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"Es ging nur noch um Machterhalt"

Der Ministerpräsident von Brandenburg, Matthias Platzeck, sieht den Beweis für das Unrecht in der DDR durch die Bürger des Staates erbracht. In einem Rechtsstaat wären nicht Hunderttausende auf die Straße gegangen und hätten nicht Zehntausende ihre Heimat verlassen.

Matthias Platzeck im Gespräch mit Jochen Spengler | 13.08.2009
    Jochen Spengler: Liedgut der DDR, Text vom Lyriker Heinz Kahlau, Musik von Hans Lesser, intoniert von den Betriebskampfgruppen. Wenn Sie das Lied heute hören, Herr Platzeck, sind Sie dann eher amüsiert, oder läuft Ihnen ein Schauer über den Rücken?

    Matthias Platzeck: Na ja, amüsiert eigentlich nicht. Wenn, dann eher Zweites. Das ist ja so der typische Sound mit viel Blech und marschmusikmäßig, und wenn man das dann noch in Verbindung mit dem Datum singt, dann ist da für Amüsement kaum Raum.

    Spengler: Sie haben es gehört: Am Deutschlandfunk-Telefon ist der Sozialdemokrat und Ministerpräsident des Landes Brandenburg, Matthias Platzeck. Jetzt ist auch noch Zeit für eine ordentliche Begrüßung. Guten Tag, Herr Platzeck.

    Platzeck: Grüß Sie! Guten Tag.

    Spengler: Herr Platzeck, Sie waren Schüler in Potsdam und sieben Jahre jung, als die Mauer gebaut wurde, heute vor 48 Jahren. Haben Sie noch eine Erinnerung an den Tag?

    Platzeck: Ja, eine relativ deutliche sogar noch. Wir haben damals in der Berliner Vorstadt gewohnt; das ist ein Stadtteil von Potsdam, der direkt an West-Berlin angrenzte, und zwar an der Glienicker Brücke. Das waren bloß ein paar Meter bis dahin. Und aus diesen Tagen, also aus den Wochen davor, habe ich noch sehr gut in Erinnerung, dass ständig diskutiert wurde, auch in meinem Elternhaus, was jetzt passieren soll, weil: Es lag was in der Luft. Das war für alle spürbar.

    Und rings um uns herum gab es nicht wenige Wohnungen, die von einem Tag auf den anderen plötzlich leer waren, weil: West-Berlin war ja wie gesagt offen, man konnte per S-Bahn rüberfahren und es verschwanden viele, auch Kollegen von meinem Vater - der hat als Arzt in Potsdam gearbeitet - waren plötzlich weg. Und ich weiß von meinen Eltern, das wusste ich damals nicht, haben sie aber später erzählt, dass sie sich auch mit solchen Plänen getragen haben.

    Am Tag, als das dann passierte, das war schon beklemmend. Auch für Kinder war das schon etwas, was völlig außergewöhnlich war. Ich weiß, dass meine Großeltern in den Tagen Angst hatten, dass der Krieg wieder anfängt.

    Spengler: Es wurde dann ja nichts mit der Flucht. Sie sind in der DDR geblieben, Sie sind dort aufgewachsen. Sie wurden Diplomingenieur. Haben Sie persönlich an der DDR gelitten?

    Platzeck: Nein. Zumindest nicht gelitten in dem Sinne - da bin ich auch immer vorsichtig mit den Vergleichen -, was die vorige Phase in Deutschland anging.

    Spengler: Sie meinen Nazi-Deutschland?

    Platzeck: Ja, genau. Ich habe eine sehr schöne Kindheit und Jugend gehabt, das muss ich wirklich sagen, und bin in eine exzellente Schule gegangen. Ich war ein Mathe- und Physikmensch und bin ab der siebten Klasse an eine Matheschule gekommen mit sehr guten Lernbedingungen, und das hat mich auch in Konflikt zu meinen Eltern zunehmend gebracht, die sehr bürgerlich-konservativ waren, mein Vater wie gesagt am Katholischen Krankenhaus, mein Großvater Pfarrer, und ich zunehmend vom Sozialismus begeistert.

