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"Es hakt beim Übergang von der Schule in den Beruf"

Von den 20 bis 34-Jährigen in Deutschland haben insgesamt 2,2 Millionen keine Ausbildung, so das Ergebnis der DGB-Studie "Generation abgehängt". In Deutschland gibt es jedes Jahr einen "grauen Bereich von 100.000 Jugendlichen, die zwar als versorgt gezählt werden, die aber gar keinen Ausbildungsplatz bekommen", kritisiert der Autor der Studie, Matthias Anbuhl.

Matthias Anbuhl im Gespräch Jürgen Zurheide |
    Jürgen Zurheide: An Gipfeln und politischen Willenserklärungen mangelt es ja wahrlich nicht. 2008 gab es den Dresdener Bildungsgipfel in der Bundesrepublik, Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte die Länder versammelt, und man hatte beschlossen, man will die Zahl der Schulabbrecher und Ausbildungsabbrecher um die Hälfte verringern. 2010 hat dann die Europäische Union ein entsprechendes großes Programm aufgelegt, das nennt sich dann, bis 2020 will man die Jugendarbeitslosigkeit bekämpfen und ebenfalls die Schul- und Ausbildungsabbrecherquote auf unter zehn Prozent senken. Wenn wir jetzt einen Strich ziehen und fragen, was ist denn da eigentlich passiert oder was passiert, können wir das schaffen, dann muss man heute wohl feststellen: Nein, man wird es eher nicht schaffen. Das sagt zumindest eine DGB-Studie, die jetzt veröffentlicht worden ist und deren Titel eigentlich schon alles sagt: "Generation abgehängt" heißt es da. Wir sind jetzt mit dem Autor der Studie verbunden, ich begrüße Matthias Anbuhl vom DGB. Schönen guten Morgen!

    Matthias Anbuhl: Guten Morgen, Herr Zurheide!

    Zurheide: Zunächst einmal: Wenn man auf der einen Seite die Jubelnachrichten hört, dass wir hier in Deutschland na ja beim Ausbildungsmarkt inzwischen wieder im Gleichgewicht sind, dass es möglicherweise sogar mehr Lehrstellen als Bewerber gibt, das ist ja, wo wir täglich drüber berichten und dann Ihre Zahlen hört, dann kann man eigentlich nur zu dem Schluss kommen, die Altfälle vergessen wir offensichtlich, oder?

    Anbuhl: Ja, das hängt sehr damit zusammen auch, wie die Statistik im Ausbildungspakt geführt wird. Es ist ja so, wenn jetzt ein junger Mensch zur Bundesagentur für Arbeit geht und sagt, ich suche eine Ausbildungsstelle, einen Ausbildungsplatz, dann wird er nicht automatisch aufgeführt in der Ausbildungsstatistik, sondern er durchläuft erst mal einen Kompetenzcheck und bekommt erst dann den Bewerberstatus, und das ist die Voraussetzung dafür, dass er überhaupt aufgeführt wird in der Statistik. Der Rest verschwindet schon aus der Statistik. Und auch dann, wenn er den Bewerberstatus erhalten hat und keinen Ausbildungsplatz bekommt, sondern vielleicht in einer zweifelhaften Maßnahme, einem Praktikum, einer Einstiegsqualifizierung landet, wird er schon als versorgt gezählt und nicht als unversorgt. Und das führt dazu, dass wir eigentlich einen grauen Bereich von 100.000 Jugendlichen jedes Jahr haben, die zwar als versorgt gezählt werden, die aber gar keinen Ausbildungsplatz bekommen. Und so haben wir die paradoxe Situation eigentlich, dass der Ausbildungspakt seit vier, fünf Jahren immer wieder sagt, die Lage auf dem Ausbildungsmarkt ist entspannt, wir auf der anderen Seite aber feststellen müssen, dass wir bei den Ausbildungslosen, bei den Ungelernten keinen Abbau haben über ein Jahrzehnt.

    Zurheide: Ich nenne noch mal die Zahl: Also von 20- bis 34-Jährigen haben Sie noch mal herausgefunden, anhand der offiziell vorliegenden Statistiken haben wir 2,2 Millionen Menschen, die, ja, die einfach rausgefallen sind aus dem System – das sind 15 Prozent eines der jeweiligen Altersjahrgänge. Wo liegt das Problem, ist es die Schule oder ist es die Ausbildung oder ist gar nur der Übergang, der da nicht funktioniert?

