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"Es herrscht überall Misstrauen"

Die VatiLeaks-Affäre sei "keine Palastrevolution", sagt Kurien-Insider Manfredo Ferrari. Er vermutet darin "die Tat einzelner unzufriedener Prälaten". Sie offenbare allerdings ein "Organisationsproblem im Vatikan selbst". Die "Monster-Aufgabe" einer Kurienreform übersteige aber Papst Benedikts Kraft.

Manfredo Ferrari im Gespräch mit Matthias Gierth | 06.06.2012
    Matthias Gierth: Herr Ferrari, der Bankchef entlassen, der Kammerdiener verhaftet und fast täglich tauchen neue private Dokumente in der Öffentlichkeit auf. Helfen Sie uns das zu verstehen: Was geschieht gerade im Vatikan?

    Manfredo Ferrari: Aus meiner Sicht ist es keine Palastrevolution. Wahrscheinlich ist es die Tat einzelner unzufriedener Prälaten. Und dann gibt es eine abenteuerliche Hypothese, die ich hier gehört habe. Nicht ganz auszuschließen ist, dass die ganze Sache Tat von Geheimdiensten sein könnte, welche die Kirchenzentrale politisch destabilisieren möchten. Das wäre denkbar. Unter anderem auch, weil Buchautor Nuzzi, der dieses Buch geschrieben hat, gute Kontakte zu den Sicherheitsdiensten in Italien hat. Das weiß ich aus eigener Erfahrung.

    Gierth: Nun muss man ja, wenn man einen solchen Vorgang beurteilen und bewerten will, immer fragen "Cui bonno", also wer profitiert von den Vorgängen im Vatikan derzeit und wer hat den Schaden?

    Ferrari: Ich fange mit dem Schaden an. Der ist in erster Linie beim Papst und dann seinen beiden engsten Mitarbeiter Kardinal Bertone und Prälat Gänswein. Das sind zwei Leute, die 100 Prozent loyal zu ihm sind. Von den Profiteuren – ich kann sie nicht eruieren, ich kann sie nicht einordnen. Wer sicher profitiert, sind die Feinde der Kirche. Das sieht man, dass gewisse Zeitungen, Zeitschriften das ganz deutlich publizieren, um einfach zu sagen, ihr habt ein Durcheinander, seht, wie ihr da organisiert seid, usw.

    Gierth: Vielleicht bleiben wir noch einen Moment beim Nuzzi-Buch. Welchen Skandalwert haben eigentlich die veröffentlichten Dokumente im Buch selber?

    Ferrari: Ich sehe keine echten Skandale in den Briefen und Aktennotizen, die ich sehen konnte. Ich habe alle durchgeschaut. Es sind Fakten, die Insidern bekannt sind. Also, wer irgendwie mit einem Kardinal, Bischof in der Kurie bekannt ist und Vertrauen hat, der kriegt die Information. Es ist nichts drin, was wirklich anders ist. Aber, was auffällt ist, dass es ein Sammelsurium von Texten ohne eine klare Zielrichtung ist. Man weiß nicht, was das genau soll. Und, wie auch bei Wikileaks das gemacht wurde, man hält sehr viele Texte zurück. Was dort drin ist, ist noch ein großes Fragezeichen. Also Skandal ist sicher, dass das Schreiben den Vatikan verlassen konnte. Aber was vielleicht vergessen wird, ist: 2009 sind etwa 4000 Dokumente aufgefunden worden in der Schweiz, die ein Prälat – Renato Dardozzi – auf die Seite geschafft hatte und im Testament geschrieben hatte: Bitte, wenn ich tot bin, sprecht und schreibt darüber! Und das ging damals um echte Skandale innerhalb der Vatikanbank. Und die wurden dann 2009 ja durch Gianluigi Nuzzi veröffentlicht, also der auch das andere Buch, über das wir jetzt gesprochen haben, verfasst hat. Also da waren echte schlimme Sachen drin. Das andere, ich sehe keine echten Skandale.

    Gierth: Diejenigen, die diese Dokumente nach außen gegeben haben, argumentieren ja mit ihren Taten, die Kirche retten zu wollen. Tatsächlich dürfe es aber doch um knallharte Machtinteressen gehen, oder?

    Ferrari: Wenn man den Vatikan intern sieht: Es gibt Machtbestrebungen, die sind nicht sehr schön und auch nicht sehr christlich.

    Gierth: Lassen Sie uns über diese Machtbestrebungen reden. Beschreiben Sie uns doch einmal zunächst, welche Lager gibt es überhaupt im Vatikan innerhalb der Kurie?

