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"Es ist nicht Aufgabe von Kassen, Milliarden anzuhäufen"

Die Krankenkassen haben gut zehn Milliarden Euro auf der hohen Kante - Rücklagen, die sie in diesem Umfang nicht brauchen, meint der gesundheitspolitische Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag, Jens Spahn (CDU). Er fordert die Kassen zwar auf, Überschüsse an die Versicherten zurückzuzahlen. Gesetzliche Maßnahmen hält er aber nicht für angezeigt.

Jens Spahn im Gespräch mit Dirk Müller | 08.03.2012
    Dirk Müller: Daniel Bahr hat es schon seit Wochen gewusst, seit Wochen seine Vorschläge in die Diskussion gebracht. Dass die Krankenkassen inzwischen riesige Reserven eingefahren haben, ist also seit längerem bekannt. Doch die Höhe dieser Rücklagen, die gestern der Öffentlichkeit präsentiert wurden, hat dann doch viele überrascht, selbst zahlreiche Experten. Fast 20 Milliarden Euro stehen da zu Buche, fast 20 Milliarden, die die gesetzlichen Krankenkassen auf der hohen Kante haben - einschließlich der Reserven, die im Gesundheitsfonds liegen. Und dies in einer Situation, wo die Patienten über Zusatzbeiträge und Zusatzversicherungen massiv klagen. Der Gesundheitsminister will einen Teil der Überschüsse nun an die Mitglieder, an die Patienten zurückgeben. Beitragsrückerstattung heißt das Stichwort. Doch dies lehnen die Krankenkassen ab. Was passiert nun mit dem Geld der Kassen? Darüber wollen wir nun mit dem gesundheitspolitischen Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag sprechen, mit Jens Spahn (CDU). Guten Morgen!

    Jens Spahn: Schönen guten Morgen, Herr Müller.

    Müller: Herr Spahn, 20 Milliarden Euro - könnten wir das nicht für die Griechenlandrettung nehmen?

    Spahn: Sicher nicht, denn das ist tatsächlich das Geld der Beitragszahler innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung. Das hat glücklicherweise mit dem Bundeshaushalt nichts zu tun.

    Müller: Waren Sie selbst auch überrascht, dass es so hoch ausfallen wird?

    Spahn: Wir sind positiv überrascht über die sehr gute Entwicklung, die wir haben bei den Finanzen der Kassen. Das ist ja was völlig Neues. Ich mache jetzt seit zehn Jahren Gesundheitspolitik, wir haben immer nur über Defizite gesprochen. Jetzt sind wir erstmals in der ja eigentlich schönen Situation - aufgrund der wirtschaftlichen Entwicklung, der positiven, aber auch, weil wir für 2011 und 2012 Spargesetze gemacht haben -, dass wir tatsächlich eine gute Rücklage haben auch für schwere Zeiten.

    Müller: 20 Milliarden, das ist kein Pappenstiel. Florian Lanz hat ja eben gesagt, das ist kleines Geld - das sehen ja viele anders. Ist da irgendwas in der Berechnung, auch in der politischen Berechnung falsch gelaufen, wenn so viel Geld zusammenkommt?

    Spahn: Man muss ja unterscheiden. Es gibt einmal die Rücklage beim Gesundheitsfonds selbst - da sind etwa neun Milliarden Euro. Das ist auch die Rücklage für schlechte Zeiten. Das ist das Geld, wo wir sagen, da sollten wir nicht rangehen, weil wir wissen nicht, ob wir wirtschaftlich wirklich auf Dauer allein die Lokomotive in Europa bleiben können - sollen sollen wir auf jeden Fall, bleiben können -, und wenn es dann wieder schlechter geht, wäre Beitragssatzerhöhung in der Krise das schlechteste. Also Rücklage für schlechte Zeiten. Aber etwa gut zehn Milliarden Euro liegen bei den einzelnen Kassen, das ist höchst unterschiedlich. Manche brauchen ja bis heute Zusatzbeiträge. Andere - und zwar immer mehr - horten teilweise Hunderte Millionen Euro oder Milliarden, und da finden wir, das sollten sie auch an ihre Versicherten wieder ausschütten. Das ist das Geld der Versicherten, Krankenkassen sind keine Sparkassen.

    Müller: Wir wollen nicht polemisch sein, aber könnte man sagen, die Krankenkassen haben ihre Mitglieder abgezockt?