    Anbuhl: Ich denke, es ist der Übergang, der nicht funktioniert, denn wenn man sich diese 2,2 Millionen Menschen anguckt, kann man sagen, dass immerhin 1,8 Millionen von diesen Menschen einen Schulabschluss haben, knapp eine Million hat einen Hauptschulabschluss und – was ich auch noch mal sehr interessant finde – 450.000 Menschen haben einen Realschulabschluss und 356.000 Menschen haben sogar eine Studienberechtigung. Das heißt, wir haben eine Gruppe von 800.000 Leuten bei den Ungelernten, die eigentlich einen höheren oder einen mittleren Schulabschluss haben. Und das heißt, da hakt etwas beim Übergang von der Schule in den Beruf. Wir haben auch einfach, muss man sagen, in den letzten Jahrzehnten zu wenig Ausbildungsplätze gehabt.

    Zurheide: Was hakt denn da beim Übergang? Fangen wir mal mit der Schule an, über die Betriebe werden wir gleich noch reden. Was stimmt da in den Schulen nicht?

    Anbuhl: Also ich denke, dass wir in den Schulen nach wie vor auch einen festen Sockel haben an schlechten Lehren, das zeigt uns auch die PISA-Studie eigentlich. Im Prinzip haben wir bei den Lehren eine festgefügte Gruppe von 15 bis 20 Prozent, die nicht mal das unterste Kompetenzniveau haben, also dass Neuntklässler eigentlich lesen wie ein Viertklässler. Und da müssen wir in der Tat sehr viel besser werden und sehr viel mehr aufholen. Das ist, denke ich, das Hauptproblem eigentlich. Das zeigt uns PISA Jahr für Jahr.

    Zurheide: Das heißt, die ganzen PISA-Reformen – ich weiß gar nicht, wie viel Jahre wir da schon drüber reden und wie viel Jahre wir Bildungsgipfel haben, ich hab’s vorhin zitiert –, hat das alles nichts gebracht? Denn auch da höre ich Zahlen, na ja, die Quoten sinken.

    Anbuhl: Die Quoten sinken, aber von Zielen wie einer Halbierung sind wir weit entfernt dabei. Also wir haben immer noch nach wie vor ein Problem – das sagt auch der nationale Bildungsbericht – von einem festen Sockel, festgefügten Sockel an der Bildungsarmut, sowohl in den Schulen als auch später in der beruflichen Bildung, wo wenig Bewegung drin ist.

    Zurheide: Was sind die Hauptursachen dafür aus Ihrer Sicht?

    Anbuhl: Die Hauptursachen aus meiner Sicht: Einmal, wenn man die Schule sich anschaut, ist, dass sie immer noch weitgehend im Halbtagsbereich organisiert ist, das heißt, gerade für eine Gruppe von Menschen, die aus ärmeren Familien kommen, die vielleicht auch eine Ganztagsbetreuung brauchen, gibt es zu wenig Ganztagsangebote, und ich denke auch, dass wir im Übergang von der Schule in den Beruf zu wenig, lange Zeit zu wenig betriebliche Ausbildung gehabt haben und auch zu wenig Betriebe und Schule miteinander verzahnt waren.

    Zurheide: Das heißt, ich will noch mal auf die Menschen kommen, die da rausfallen am Ende ja aus dem System, da werden wir gleich noch drüber reden. Das heißt, vererbt sich da Bildungsarmut – weil Sie gesagt haben, diejenigen, die keine Unterstützung von zu Hause haben, die nicht im Ganztag sind, sind da besonders betroffen?

    Anbuhl: Ja, in der Tat, das ist ja auch einer der Befunde der PISA-Studie, dass eigentlich sich Bildungsarmut vererbt und dass auch die höheren Bildungsschichten sich im Prinzip selbst rekrutieren, immer wieder. Das können wir auch sehen zum Beispiel anhand von PISA, wo die sagen, dass bei gleicher Leistungsfähigkeit ein Arbeiterkind dreimal schlechtere Chance hat, aufs Gymnasium zu kommen als das Kind eines Akademikers. Also gute Bildung wird in Deutschland vererbt.