    Ich weiß, so mit 15, 16 Jahren habe ich permanent Auseinandersetzungen mit meinen Eltern, die das auch gut ausgehalten haben, gehabt und immer sie bezichtigt, vergangenen Gesellschaftsmodellen nachzuhängen und nicht zu wissen, wo es wirklich vorangeht. Ich war eher in diesen Jahren sehr überzeugt.

    Spengler: Kam es denn dann irgendwann zum Bruch, oder kam es gar nicht zum Bruch bei Ihnen?

    Platzeck: Nein, das haben meine Eltern nicht zugelassen. Familiär ist es nicht zu einem Bruch gekommen. Sie waren da wirklich sehr kulant. Mein Vater hat da insbesondere sehr viel Weitsicht bewiesen, muss ich mal sagen. Bei mir hat sich das dann in ein, zwei Schritten umgekehrt.

    Das erste Nachdenken setzte während der Grundwehrdienstzeit in der Nationalen Volksarmee ein. Dann kam 1976, das war für mich so ein erster Einschnitt, die Ausbürgerung von Wolf Biermann, wo ich als noch Überzeugter von der Gesellschaftsordnung, in der ich lebte - es war ja auch meine Heimat, die DDR -, gesagt habe, warum machen die so was, warum haben wir nicht die Kraft, warum haben wir nicht den Mut, uns mit anderen Meinungen auseinanderzusetzen.

    Ich war damals Student, fand das unerhört, und der endgültige Abschied von meiner blauäugigen Vorstellung, sage ich mal, von meinem Ideal war dann der Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan ohne jeden Grund, außer dem Grund, die Macht auszuweiten. Das war dann im Spätjahr 1979, um Weihnachten herum, und da habe ich dann für mich einen Strich gemacht und gesagt, das ist es nicht, das wird es auch nicht und hier muss was anderes passieren.

    Spengler: War die DDR ein legitimer Sozialismusversuch, wie Die Linke heute meint?

    Platzeck: Was ist ein legitimer Sozialismusversuch? Ich kann die 50er-Jahre nicht genau einschätzen. Da weiß ich aber aus Erzählungen und auch aus der Kenntnis von Menschen, die damals gearbeitet und gelebt und sich eingebracht haben, dass bei vielen von denen, die da aktiv waren, wirklich die Vorstellung herrschte, wir wollen eine gerechtere Gesellschaft aufbauen, wir wollen, dass keiner mehr ausgegrenzt wird, wir wollen, dass für alle der Reichtum so verteilt wird, dass für alle was da ist. Das war mit Sicherheit vorhanden.

    Dieses ist dann aber relativ zügig entwertet worden: einmal durch den Stalinismus der 50er-Jahre und dann aber auch: Ich habe ja dann, sage ich mal, bewusst und aktiv die Honecker-Zeit miterlebt ab 1971 und da ist das, was Sie jetzt als legitimen Sozialismusversuch bezeichnen, völlig sinnentleert worden. Da ging es letztlich nur noch um Machterhalt.

    Christa Wolf hat das ja mal sehr schön 1982 in ihrem Tagebuch zusammengefasst, indem sie genau mit wenigen Worten - das war ja ihre Kunst oder ist ihre Kunst - gesagt hat, Mehltau legt sich über alle und alles, und das war genau das Gefühl, was man hatte. Es bewegte sich nichts mehr, es ging um nichts mehr, sondern es ging nur noch darum, dass Honecker und Co. die Zügel in der Hand hielten und dass es irgendwie weiterging. Aber es war kein Entwurf mehr und keine Perspektive.

    Spengler: Geht denn Rainer Eppelmann, der Vorsitzende der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, zu weit, wenn er sagt, das war eine menschenverachtende Diktatur?

