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"Es ist die Frage, was Realität in unserer Wirklichkeit ist und was Fantasie"

Jovan Nikolic gehört der Minderheit der serbischen Roma an. Der Autor lebt heut in Köln und setzt sich für die rund 200.000 Roma in Deutschland ein. Neu erschienen ist sein Prosaband "Seelenfänger, lautlos lärmend".

Von Insa Wilke | 29.03.2012
    "Ich möchte mit meiner Lupe, mit meinem Mikroskop diese Rätselsituationen erfassen, diese kranken Situationen in der Welt. Diese Mikrominiatur-Crazyheit."

    Jovan Nikolic schreibt, weil er das Leben verstehen will. Nach seinem Verständnis muss es in der Literatur immer um die grundlegenden Fragen der Menschen gehen und die zeigen sich oft in dem, was man nicht versteht. In seiner Kindheit wurde dieses Bedürfnis geweckt, solche rätselhaften Situationen wie Bilder zu sammeln. Denn als Kind haben Jovan Nikolic viele Geheimnisse umstellt, zum Beispiel das der eigenen Fremdheit. Er beschreibt es in einem kurzen Prosatext:

    Der Spiegel
    Ein kleiner Junge spaziert mit seinem Vater durch die Stadt. Er hört, wie jemand in ihrem Rücken ihnen ein Wort nachwirft: Zigeuner. Er versteht das Wort nicht, spürt aber, wie in ihm, vom Feuer der väterlichen Hand, die ihn hält, etwas zu brennen beginnt. Er ahnt, dass dieses Wort, voll einer unbekannten Gefahr, einen verhängnisvollen Einfluss nehmen wird auf sein künftiges Leben; das es, den Kiefer voll niederträchtiger Konsonanten, nach ihm schnappen und sein Herz mit den scharfen Zähnen des Spotts und der Verachtung heimsuchen wird.

    Seither bleibt er immer ein wenig länger vor dem Spiegel stehen, er wartet, dass dort, im Abbild seiner Gestalt, die Bedeutung dieses Wortes aufscheint und sich ihm entdeckt. Zugleich spürt er große Angst, er würde dort etwas Verhängnisvolles und Schmerzliches sehen, das die Seele für alle Zeit davontragen könnte, sodass er nicht mehr sicher sein kann, auf welcher Seite des Spiegels er selbst und auf welcher Seite jener dort steht, der ihn mit den eigenen Augen ansieht und den Fehler sucht.


    1955 wurde Jovan Nikolic in Titos kommunistischem Jugoslawien geboren. Sein Vater war ein Rom, die Mutter Serbin. In den 60er Jahren zog die Familie durch die Balkanländer, von Hotel zu Hotel, weil die Eltern ihr Geld mit Saxofon und Gesang verdient haben. 1968 ließen sich die Nikolics im Romaviertel der westserbischen Kleinstadt Cacak nieder. Dort hatte der Großvater, der nach dem Zweiten Weltkrieg traumatisiert aus einem deutschen Arbeitslager zurückgekehrt war, ein Haus. Hier, in diesem Haus verbrachte Nikolic den zweiten Teil seiner Kindheit.

    Von den poetischen, unverständlichen und schmerzhaften Momenten dieser Kindheit erzählt sein Buch "Weißer Rabe, schwarzes Lamm", aus dem der kurze Prosatext "Der Spiegel" stammt.

    Ein weißer Rabe und ein schwarzes Lamm war Nikolic selbst: Der weiße Rabe ist in den Sprachen der Balkanvölker ein Bild für jemanden, der nicht dazugehört. Wie zum Beispiel ein kleiner Junge, dessen Eltern als Musiker durch die Lande ziehen. Und wenn die eigene Mutter keine Romni, sondern Serbin, also Weiße ist, dann ist man auch noch ein schwarzes Lamm, weil man auch bei den Roma keine vollkommene Geborgenheit findet. Und das Schwarz des Lamms vertieft sich beim kleinen Nikolic durch eine weitere Eigenschaft: Er liest nämlich Bücher. Das ist vor allem für die Großmutter ein Verrat an den Traditionen der Roma. Sie selbst kann keine Bücher lesen, aber dafür Gesichter und das Leben. Ihr Enkel kann am Ende beides.

    In Weißer Rabe, schwarzes Lamm spannt Nikolic einen Bogen traumartiger Kindheitsbilder, die von der Erschütterung seines Weltvertrauens handeln. Als Erzähler hat er sich dieses Weltvertrauen erhalten. Gerade, weil er die Realität infrage stellt und mit seiner postmodern-surrealistischen Schreibweise die Welt hinter den Spiegeln erkundet.

    "Ich bin somnambul. Ich bin ein Sohn von Morpheus, dem Gott der Träume. Ich bin verliebt in diese Alternativrealität. Es ist die Frage, was Realität in unserer Welt ist und was Fantasie. Jede Imagination hat die Möglichkeit Realität zu werden."

    Nikolić liebt Träume und Fantasien. Als Schriftsteller braucht er sie sogar, um nicht zu schreiben, was schon hundertmal geschrieben worden ist. Denn wenn doch Klassiker wie Tschechow, Dostojewski und Balzac schon alles geschrieben haben, steht der nachgeborene Schriftsteller vor einem Problem:

    "Welche Möglichkeit habe ich jetzt noch, etwas zu sagen? Natürlich gibt es immer Möglichkeiten, immer neue. Es gibt die Möglichkeit, die Perspektive zu wechseln: Drei Millimeter nach rechts und du findest eine total neue Welt."

