. Aber es war ein Aufstieg, Europa ... Und Adenauer war einerseits – politische Entscheidungen sind nie ganz eindeutig –, er war für Europa im Namen auch der Gleichberechtigung für die junge Bundesrepublik, und das Wort Gleichberechtigung war für ihn noch stärker als das Wort Europa.

    Detjen: Welche Rolle spielt die Vorstellung von Nation, Nationalstaatlichkeit heute noch und welche kann sie noch spielen im künftigen Europa, das sich im Augenblick dramatisch wandelt, das vor einer, tja, möglicherweise einer Neugründung steht?

    Grosser: Ja, wenn die Nation nicht nur die politische Macht ist, sondern der Sinn einer Heimat, einer Zugehörigkeit, einer Kultur, dann ist Europa nie gegen die Nationen gewesen. Wenn aber die Nation verkörpert werden soll in der politischen Macht, dann ist die Nation im machtpolitischen Sinn immer mehr entmachtet. Und ich hoffe, dass es ein paar Schritte weiter gehen wird, ich glaube nicht dran, ich bin momentan ... also ich sage oft, ich bin intellektuell pessimistisch, aber genetisch Optimist. Meine Gene versagen im Fall Israel und meine Gene versagen heute beinahe im Falle Europa, denn alle sagen heute: Wir brauchen mehr gemeinsame wirtschaftspolitische Entscheidungen, finanzpolitische Entscheidungen, steuerpolitische Entscheidungen – niemand macht die Schritte dahin.

    Sprecher: Deutschlandfunk, das Zeitzeugen-Gespräch, heute mit Prof. Alfred Grosser.

    Grosser: "Das Grundgesetz ist mit einigen Einschränkungen eins der besten, das es in Europa überhaupt gibt."

    Sprecher: Aspekte zur Gestaltung Europas.

    Detjen: Die Frage, die sich neu stellt, auch vor den Erfahrungen, die wir in den letzten Wochen mit Blick auf Griechenland gemacht haben, ist: Wie demokratisch kann dieses, ein neu verfasstes, politisch weiter integriertes Europa noch sein? Wird es ein Europa exekutiver Entscheidungen von kleinen Kreisen, von Deutschland, Frankreich, von dem, was jetzt als Frankfurter Entscheidungsgremium auftritt unter Einbindung von EZB-Präsident und Internationalem Währungsfonds sein, also sozusagen eine postdemokratische Verfassung, oder wie weit funktioniert in diesem tiefer vereinten, enger zusammenarbeitenden Europa, das jetzt am Horizont als Möglichkeit, auch als Ausweg erscheint, inwieweit funktioniert da noch die Vorstellung parlamentarischer Demokratie?

    Grosser: Ja, Moment mal – ich kann diese Rede einfach nicht verstehen, denn das Europäische Parlament ist eine legitime Institution, die demokratisch gewählt worden ist. Wenn aber niemand weiß, was es tut, wenn niemand weiß, was seine Rechte heute schon sind, wie es eingreifen kann, wenn die Europaabgeordneten mit ganz wenigen Ausnahmen in ihrer eigenen Partei noch nicht mal hochgehalten werden, in der politischen Diskussion keine Rolle spielen, dann ist es nicht die Schuld der Institution, sondern der Art, wie die Medien und auch die Politiker eigentlich die europäischen Institutionen kleinmachen. Und ich will dann gleich auch das Beispiel des Bundesverfassungsgerichts geben, ...

    Detjen: Eben, darauf muss man ja zu sprechen kommen, das die Legitimation des Europäischen Parlaments, die demokratische, anzweifelt.

    Grosser: Nein, Moment mal: Es geht um die Legitimation des Bundesverfassungsgerichts. Es lebt in der Angst sozusagen wie die Bundesbank, die heute der Europäischen Zentralbank untergeordnet ist. Unsere Institutionen – was hier Bundesgerichtshof ist, la Court de cassation; was hier Bundesverwaltungsgericht ist, le Conseil d'État – haben schon 1975 und 1989 gesagt: Europarecht hat immer Vorrang. Das Bundesverfassungsgericht – Luxemburg gegenüber, dem Europäischen Menschenrechtshof in Straßburg gegenüber – ist sehr zögernd und möchte keine Macht verlieren. Für mich ist das die Haupterklärung der in Meinart sehr schlechten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Lissabon-Vertrag zum Beispiel, wo das Wort Euro überhaupt nicht vorkommt, und das Wort Souveränität ununterbrochen gebraucht wird. Ich habe einen großen Dialog in der Alten Aula Heidelberg über das Gericht eingeleitet, es waren zwei ehemalige Verfassungsrichter dabei, sie haben mich nicht überzeugt, und jetzt hat das Bundesverfassungsgericht Anspruch darauf genommen, dass gewisse Entscheidungen nicht in kleinen Kreisen getroffen werden, sondern öffentlich.