    Ferrari: Also, ich suche schon seit 20 Jahren diese Lager. Ich finde sie nicht. Es ist nicht wie in Deutschland und der Schweiz, wo es Linke und Rechte gibt, Konservative und Liberale oder sogenannte Progressive. Das ist im Vatikan eigentlich nicht festzustellen. Es gibt Seilschaften, ja. Aber Lager stelle ich keine fest.

    Gierth: Vielleicht können Sie diese Seilschaften ein bisschen beschreiben und skizzieren.

    Ferrari: Das ist schon so, wenn jemand im Vatikan arbeiten will, ist er Priester, er ist in Deutschland, er möchte gerne gehen, oder er wird wahrscheinlich gar nicht gehen wollen, er wird irgendwie durch eine Vermittlung, dorthin geschickt. Und dann, um im Vatikan zu überleben, muss er irgendeinen Bekanntenkreis, das nennt sich dann vielleicht Seilschaften, aufbauen, dass er an seine Informationen kommt, dass er seine Aufgaben erfüllen kann. Und das ist im Vatikan sehr gut ausgeprägt. Es gibt auch die eher unangenehmen Seilschaften – man spricht von homosexuellen Seilschaften. Oder räumliche, es gibt Norditaliener, es gibt eine Ortschaft in Norditalien, das sind fünf, sechs Prälaten draus entstanden. Ein kleines Dorf mehr oder weniger, weil alle, die um den Kardinal herum geschert sind, der hat dann gesagt, kommt, ihr könnt mitkommen, ich habe Vertrauen in euch usw.

    Gierth: Immer wieder werden ja im Zusammenhang mit den jetzigen Vorkommnissen auch die Namen von Angelo Sodano und – Sie haben ihn vorhin genannt – Tarcisio Bertone genannt. Welche Rolle spielen sie?

    Ferrari: Auf alle Fälle muss man festhalten, dass das zwei sehr unterschiedliche Persönlichkeiten sind. Sodano ist ein geschliffener Diplomat, welterfahren, und hat sich eine starke Hausmacht aufgebaut im Lauf der Jahre, hatte sie aber schon vorher, weil er kam aus dem Staatssekretariat, hat die Diplomatenschule in Rom besucht, eine Kaderschule. Und er ist einfach ein Mann, dem vielleicht der Einfluss der Kirchenzentrale, der Vatikan, das Zentrum wichtiger ist, als Loyalität zu dem Papst. Und dann gibt es Bertone, der ist ein jovialer Mensch, ist liebeswürdig. Ich glaube, er sitzt lieber an einem Mittagstisch einer Großfamilie anstatt an einem Staatsbankett, und ist absolut loyal zum Papst. Aber er hat null Erfahrung in der Diplomatie, hat die Diplomatenschule nicht gemacht, und all die Leute nicht kennengelernt, die eigentlich nützlich wären, um seine Aufgabe als Staatssekretär zu machen.

    Gierth: Aber wenn Sie sagen, er hat eigentlich keine Ahnung in Diplomatie, dann ist er doch an der Stelle, an der er wirkt, fehl am Platz.

    Ferrari: Ja, er hat sich natürlich eingearbeitet im Laufe der Jahre. Er macht den Job ja seit 2006. Aber das Problem, was man eben kritisiert, ist, dass er seine Hausmacht aus dem Bekanntenkreis, aus den Mitgliedern seines Ordens, also Don-Bosco-Orden, Salisianern, aufgebaut hat. Und das erzeugt Missstimmung – und das nicht nur im Staatssekretariat.

    Gierth: Aber ganz offensichtlich soll Bertone doch durch die jetzigen Vorgänge vorgeführt werden.

    Ferrari: Ja. Das sicher. Aber die Frage ist heute wahrscheinlich, ob das nur um Bertone geht. Neuerdings ist ja auch Prälat Gänswein im Kreuzfeuer. Was mir aufgefallen ist, dass in den Dokumenten, die Leute an Gänswein geschickt haben, er praktisch hoch gelobt wird, einzelne sprechen ihn sogar als Bischof an. Er wird hoch bewertet. Es ist eine Schlüsselposition, die an sich keine Macht hat. Aber er hat die Information, die andere nicht haben. Und ich glaube, es geht nicht nur um Bertone, weil Bertone ist in einem Alter – als Nächstes wird er wahrscheinlich zurücktreten können. Es geht an alle drei, würde ich sagen: Papst, Bertone und Gänswein.

    Gierth: Der Papst selbst scheint dem Treiben mehr oder minder hilflos zuzuschauen. Warum erweist er sich in dieser Situation als letztlich doch schwach?

