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"Es ist ein Kulturdenkmal"

Ein Grass-Gedicht im besten Sinne des Wortes seien die heute veröffentlichten israelkritischen Strophen von Günter Grass, glaubt die Grass-Expertin Gertrude Cepl-Kaufmann. Im Werk des Nobelpreisträgers sei politische Lyrik stets ein "höchst sensibles Selbstverortungsinstrument" gewesen.

Gertrude Cepl-Kaufmann im Gespräch mit Michael Köhler | 04.04.2012
    Michael Köhler: Er sei von "brennender Sorge" getrieben, das schreibt der Berliner "Tagesspiegel" heute auf der ersten Seite. Es sei ein Gedicht eines nicht ganz dichten Dichters, meint hingegen Henryk M. Broder in der Tageszeitung "Die Welt" und wirft Günter Grass wie mehrere andere Autoren Antisemitismus vor. Die Kritik aus Berlin ließ nicht lange auf sich warten. Das politische Berlin kritisiert die Israel-Kritik von Günter Grass, Publizisten sprechen von mangelnder Objektivität. Die inkriminierte Zeile lautet: "Die Atommacht Israel gefährdet den ohnehin brüchigen Weltfrieden?"
    Zuerst aber müssen wir dokumentieren, was da in der "Süddeutschen Zeitung" heute zu lesen ist, und vorlegen, was ist. Darum fünf von neun Strophen unter dem Titel "Was gesagt werden muss."

    "Warum schweige ich, verschweige zu lange, was offensichtlich ist und in Planspielen geübt wurde, an deren Ende als Überlebende wir allenfalls Fußnoten sind.

    Es ist das behauptete Recht auf den Erstschlag, der das von einem Maulhelden unterjochte und zum organisierten Jubel gelenkte iranische Volk auslöschen könnte, weil in dessen Machtbereich der Bau einer Atombombe vermutet wird.

    Jetzt aber, weil aus meinem Land, das von ureigenen Verbrechen, die ohne Vergleich sind, Mal um Mal eingeholt und zur Rede gestellt wird, wiederum und rein geschäftsmäßig, wenn auch mit flinker Lippe als Wiedergutmachung deklariert, ein weiteres U-Boot nach Israel geliefert werden soll, dessen Spezialität darin besteht, allesvernichtende Sprengköpfe dorthin lenken zu können, wo die Existenz einer einzigen Atombombe unbewiesen ist, doch als Befürchtung von Beweiskraft sein will, sage ich, was gesagt werden muss. Warum aber schwieg ich bislang? Weil ich meinte, meine Herkunft, die von nie zu tilgendem Makel behaftet ist, verbiete, diese Tatsache als ausgesprochene Wahrheit dem Land Israel, dem ich verbunden bin und bleiben will, zuzumuten.

    Warum sage ich erst jetzt, gealtert und mit letzter Tinte: Die Atommacht Israel gefährdet den ohnehin brüchigen Weltfrieden? Weil gesagt werden muss, was schon morgen zu spät sein könnte; auch weil wir – als Deutsche belastet genug - Zulieferer eines Verbrechens werden könnten, das voraussehbar ist, weshalb unsere Mitschuld durch keine der üblichen Ausreden zu tilgen wäre."


    Köhler: Fünf von neun Strophen aus "Was gesagt werden muss" von Günter Grass, zu lesen in der "Süddeutschen Zeitung" heute, gelesen von Richard Hucke hier im Studio. - Achtmal ist in diesen neun Strophen also vom Schweigen die Rede, siebenmal vom Reden und Sagen. Ein sehr beredtes Gedicht über das zu lange Schweigen. Ich habe die Germanistin, Lyrik- und Günter-Grass-Expertin von der Düsseldorfer Heinrich-Heine-Universität Gertrude Cepl-Kaufmann gefragt, welchen Ort nimmt so eine Publikation, zeitgleich in großen Tageszeitungen veröffentlicht, im Werk von Günter Grass ein?

    Gertrude Cepl-Kaufmann: Es ist der rote Faden, es ist die Erfahrung ganz klar, die seine Generation ausmachte, dass sie vieles erfahren haben durch den Krieg selber, aber noch mehr vom System, von den Ideologien dieser Zeit und sich selber darin erlebt haben als diejenigen, die geschwiegen haben, und dieses Schweigen ist die Schuld einer ganzen Generation, und das hat auch Grass in allen weiteren Veröffentlichungen – sei es im politischen Werk, sei es in seinen Romanen – immer wieder umgetrieben, dass er die Stimme erheben muss. Ein Beispiel: Die Auschwitz-Lüge selber ist ein Phänomen des Verschweigens, die symptomatisch seine Zeit ausmacht und seine Generation ausmacht, gegen die er angeht.