    Detjen: Das ist die letzte Entscheidung, die sich auf den Euro bezieht, auf dieses Neuner-Gremium des Bundestages, das die Rechte des gesamten Parlaments wahrnehmen soll in einem ausgesprochen exekutiven Verfahren.

    Grosser: Ja, nein, ja, und vor allen Dingen: Das Urteil beeinträchtigt auf jeder Ebene – auch in sozialen Diskussionen – jeden Kompromiss: Wenn alles öffentlich ausgetragen werden würde, gibt es keinen Kompromiss.

    Detjen: In der Tat, das Bundesverfassungsgericht, das Hüter der deutschen Verfassung ist, sagt: Es gibt eine Grenze des Grundgesetzes, das der Integration gezogen ist – und das bedeutet: Im Rahmen des Grundgesetzes müssen die Entscheidungskompetenzen beim Deutschen Bundestag verbleiben. Etwas anderes ist mit dem Grundgesetz nicht zu machen, sagt das Bundesverfassungsgericht.

    Grosser: Ja, weil sie eine Interpretation des Artikels 23 haben, die ich nicht teilen kann. Die Wiedervereinigung ist unter dem Zeichen Europas stattgefunden. Artikel 10 des Einigungsvertrags legt den neuen Ländern auf, alle Gesetze und Regeln Europas in die innere Gesetzgebung und Regelung der neuen Länder einzuführen. Der alte Artikel 23 ist abgeschafft worden, weil es nicht mehr zu vereinigen geht. In der neuen Präambel heißt es, die Einheit ist vollendet – und man macht einen neuen Artikel 23, der ausdrücklich das Recht ... Deutschland das Recht gibt, dass man mehr Kompetenzen an Europa abtritt. Das Bundesverfassungsgericht deutet das als eine Begrenzung.

    Detjen: Das Bundesverfassungsgericht zeigt am Ende der Lissabon-Entscheidung eine ganz andere, viel radikalere Lösung und verweist auf die Möglichkeit von Artikel 149, nämlich sich eine neue Verfassung zu geben, und sagt: Man kann viel tun, aber dann muss man eine neue Verfassung, ein neues Grundgesetz in einer Volksabstimmung in Deutschland zur Entscheidung vorlegen. Also braucht Deutschland ein neues Grundgesetz?

    Grosser: Das hätte es 1990 sagen sollen.

    Detjen: Da hat man es nicht gesagt. Jetzt kommt das im Zusammenhang der europäischen Integration noch mal auf den Tisch, noch mal die Frage: Braucht Deutschland ein neues Grundgesetz?

    Grosser: Nein.

    Detjen: Braucht Europa ...

    Grosser: Das Grundgesetz ist meiner Ansicht nach – mit einigen Einschränkungen – eins der besten, das es in Europa überhaupt gibt, und mit einigen Einschränkungen, zum Beispiel, dass gerade in der Außenpolitik zum Beispiel die Länder in Brüssel eine große Rolle spielen und die Bundesregierung nicht verhandeln kann, weil erst die 16 Länder ja sagen müssen.

    Detjen: Herr Grosser, der Lissabon-Vertrag heißt Lissabon-Vertrag, weil man sich nicht getraut hat, ihn europäische Verfassung zu nennen. Müssen wir jetzt einen Schritt weitergehen, brauchen wir eine europäische Verfassung?

    Grosser: Ja, da wäre ich sehr dafür, da wäre ich sehr dafür und das würde einiges, einige Klarheit bringen bei Punkten, die heute sehr unklar sind. Und ich habe zutiefst bedauert, dass es ein französisches Nein im Referendum gegeben hat, weil Chirac sich nicht dafür geschlagen hat, wie Mitterrand sich für Maastricht geschlagen hat.