    Ferrari: Ich weiß nicht, ob er schwach ist. Er ist betroffen. Er ist unheimlich betroffen. In seinem persönlichen Umfeld, also, wo ja nichts rauskommt sonst, wo ja nie etwas rausgekommen ist, entschwinden plötzlich Dutzende, vielleicht sogar Hunderte von Dokumenten. Er ist hilflos in dem Sinne, weil er nicht weiß, was das Ganze soll. Was soll er machen? Der Kammerdiener wurde verhaftet. Eine Kommission von drei Kardinälen prüft jetzt, wer steckt dahinter, wenn jemand dahinter steckt, was es wahrscheinlich ist. Aber ich glaube nicht, dass er hilflos ist. Er wartet ab. Er ist ein Mann, der sehr bedächtig ist. Also ich erinnere mich zum Beispiel, als er, kurz nachdem er zum Papst gewählt wurde, gab es ja einen Prälaten, Crescenzio Sepe, der war sehr mächtig geworden in der "Evangelisation der Völker", und er hat gewusst, der Mann kann der Kirche schaden, und hat den Mann still und heimlich zum Erzbischof von Neapel ernannt und in seine Heimat zurückgeschickt. Das hätte Papst Johannes Paul II. niemals machen können und dürfen. Und er hat es gemacht. Und das ist für mich die Art und Weise, wie der Papst wirkt.

    Gierth: Aber muss man nicht trotzdem sagen, dass die katholische Kirche, so wie es sich jedenfalls aus diesen Ereignisse heraus zeigt, ein Leitungsproblem hat?

    Ferrari: Ich würde sagen: ein Organisationsproblem im Vatikan selbst. Wissen Sie, der Papst, wenn man das mal auflistet, was ein Papst machen muss, dann müsste er den 24-Stunden-Tag erweitern. Das ist nicht möglich. Die Aufgabe eines Papstes ist – schwierig.

    Gierth: Trotzdem kennt ja Benedikt XVI., Joseph Ratzinger, die Kurie vermutlich wie kein Zweiter, durch seine jahrzehntelange Anwesenheit in Rom. Trotzdem ist eine Kurienreform unter ihm ausgeblieben. Warum?

    Ferrari: Also, ich hoffe, dass er keine macht.

    Gierth: Das müssen Sie uns erklären.

    Ferrari: Weil die vatikanische Kurie zu reformieren, ist eine sehr, sehr schwierige Sache. Paul VI. hatte die letzte große Kurienreform gemacht. Es ist eine Monster-Aufgabe. Ich bin überzeugt, dass so eine Aufgabe Papst Benedikts Kraft übersteigen würde, weil er mit immensen Widerständen rechnen müsste und durch das wahrscheinlich auch die ganze Kirchenleitung blockiert.
    Gierth: Das heißt, die römische Kurie ist überhaupt nicht reformierbar?

    Ferrari: Sie ist reformierbar. Aber ich frage mich, ob eine klassische Kurienreform möglich ist. Klar, es herrscht Vetternwirtschaft, das Misstrauen ist weit verbreitet, seit Jahrzehnten, vielleicht sogar seit Jahrhunderten. Es fehlt eine echte Koordination zwischen den Ministerien, den sogenannten Dikasterien. Die Informationsverarbeitung ähnelt meines Erachtens eher der eines Geheimdienstes und nicht der einer Organisation in der heutigen Informationsgesellschaft. Und es herrscht wenig Vertrauen zwischen den Fachabteilungen des Vatikans. Es ist überall Misstrauen, ich gebe dir das Dokument nicht, wenn du was brauchst, dann kannst du dann usw. Was auch sehr unangenehm ist, ist das Klientelwesen treibt heute noch ausgefallene Blüten. Ist ja lächerlich. Aber vatikanische Usance.

    Gierth: Wenn Sie für einen Augenblick überlegen sollten, welche Reformen anstoßbar, umsetzbar wären, welche Reformen wären das?

    Ferrari: Meine Sicht einer Reformation wäre moralischer Natur. Ehrlichkeit, Offenheit, barmherzig sein, weniger Arroganz im internen Umgang. Eine echte Koordination des Informationswesens, das diese Misstrauen überwinden kann. Und vielleicht auch mal Schaffung von Anlaufstellen für Menschen, die von der Kirchenleitung unfair behandelt wurden. Die gibt es intern im Vatikan und außerhalb. So eine Reform wäre für mich nachhaltiger als eine klassische Kurienreform. Aber auch dort würde es wahrscheinlich sehr große Widerstände geben, da sie den Kern der Problematik trifft. Hier ginge es wahrscheinlich darum, die Prinzipien des christlichen Glaubens auch innerhalb der Kirchenzentrale in die Tat umzusetzen. Papst Benedikt hat vor zwei Jahren auf seinem Flug nach Fatima spontan gesagt, die leidende Kirche – ich zitiere: "Die leidende Kirche kommt gerade aus dem Innen. Die Sünde existiert im Inneren der Kirche." Das war mutig, so etwas zu sagen.