    In der Welt von Jovan Nikolic gibt es zum Beispiel Kugelschreiber, die sich ärgern oder einen Fön, der außer Rand und Band gerät oder einen Pflanzenerotomanen, den die sphärischen Formen von Obst erregen. Aber man darf sich nicht täuschen lassen: Tatsächlich stammen viele dieser scheinbar erfundenen Prosabilder aus der Realität. Zum Beispiel eine Geschichte von einem Mann, der Haare in seinem Kopfkissen gesammelt hat. Davon hat Nikolic in der Zeitung gelesen. Es ist seine Kunst, uns Leser im Unklaren zu lassen, wo die Grenze zwischen Realität und Fantasie verläuft. Im Staunen des Kindes über eine verrückte Welt erkennen wir Leserinnen und Leser uns wieder. Deshalb berühren uns die eigentlich sehr spezifischen Erfahrungen von Jovan Nikolic.

    Seine ersten Gedichte hat dieser Schriftsteller in den 70er-Jahren veröffentlicht. Damals studierte er zwar Maschinentechnik, tauchte aber bald schon in die sehr avancierte Belgrader Theater- und Musikszene ein. Als nach Titos Tod die großserbische Idee wieder salonfähig wurde, sei es ihm wie vielen anderen Künstlern vorgekommen, als wäre er mitten in einem Albtraum aufgewacht. Der Nationalismus schwoll an, es kam zum Krieg. Als die NATO serbische Städte bombardierte, sollte Nikolic zur Flugabwehr eingezogen werden. Das war der Punkt, an dem die Entscheidung fiel, Serbien zu verlassen. Es gelang ihm, unter der Hand ein Visum für Deutschland zu erhalten. In Deutschland unterstützten ihn di Heinrich-Böll-Stiftung und die Akademie der Künste Berlin mit Stipendien und bei seinem Asylantrag als verfolgter Schriftsteller. Er hatte also viel Glück. Und trotzdem war diese Entscheidung für das Exil ein weiterer, ein fundamentaler Bruch und eine neue Fremdheitserfahrung. Der Prosatext "Apathie" aus seinem neuesten Buch "Seelenfänger, lautlos, lärmend" erzählt davon. Er beginnt so:

    Apathie
    In diesem Herbst hielt ich mich im Osten Deutschlands, unweit der polnischen Grenze, in Eisenhüttenstadt, in einem Asylantenheim auf. Während ich noch immer die Frische und den Willen hatte "mein Schicksal zu ändern", schrieb ich in mein Tagebuch:

    Ich betrachte die Gestalt eines dunkelhäutigen Mannes, der seit dem frühen Morgen am Rand eines riesigen und beunruhigend hässlichen Betonwürfels sitzt. Den Kopf zwischen die Schultern eingezogen, mit seinem ganzen Rumpf nach unten hängend und mit den Handflächen seiner ausgestreckten Arme gegen die Knie drückend, starrt er irgendwo auf den Boden zwischen seinen Füßen. Ich verglich ihn aufgrund seiner suggestiven Kraft mit Rodins Skulptur Der Denker. Es ist durchaus möglich, ein Modell für eine neue Skulptur des Menschen am Vorabend des Jahrtausends zu erahnen; nennen wir sie - Apathie. (...)


    "Denn das Leben ist dem Leben ein Feind", schreibt Nikolic in seinem ersten, ins Deutsche übersetzten Lyrik- und Prosaband Zimmer mit Rad. Diese Erkenntnis hat sich für ihn durch die Erfahrungen im deutschen Exil gefestigt. Eine düstere, einsame Zeit sind die ersten Jahre in Deutschland für Jovan Nikolic gewesen. Auch aus diesem Grund hat er sich ans Serbische geklammert und erst spät auf die deutsche Sprache eingelassen. Man versteht das, liest man die Geschichten aus seinem neuesten Buch, die überwiegend im Exil entstanden sind: War "Weißer Rabe, schwarzes Lamm" ein Buch über die kindliche Angst vor dem Tod, handelt Seelenfänger, lautlos lärmend von der Furcht eines Erwachsenen vor dem Leben. Der Ton ist derselbe, aber das Register hat gewechselt.

    "Die Zentralgeschichte ist Apathie. Sie ist ein Denkmal, ein Himmel für Millionen Flüchtlinge, die wie Blinde durch diese Welt spazieren und gnadenlos denken, dass es möglich ist, im Westen den reichen Westen zu finden und ihr Glück und ein normales Menschenleben."

    Die Welt scheint zur flachen Scheibe geworden zu sein in diesen neuen Texten. Uns alle sieht Nikolić als Insassen eines modernen Sanatoriums, in dem die Einen unbesorgt leben. Die Anderen aber versuchen schwermütig, sich an eine frühere Welt zu erinnern und an ihr eigenes festes und unbeirrbares Verhältnis zu dieser Welt. Ihnen sind seine Texte gewidmet. Für sie beschwört er die Möglichkeit von Erlösung. Denn warum sonst all dieses Leid und dieses Verharren im Wartesaal des 21. Jahrhunderts?

    In seinem Gedicht Sackgasse in Richtung Westen II fragt Nikolic: "Lassen sich Träume vorstellen, / die in Tabletten gepresst sind?" - Wir können antworten - nach der Lektüre: Ja, denn genau das wäre eine Beschreibung für seine Literatur.

    Jovan Nikolic:
    Weißer Rabe, schwarzes Lamm. Aus dem Serbokroatischen übersetzt von Bärbel Schulte. Drava Verlag, 96 S., 9,80 Euro.

    Seelenfänger, lautlos lärmend. Kurzprosa. Übersetzt aus dem Serbischen von Dragoslav Dedovic und Dagmar Vohburger. Drava Verlag Aus dem Serbokroatischen übersetzt von Bärbel Schulte, Drava Verlag, 110 S., 15,80 Euro.