    Grosser: "Nachkriegszeit muss Deutschland in eine Robe eingekörpert werden, um wieder ein normaler Staat zu werden."

    Sprecher: Die deutsch-französischen Beziehungen, ihre Grundlagen und Zukunftsaspekte.

    Detjen: Alfred Grosser, lassen Sie uns über Frankreich sprechen. Sie sind einer der großen Wegbereiter, Wegbegleiter, Förderer der deutsch-französischen Freundschaft. Sie haben am Anfang unseres Gesprächs die anti-polnischen Ressentiments in Deutschland angesprochen, die Sie als Kind in Frankfurt noch erlebt haben mit dem Begriff Polacken, aber es gab ja auch starke anti-französische Ressentiments. Wieso ist die deutsch-französische Annäherung nach dem Krieg zu einer solchen Erfolgsgeschichte geworden?

    Grosser: Das ist etwas, was nicht anerkannt wird, was die Grundlage war. Ich gebe Ihnen nur ein Beispiel: Adenauer und de Gaulle in der Kathedrale von Reims, schön, Mitterrand und ... Adenauer und de Gaulle, Mitterrand und Kohl in Verdun, sehr ergreifend, Frau Merkel und Sarkozy am Arc de Triomphe am 11. November, schön – alles falsch, alles Symbole des Ersten Weltkrieges. Beim Zweiten Weltkrieg hätte man sich in Dachau treffen müssen, Buchenwald war in der DDR, in Dachau, wo Franzosen und Deutsche gemeinsam gefangen gewesen waren. Als ich zum ersten Mal in Frankfurt war, 1947, nach 1933, war ich beim Bürgermeister Walter Kolb – der kam aus einem Konzentrationslager. Ich hatte mich nicht zu versöhnen mit jemand, der auch gegen Hitler gekämpft hatte. Den ersten Redner, den wir in Paris eingeladen haben mit meinem Komitee zum Austausch mit dem neuen Deutschland, war Eugen Kogon, der auch aus Buchenwald kam. Und diese Verbindung, drei Männer haben das für mich verkörpert, ein Franzose, ein Deutscher, ein Italiener, und zwar: Henri Frenay, Chef der Widerstandsbewegung Combat, Eugen Kogon, der aus Buchenwald kam, und Altiero Spinelli, der aus Mussolinis Gefängnissen kam, die ersten ... haben die erste föderale Bewegung aufgebaut.

    Und die Widerstandsbewegung im Juli 1944 in Genf sagen zusammen mit Vertretern deutscher Widerstandskämpfer, und Nachkriegszeit muss Deutschland in eine Robe eingekörpert werden, um wieder ein normaler Staat zu werden. Das sind die Grundlagen der deutsch-französischen Beziehungen. Ich spreche das Wort Freundschaft nicht gerne aus, denn wer ist mit wem befreundet? Doch gesellschaftlich gibt es mehr Verbindungen zwischen Frankreich und Deutschland auf allen Ebenen, der Anwälte, der Universitäten, der Städte, der Gymnasien, als ... zehn Mal, 20 Mal mehr zwischen Deutschland und jedem anderen Land ... und ... Frankreich und jedem anderen Land. Das genügt nicht, um Europa zu machen, aber diese menschliche Infrastruktur war immer gegenwärtig, wenn es auch politische Krisen gab. Und das wird heute nicht richtig anerkannt. Man spricht von de Gaulle, de Gaulle hat sich zu etwas bekehrt, was er als ... bekämpft hatte, das heißt, Deutschland, Frankreich. Und als de Gaulle seine wunderbare Reise gemacht hat, die jetzt ja nächstes Jahr gefeiert werden wird – Ludwigsburg bereitet sich schon vor, im September, die Erinnerung an de Gaulles große Rede –, aber als er zu Hause ankam, hat Adenauer seine Feder genommen, mit der Hand an Robert Schuman geschrieben: Während des ganzen Besuchs des Generals habe ich an Sie mit Dankbarkeit gedacht, denn Sie haben am 9. Mai 1950 den Eckstein gelegt für die deutsch-französischen Beziehungen und für das vereinte Europa. Das war ein mutiger Akt am 9. Mai. Und in Frankreich war das Erstaunliche, ... Schuman war glücklicherweise kein Politiker von heute, er sah nicht auf Demoskopie, denn wenn er die Frage gestellt hätte, hätte er gesagt: Mit Deutschland schon, jetzt – das kommt nicht infrage. Es war so schöpferisch, dass sich die Gegner des Vertrags zur Kohle- und Stahleinheit, dass die sich verteidigen mussten, und die Befürworter waren in der Mehrheit.