    Köhler: Darum auch dieses Insistieren auf diesem Wortfeld des Sprechens und Schweigens, denn das ist ja auffällig, ich habe es gerade gesagt. Über ein halbes Dutzend Mal ist davon die Rede. Wenn wir das versuchen einzuordnen in eine Art Geschichte des Anti-Kriegs-Gedichts, ich sage jetzt mal, vom Expressionismus eines Georg Heym oder Bertolt Brecht bis heute, passt das da rein, was Wortfeld, Thematik und auch die Warnung und die Drohung vor Gefahren angeht?

    Cepl-Kaufmann: Also zunächst einmal: es ist ein politisches Gedicht. Die meisten Kriegsgedichte sind Erlebnisgedichte, oder aber Fantasien, etwa im Vorexpressionismus eines Georg Heym, in dem das vitale Leiden an der Ereignislosigkeit der Zeit zu fantastischen Kriegsereignissen im Gedicht führte, aber kein Erlebnis dem zu Grunde lag. Das haben wir bei Grass ganz eindeutig nicht. Wir haben es hier mit einem Reflektionsgedicht zu tun, das sich positioniert innerhalb eines politischen Feldes, sich aber nichts desto Trotz auch positioniert als Schriftsteller, der aufgerufen ist, dieses öffentliche politische Schweigen zu einer menschenausrottenden Problematik, aufgerufen ist, das aufzugeben und zu appellieren. Also auch der Appell, der Gestus gehört auf der anderen Seite des Schweigens mit zu den aktiven Begegnungen mit der gegenwärtigen Situation.

    Köhler: Die Unruhe ist nicht gering im Blätterwald, das politische Berlin hat reagiert, es wird weiter Reaktionen geben, wir hören davon, dass es einen massiven publizistischen Gegenschlag geben wird, also Sie merken schon: man bewegt sich schon im Wortfeld der Bewaffnung und des Krieges geradezu. Ist das ein gelungenes Gedicht, oder ist das eher eine Art politische Flugblatt-Intervention?

    Cepl-Kaufmann: Also wir müssen nicht über das politische Urteil sprechen, sondern wir können nur darüber sprechen, wer und was und warum und wie können wir dies als Kulturdenkmal erkennen. Es ist ein Kulturdenkmal insofern, als es die Rolle des Schriftstellers sehr ernst nimmt, es ist sehr betroffen, von der eigenen Betroffenheit geprägt, es ist der Gestus eines erfahrenen, alten, gealterten Schriftstellers. Er sagt selber, warum sage ich jetzt erst, gealtert und mit letzter Tinte. Also es ist schon ein gewisser Rückblick auf das eigene Leben und auch die moralische Verpflichtung, diese Situation nicht unkommentiert zu lassen, und dieser Kommentar ist ein poetischer Kommentar, das ist ganz klar. Es ist kein Essay, es ist keine politische Rede, es ist kein Interview. Alles poetische Möglichkeiten, die Grass immer wieder benutzt hat, aber er hat zum Gedicht gegriffen, und die Lyrik ist im Werk von Grass immer ein höchst sensibles Selbstverortungsinstrument und er versucht, hier sein eigenes Leiden an dieser apokalyptischen Problematik zu verdichten – in einem Ereignis, zu dem er zumindest einige absolut stimmige Daten nennen kann und von dem er her sich als Schriftsteller, als Zeuge dieses Jahrhunderts, als Poet, der die Welt auch verändern will, äußert. Also es ist ein Grass-Gedicht im besten Sinne des Wortes, denn Grass hat nicht nur das Apokalyptische beschrieben, sondern in seinem Werk kommt das Apokalyptische nie ohne das Utopische aus. Dieses Utopische ist in diesem Gedicht - da muss man etwas lange suchen, bevor man es findet, aber man findet es -, und es meint, schon alleine das Schreiben dieses Gedichtes ist ein utopischer Akt wie das Gesamtwerk von Grass.

    Köhler: …, sagt die Germanistin und Grass-Expertin Gertrude Cepl-Kaufmann von der Düsseldorfer Heinrich-Heine-Universität zu dem Gedicht "Was gesagt werden muss", heute veröffentlicht, und heftige Reaktionen hat es schon gegeben und es wird weitere dazu sicherlich geben.


    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.