    Spahn: Abgezockt wäre sicherlich falsch. Das hat einfach mit der guten Entwicklung auch im Fonds zu tun und damit, dass wir insbesondere bei Arzneimitteln, bei der Pharmaindustrie durch Spargesetze die Ausgaben erstmals seit langer, langer Zeit gesenkt haben. Wir geben erstmalig weniger aus im letzten Jahr für Arzneimittel als im Jahr zuvor. Das hat mit Spargesetzen zu tun und nichts mit Abzocke.

    Müller: Dann reden wir jetzt über das Geld. Sie sagen, das muss in irgendeiner Form zurück. Wie denn?

    Spahn: Nun, die Krankenkassen können ja im Wettbewerb, wenn sie Geld brauchen, Zusatzbeiträge nehmen- es gibt noch einige Kassen, die etwa acht oder zehn oder zwölf Euro nehmen -, oder aber, wenn sie Rücklagen haben und Überschüsse, Prämien ausschütten an ihre Versicherten. Das tun derzeit auch eine gute Hand voll Kassen, die 60 oder 100 Euro pro Jahr an ihre Mitglieder wieder zurückgeben. Und das könnten deutlich mehr Kassen als heute tun. Nach unseren Berechnungen könnten so bis zu sieben Millionen Versicherte in Deutschland von Rückerstattungen profitieren.

    Müller: Könnten, sagen Sie, Herr Spahn. Das heißt, die Krankenkassen können das freiwillig tun und können nicht gezwungen werden?

    Spahn: Krankenkassen sind grundsätzlich natürlich auch ein Stück weit in unternehmerischer Freiheit bei dem, was sie tun, aber auch nicht völlig. Sie sind ja Körperschaften öffentlichen Rechtes. Das eine ist der öffentliche Druck - es ist ja auch gut, dass wir darüber diskutieren und wir auch die Versicherten informieren, wie es um ihre Kasse bestellt ist. Wir wollen eine höhere Transparenz auch auf die einzelne Kasse. Es gibt ja heute keine Verpflichtung, dass die Kasse ausweisen muss, wie viel Rücklagen sie denn hat. Das haben wir schon gesetzlich ab 2014 geändert. Notfalls muss man das vorziehen, damit wir eine Transparenz haben. Und zum Dritten fordere ich auch die Aufsicht auf, das Bundesversicherungsamt, sich das mal genau anzuschauen. Denn ich sage noch mal: Es ist nicht Aufgabe von Kassen, Milliarden anzuhäufen.

    Müller: Also noch mal die Frage: Das heißt, es ist freiwillig, und wenn sie nicht wollen, dann wollen sie es nicht, dann machen sie es nicht?

    Spahn: Wir können sie nicht direkt zwingen, sondern nur durch öffentlichen Druck darüber reden. Die Versicherten sollten einfordern, dass sie von ihren Beiträgen was zurückbekommen. Und ich sage noch mal: Ich finde, auch die Aufsicht, das Bundesversicherungsamt sollte zumindest mal draufschauen.

    Müller: Die Krankenkassen argumentieren ja, wir müssen uns wappnen für schlechte Zeiten. Kommen diese schlechten Zeiten?

    Spahn: Ob sie kommen oder nicht, kann sicherlich keiner vorhersagen. Ich freue mich sehr, dass wir mit der deutschen Wirtschaft im Moment so gut dastehen, wie wir dastehen. Aber wenn wir ins europäische Nachbarland, in die USA, nach Asien schauen, wissen wir nicht, ob und wie lange das noch gut geht. Insofern ja, wir brauchen Rücklagen, die haben wir aber im Fonds. Es ist Aufgabe des Gesundheitsfonds, für diese Zeiten vorzusorgen, das tut er auch. Die einzelnen Kassen brauchen in diesem Umfang keine Rücklagen. Und wenn tatsächlich einzelne so viel mehr haben, dann muss man mal über ein paar Verteilmechanismen auch im Gesundheitsfonds, im Risikostrukturausgleich nachdenken. Es war nie Sinn des Gesetzgebers und Sinn des Systems, ich sage mal, dass eine einzelne Kasse - die gibt es auch - fast drei Milliarden Euro, das ist ja manch einem sein ganzes Geld, hätte ich beinahe gesagt, das ist wahnsinnig viel Geld, drei Milliarden Euro da hortet und einfach sagt, wir erzählen erstens keinem so richtig davon und zum zweiten geht es keinen was an. Das, finde ich, ist nicht richtig. Es geht den Versicherten, die Versicherten der Kasse deutlich was an, weil sie es eben auch bezahlt haben.