    Detjen: Wir haben jetzt über die Anfänge, über die ersten Jahre, Jahrzehnte der deutsch-französischen Beziehungen gesprochen. Heute, in dem Stadium der europäischen Integration, in dem wir sind, wird Deutschland und Frankreich eine Führungsrolle in der Europäischen Union zugewiesen. Es hat viel Kritik in den letzten Jahren daran gegeben, dass dieser deutsch-französische Motor nicht genügend funktioniert, jetzt aber, aktuell, in der Griechenland-Krise, haben Merkel, Sarkozy wieder Führung gezeigt, auch mit den Hinweisen an Griechenland, mit dem Tabubruch, Griechenland einen Ausschluss aus der Euro-Gemeinschaft anzudrohen. Also funktioniert das wieder besser zurzeit?

    Grosser: Also ich habe das Wort Führung nicht gerne, es sollte ein Motor sein und keine Führung. In den letzten 60 Jahren ist nie etwas angelaufen ohne den Motor, und wenn der Motor nicht das Benzin neuer Vorschläge hatte, ging nichts, das war die Zeit zum Beispiel von Schröder und Chirac. Der beste Moment war, dass ... die drei, es waren nicht zwei, es waren drei, es waren Kohl, Mitterand und Jacques Delors, der letzte gute Präsident der Kommission in Brüssel. Und heute ist es eine Anspornrolle, die zur Führungsrolle geworden ist, weil die anderen auch nicht mehr ... England tut alles, um zu verhindern, das war von Anfang an so. Ich habe immer plädiert, dass der Sitz Frankreich im Sicherheitsrat ein europäischer Sitz wird, während der englische Sitz sowieso ein zweiter amerikanischer Sitz ist. Und heute mussten sie zusammen ringen, um die 27 oder die Euroländer zusammenzubringen. Ich glaube nicht, dass sie sich lieben, weder auf einer Seite noch auf der anderen Seite. Die Art, Sarkozy, sich immer vorzudrängen, wie hat das mal die "Süddeutsche" genannt, auf Ego-Trip zu sein, geht ihr auf die Nerven; er – glaube ich nicht, dass er sie sehr verehrt, zu Unrecht. Aber sie machen zusammen heute und haben gute Verbindungsleute, zum Beispiel – das ist in der französischen Presse sehr gelobt worden: Neben ... unter der Kanzlerin steht für die Frankreich-Fragen, für die Europa-Fragen Nikolaus Meyer-Landrut, der vorher bei Prodi war, in Brüssel, und der ein wunderbarer Verbindungsmann zu den Franzosen ist. Also es geht nicht nur um die beiden, sondern um die Art, wie man zusammenspielt.

    Sprecher: Heute im Deutschlandfunk-Zeitzeugen-Gespräch: Prof. Alfred Grosser.

    Grosser: "Aber es ist wie bei Ihnen: Wir haben ganz oben eine reiche Schicht, die nie bestraft wird, und unten gibt es immer mehr Armut."

    Sprecher: Innenpolitik in Frankreich und Deutschland – Grosser und die Rolle des Katholizismus.

    Detjen: Sie sind kein politischer Freund von Nicolas Sarkozy. Nächstes Jahr gibt es Präsidentschaftswahlen in Frankreich. Bedauern Sie es, dass der angehende Spitzenkandidat der Sozialisten Dominique Strauss-Kahn wegen der Vergewaltigungsvorwürfe in den USA aus dem Rennen ausgeschieden ist?

    Grosser: Ich bin glücklich, dass es rechtzeitig geschehen ist. Stellen Sie sich mal vor, er sei der gewählte Kandidat der Sozialisten gewesen, er ist Sarkozy gegenüber, und so ein Ding wie in New York passiert. Sarkozy wird mit 60 Prozent der Stimmen gewählt. Also es kommen immer mehr Sachen über Strauss-Kahn raus. Vorher wäre ich bereit gewesen, für ihn zu stimmen. Aber heute ist er weg und spielt keine Rolle mehr und wird auch keine Rolle mehr spielen können. Jetzt ist François Hollande da, ich werde für ihn stimmen, mit einer großen Angst, dass Sarkozy, der nicht ohne Einfluss auf unsere Fernsehsender ist, alles tut, damit der Linke im Sinne der deutschen linken Partei so viel Auftritte wie möglich, denn wenn der extreme Linke so sieben, acht, neun Prozent bekommt, dann ist der Sozialist wieder Nummer drei.