    Platzeck: Wissen Sie, das schließt sich ja an an diese ja auch nicht ganz einfach zu führende Diskussion, weil man schnell im Fettnäpfchen steht, Unrechtsstaat ja oder nein. Wenn es ein Rechtsstaat gewesen wäre, wenn es ein Staat gewesen wäre, den die Menschen als lebenswert anerkannt hätten, wenn es eine bunte, fröhliche, offene Gesellschaft gewesen wäre, dann wären erstens nicht Hunderttausende untergefahren, auf die Straßen gegangen, dann hätten nicht Zehntausende ihre Heimat verlassen.

    Und übrigens, der Beweis, dass da das Unrecht zu Hause war, ist letztlich dadurch erbracht worden, dass die Menschen der DDR selber die DDR beendet haben. Das macht man ja alles nicht ohne Grund. Von daher finde ich, dass es falsch ist, diese Frage zur Kernfrage 20 Jahre Revolution zu machen, weil: Sie ist 1989 von den Bürgern der DDR selber beantwortet worden.

    Spengler: Was war oder was ist Ihre wichtigste Lehre aus dieser DDR-Zeit?

    Platzeck: Ich habe gelernt, dass alles anders kommen kann, als es postuliert wird, erzählt wird und von vielen auch geglaubt wird, und ich habe mir auch durch diese Vorgänge und das Erlebnis beider Gesellschaftsordnungen so was, ich will es mal wie eine gesunde Skepsis angelegt nennen.

    Ich bin weiterhin ein optimistischer Mensch. Das war ich immer und dagegen kann man auch nichts machen. Da ist "Frohgemutheit" da, die irgendwie ererbt wurde. Aber eh ich was glaube - das hat vielleicht auch mit mathematischer Ausbildung zu tun -, will ich es genau bewiesen sehen. Ich habe, was so allgemein, was die Lösung und das Pachten der Wahrheit angeht, die allgemeine Erkenntnis: Wenn mir jemand so kommt, dann gehe ich gleich einen Schritt zurück und wahre Abstand.

    Spengler: Herr Platzeck, nun steckt ja auch das kapitalistische Wirtschaftssystem der Bundesrepublik derzeit in der Krise. Wie beurteilen Sie das heute, ebenso negativ wie seinerzeit den DDR-Sozialismus, oder sehen Sie da Unterschiede?

    Platzeck: Es gibt einen gravierenden Unterschied schon mal. Es gibt viele, aber ich will mal den gravierenden nennen. Was mich an der DDR genervt und am Schluss entnervt hat, war, dass es eine völlig perspektivlose Gesellschaftsorganisation war, wo nichts gestaltbar war.

    Was wir jetzt erleben, ist eine erhebliche Irrung und Wirrung. Die geht für mich übrigens, weil wir jetzt ja viel über Jubiläen reden - wir haben auch ein Jubiläum, nämlich vor 30 Jahren hat Maggie Thatcher ihr Amt in Großbritannien angetreten als Premierministerin - und mit diesem Satz, der sich mir eingegraben hat: Ich kenne keine Gesellschaft, sondern nur Individuen. Das heißt ja auf Deutsch: Einer gegen alle und wer sich durchsetzt hat Glück. Auf diesem Irrweg, der ja die Folge hatte, nämlich dass das Vertrauen in die Marktwirtschaft, in die Soziale Marktwirtschaft erschüttert wurde, durch die Krise, dass damit das Vertrauen in die Demokratie - nimmt man hier im Osten speziell wahr - deutliche Dellen bekommen hat, Staatsverachtung ist gewachsen, auf diesem Irrweg sind hier viele, viele gefolgt über drei Jahrzehnte.

    Übrigens auch wir Sozialdemokraten sind da nicht von allen Fehlern frei gewesen. Wir haben allerdings gelernt daraus, das ist vielleicht der Unterschied. Ich sehe aber, dass die Gesellschaft in sich - und das ist der Vorteil der Demokratie - die Kraft aufbringen kann und die Möglichkeit bietet, zu lernen daraus, diesen Irrweg nicht weiterzugehen, sondern umzukehren und zu sagen, wir wollen wieder zur Sozialen Marktwirtschaft und damit zu höherer Akzeptanz für Demokratie auch zurückkehren.

    Spengler: Danke an den Ministerpräsidenten Brandenburgs.