    Zurheide: Was ist die Perspektive dieser Menschen? Das sind Menschen, die am Ende in den Sozialsystemen landen und das ihr ganzes Leben lang tun werden, und damit ist ein Kreislauf aus prekärer Beschäftigung und Verweilen in den Sozialsystemen vorprogrammiert, oder wie sehen Sie das?

    Anbuhl: Ja, in der Tat. Also diesen Menschen droht ein Leben in prekären Verhältnissen. Wir können uns die Gruppe der 2,2 Millionen Ungelernten anschauen, von denen sind nur 1,2 Millionen überhaupt erwerbstätig nachher, und hinzu kommt, wenn sie es in Erwerbstätigkeit schaffen, dann sind sie überdurchschnittlich oft in prekärer Beschäftigung, das heißt in Minijobs, Gelegenheitsjobs, in geringfügiger Beschäftigung beschäftigt. Und das heißt im Prinzip, dass ihnen wirklich ein Leben in prekären Verhältnissen droht, auch Altersarmut und Ähnliches.

    Zurheide: Jetzt haben Sie vorhin gesagt, die Verzahnung zwischen Schule und Ausbildung oder den entsprechenden Betrieben in den Unternehmen müsse besser werden. Was wünschen Sie von den Unternehmen?

    Anbuhl: Also ich wünsche mir eigentlich erst mal von den Unternehmen, dass sie nicht nur über den Fachkräftemangel klagen, sondern dass sie auch mehr ausbilden, denn zwischen dieser Klage über den Fachkräftemangel und der Ausbildungsbereitschaft der Unternehmen klafft doch noch eine beträchtliche Lücke. Also wenn ich jetzt sehe, dass man bei den 2,2 Millionen Ungelernten doch 1,8 Millionen mit gar nicht so schlechten Schulabschlüssen hat, denke ich, müsste man diesen Menschen mehr eine Chance geben. Auch der nationale Bildungsbericht hat von einer faktischen Abschottung fast der Hälfte der Ausbildungsberufe für Hauptschüler gesprochen, und ich kann auch sehen, dass zum Beispiel sich die Ausbildungsbetriebsquote mit 22,5 Prozent derzeit auf einem historischen Tiefstand befindet. Insofern denke ich, es gibt viel Luft nach oben, auch vonseiten der Betriebe, sich wirklich Menschen mit Hauptschulabschlüssen, mit Realschulabschlüssen mehr zu öffnen. Da gibt es einige gute Ansätze, das will ich gar nicht verleugnen, aber insgesamt ist angesichts des drohenden Fachkräftemangels da noch sehr großer Handlungsbedarf.

    Zurheide: Wobei, da kommt ja immer dann das Argument, na ja, die seien so schlecht ausgebildet und die könnten eben nicht mal richtig lesen und schreiben, um das ein bisschen plakativ zuzuspitzen – richtig oder falsch?

    Anbuhl: Also bei 800.000 Realschülern oder Studienberechtigten würde ich sagen, die können schon noch richtig lesen und schreiben, also insofern ist das nicht ganz richtig. Ich könnte mir schon vorstellen, dass man im Bereich der Schulabbrecher sicherlich was machen müsste, um auch den Betrieben zu helfen, dass man neben der Berufsschule und neben der Ausbildung im Betrieb auch ausbildungsbegleitende Hilfen verstärkt anbietet, wo dann eben gerade bei Lernproblemen den Jugendlichen noch mal gezielt geholfen wird – beim Lesen, beim Rechnen und Ähnliches. Das muss man sicherlich ausbauen, aber pauschal jetzt diese 2,2 Millionen Menschen als nicht ausbildungsreif abzustempeln, das geben die Zahlen nicht her und das gibt auch die schulische Vorbildung nicht her, die diese Menschen haben.

    Zurheide: "Generation abgehängt?!", Fragezeichen, Ausrufezeichen. Das war Matthias Anbuhl, der Autor der Studie, über die geredet wird und wo es wert ist, weiter drüber zu reden. Herr Anbuhl, ich bedanke mich für das Gespräch!

    Anbuhl: Ich bedanke mich auch!


    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.