    Detjen: Eben, denn dann wird ... am Ende wird ... Die extreme Rechte, also die Front National mit Marine Le Pen wird die Wahl entscheiden.

    Grosser: Ja, Le Pen wird, Nummer zwei sein, Marine Le Pen wird wieder Nummer zwei sein, wie das schon einmal geschehen ist, wo viele Leute ... ich versuche, sie zu bekehren, vernünftig zu sein, sagen, ach nein, in der ersten Runde tobe ich mich aus und mache extrem links oder grün oder so weiter, zweite Runde stimme ich für ... Stichwahl, wähle ich für Jospin nicht mehr da, er war Nummer drei.

    Detjen: Wir haben über Dominique Strauss-Kahn und die Affäre gesprochen, da ging es um kulturelle Vorstellungen von Politik, um Moral, um Rollenbilder, Männerbilder, Frauenbilder in Frankreich. Wie hat diese Diskussion darüber Frankreich verändert? Das war ja eine lebhafte Diskussion, die weit über die Politik hinausging.

    Grosser: Verändert glaube ich nicht. Das Privatleben der Präsidenten ist, sagen wir mal, sehr frauenfreundlich gewesen und nicht gattinfreundlich. Das war der Fall von Giscard, das war der Fall von Chirac, das war auch der Fall von Mitterrand, der zwei Frauen hatte, die beide bei seinem Begräbnis vor dem Grab standen, bei de Gaulle kommt nichts infrage, bei Pompidou war auch nichts, aber heute haben wir einen Präsidenten, der sich hat scheiden lassen, wo er ja schon Präsident war, eine Frau desselben körperlichen Typs sich verliebt hat und sie geheiratet hat, und heute spielt die Frage glaube ich des Geldes eine größere Rolle in der französischen Diskussion als die Frage des Sex.

    Detjen: Das ist deutlich geworden in der Diskussion um die Spenden an Sarkozy, Betancourt ...

    Grosser: Ja, aber es ist wie bei Ihnen: Wir haben ganz oben eine reiche Schicht, die nie bestraft wird, und unten gibt es immer mehr Armut. Ich nehme nur ein Beispiel: Eine französisch-belgische Bank, Dexia, ist vor wenigen Wochen zugrunde gegangen. Der Verantwortliche, der jahrelang das Geld der Bank verwendet hat und gepumpt hat, um zu kaufen und zu kaufen und zu kaufen, der geht mit 500.000 Euro pro Jahr Ruhestandsgeld bis zu seinem Tod und hat ein paar Millionen Abfindung bekommen. Man wird nie bestraft. Und da ganz oben ist es so, dass man eben ... Ich nehme auch ein Beispiel in ... vorläufig 30 Jahre lang habe ich hingenommen, dass man in Deutschland, wenn Banken mir gesagt ... wenn ich vor deutschen Banken sprach: Ja, wir sind besser als die französischen, da gibt es Korruption und so weiter. Und jetzt, wenn ich das deutsche Banksystem sehe und die Landesbank – wir sind hier in Köln, nehmen wir die Westdeutsche Landesbank, ...

    Detjen: WestLB.

    Grosser: ... nehmen wir die bayerischen: Was ist das deutsche Banksystem geworden? Und das finde ich außerordentlich traurig – mit Leuten, die dann wirklich nicht bestraft werden. In Amerika wird man mehr bestraft als in Europa.

    Detjen: Sie haben jetzt da viele Parallelen zwischen Deutschland und Frankreich aufgezeigt. Was trennt Deutschland und Frankreich heute noch?

    Grosser: Vieles, also man glaubt in Frankreich noch mehr – und in Deutschland tut man, als würde es man nicht glauben – an die Intervention des Staates. Der Staat wird angerufen, sobald Katastrophen geschehen, auch im liberalen Deutschland wird er angerufen. Und ich glaube, dass bei der nächsten deutschen Regierung, in meinen Augen wahrscheinlich eine große Koalition, man eine gemeinsame ...