    Müller: Wenn Sie sagen, darüber reden, darüber nachdenken, Herr Spahn, heißt das in der Konsequenz, es wird keine politischen Vorgaben geben?

    Spahn: Nein. Über das hinaus, was wir gesetzlich geregelt haben, sicherlich nicht, außer - da, finde ich, sollten wir schon mal drüber nachdenken - bei der Transparenzfrage. Heute steht im Gesetz, dass ab 2014 alle Kassen offenlegen müssen ihre Bilanzen und damit auch ihre finanzielle Situation. Eigentlich haben wir das auf 2014 geschoben, weil wir den Kassen Zeit geben wollten, sich darauf vorzubereiten, auf diese Transparenz. Wenn sie jetzt aber in guten Zeiten nicht mal bereit sind, ein Stück weit mehr Transparenz auch zu liefern, dann muss man überlegen, ob man das vorzieht.

    Müller: Dann reden wir noch einmal über die Ursache dieser Überschüsse - zehn Milliarden, einigen wir uns mal darauf. Zusatzbeiträge hat es gegeben, Praxisgebühr hat es gegeben, Millionen Menschen, die betroffen sind, Millionen Patienten beklagen sich, stöhnen darüber. War das ein Fehler?

    Spahn: Nein. Erstens mal ist die Belastung durch Zusatzbeiträge in der momentanen Situation ja eine sehr geringe. Es haben nur noch einige wenige Kassen einen, und wer sagt, das ist mir meine Kasse nicht wert, kann ja problemlos auch die Kasse wechseln. Ich glaube, das ist nicht wirklich ein Problem. Das zweite Thema, Praxisgebühren und Zuzahlungen, da geht es ja nicht nur um die finanzielle Seite. Es geht zum einen auch um das Zeichen, das Anerkennen, Gesundheit, Gesundheitsleistung ist was wert, das ist nicht völlig umsonst zu haben, es hat eben auch einen Gegenwert. Und zum dritten geht es natürlich auch um die Steuerungswirkung an der Stelle, dass sich jeder überlegt, brauche ich das wirklich. Aber auch da - das sage ich noch mal - gibt es ja auch Belastungsgrenzen, maximal zwei Prozent des Einkommens. Also auch da wird niemand überfordert.

    Müller: Aber wenn einer krank ist, hat er im Grunde Pech gehabt?

    Spahn: Nein, weil eben niemand überfordert wird bei den Zuzahlungen, bei der Praxisgebühr, nicht mehr als zwei Prozent des Einkommens. Insofern hat er auch nicht Pech gehabt. Er kann im Gegenteil auf das beste Gesundheitswesen der Welt zurückgreifen. Ich weiß, dass wir zum Teil Probleme haben auch in der flächendeckenden Versorgung oder bei Wartezeiten, zum Teil auch bei Fachärzten auf dem Land. Ich war gestern Abend noch in Thüringen zu einer entsprechenden Veranstaltung. Aber alles in allem stellen wir den Bürgern in diesem Land eine wirklich gute Gesundheitsversorgung zur Verfügung, und die kostet eben an der einen oder anderen Stelle auch was. Ich glaube aber, wir sind da wirklich ausgewogen in der Balance.

    Müller: Dann können wir, Herr Spahn, letzte Frage, abschließend festhalten, wenn ich Sie richtig verstanden habe: 20 Milliarden Rücklagen bei den Krankenkassen, aber gesetzlich wird sich nichts ändern?

    Spahn: Wir werden die öffentliche Debatte weiterführen, wir werden auch einfordern, dass die Kassen ein Stück weit was zurückgeben an ihre Versicherten. Aber direkte gesetzliche Maßnahmen sind im Moment jedenfalls nicht angezeigt, außer die Kassen sollten tatsächlich so stur bleiben wie sie im Moment sind. Dann müsste man darüber nachdenken.

    Müller: Jens Spahn, der gesundheitspolitische Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag, bei uns im Gespräch. Vielen Dank für das Gespräch und auf Wiederhören.

    Spahn: Gerne!

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.