    Detjen: Unter wessen Führung?

    Grosser: ... eine gemeinsame ... Ja, unter wessen Führung? Wenn Helmut Schmidt das Sagen hat, weiß man, welche Führung.

    Detjen: Helmut Schmidt, der größte Moralpädagoge in Deutschland.

    Grosser: Ja, also, Helmut Schmidt sagte mir, hat mein letztes Buch, "Die Freude und der Tod. Eine Lebensbilanz", gemocht, und ich habe dann lächelnd geantwortet, weil ich habe dann lächelnd geantwortet, weil ich so viel Gutes über ihn sage. Helmut Schmidt ist ein Moralist. Helmut Schmidt hat hervorragende Reden gehalten und unter anderem zum Beispiel die Schleyer-Entscheidung begründet.

    Detjen: Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts 1977 in dem Verfahren, wo die Familie Schleyers geklagt hat und wollte, dass die Bundesregierung den Forderungen der Terroristen nachgibt, um das Leben des entführten Hanns Martin Schleyer zu retten.

    Grosser: Das Bundesverfassungsgericht ja damals self-restraint [Anm. d. Red.: Richterliche Selbstbeschränkung] ausgeübt und hat gesagt, das ist eine politische Entscheidung, keine juristische, denn wenn man den Terroristen nachgibt, gibt es weitere Entführungen, denn dann ist die Hoffnung, es wird weiter nachgegeben. Und Helmut Schmidt sagt in einer schönen ethischen Rede in Essen, die er gehalten hat: Wir waren – Gläubige und Ungläubige zusammen – unserer moralischen Verantwortung bewusst und haben nach dieser moralischen Verantwortung gehandelt. Und das war eine politisch-moralische Entscheidung.

    Detjen: Reicht die moralische Autorität von Helmut Schmidt aus, um Peer Steinbrück zum Kanzler zu machen?

    Grosser: Ja, das ist die Frage, ich sagte eben, wenn Helmut Schmidt die Vorschläge macht – ich habe keine Ahnung, was in der SPD geschehen wird. Ich verteidige nicht die Art der SPD, genau das Gegenteil von dem zu tun, was das Bundesverfassungsgericht so rügt. Wie ist ... Es ist ein Freund, ich muss gestehen, weggefallen, weil hinter den Kulissen drei Männer beschlossen haben: Er kann kein Chef der SPD sein – aber nicht durch eine Abstimmung der Partei.

    Detjen: Nämlich?

    Grosser: Müntefering und zwei andere. Und ich glaube, ... also hier zeige ich wieder mal, dass ich die deutsche Politik gewissermaßen ständig miterlebe, genauso wie ich die Entwicklung des Katholizismus in Frankreich und auch in Deutschland miterlebe, obwohl ich Atheist bin.

    Detjen: Was bedeutet – und damit kommen wir zum Ende unseres Gesprächs – der Katholizismus in Frankreich für Sie? Ihr letztes Buch, Sie haben es eben angesprochen, das heißt "Die Freude und der Tod – eine Lebensbilanz" ist auch eine Auseinandersetzung mit den letzten Dingen des Lebens, mit dem Tod, mit der Spiritualität, und da spielt der Katholizismus bei Ihnen eine besondere Rolle.

    Grosser: Ja, also ich bin ständig seit 1945, wie ich 20 war, ... In Frankreich gab es nur zwei Bewegungen, die wirklich eine Erneuerung darstellten, nicht die Sozialisten und nicht die Liberalen, die waren abgearbeitet, es waren die Kommunisten und die Katholiken. Und die Kommunisten, das war nichts für mich, und eigentlich ... für mich ist der Tod ein Ende, für meine Frau, die sehr katholisch, also sehr überzeugt gläubig geworden ist in der Krankenhausdiakonie wirkt und so weiter, ist es nicht das Ende. Deswegen werde ich nicht einen Satz von Simon de Beauvoir zitieren in meinem Nachruf, das heißt, nach dem Tod von Sartre: Sein Tod trennt uns, mein Tod wird uns nicht wieder vereinen. Es ist schon schön, dass unser Leben zusammengehört haben kann, und wir sind seit 52 verheiratet und der Honigmond ist noch nicht fertig.

    Sprecher: In unserer Reihe Zeitzeugen hörten Sie Stephan Detjen im Gespräch mit Alfred Grosser.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.