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Es riecht nach Revolution

Im Senegal vergeht kein Tag ohne Festnahmen und Demonstrationen. Oppositionelle und junge Menschen wehren sich gegen Präsident Abdoulaye Wade. Er hat durchgesetzt, dass er zum dritten Mal für das Amt kandidieren darf. Trotz internationaler Beobachter warnen Kritiker vor Wahlbetrug.

Von Alexander Göbel | 24.02.2012
    Präsidentschaftswahlkampf im Stadtzentrum von Dakar. Beladen mit riesigen Lautsprechern bahnt sich der Kleinlaster eines Oppositionskandidaten den Weg zum Platz der Unabhängigkeit. Umringt wird er von Hunderten Demonstranten. Der Kandidat - es ist diesmal der Sozialist Osmane Tabor Dieng - kommt nicht weit.

    Anti-Demonstrations-Einheiten der Polizei haben den Platz längst umstellt, sie tragen schwarze Uniformen, Helme und Schutzschilde. Sie feuern Gummigeschosse ab und zünden Tränengasgranaten, es gibt Verletzte. Die Menschen fliehen in Hauseingänge. Der beißende Rauch ist plötzlich überall.

    Ein Reporter:

    "Die Polizei hat die Demonstration hier aufgelöst, die Demonstranten wollten zum Präsidentenpalast ziehen das Ganze wurde sofort beendet!"

    Auch der Student Malick versucht, Luft zu holen und atmet in einen dicken Schal. Seit Tagen ist er auf jeder Demonstration dabei.

    "Das ist doch die Polizei von Abdoulaye Wade, das ist nicht die Polizei des Volkes. Und das werden wir nicht akzeptieren. Es reicht, und wenn wir dafür sterben müssen!"


    Es riecht nach Revolution im Senegal, unmittelbar vor den Präsidentschaftswahlen: jeden Tag das gleiche Bild, vor allem in der Hauptstadt Dakar. Die Opposition ruft zu Kundgebungen und Märschen auf, diese werden von der Regierung nicht genehmigt, die Polizei macht kurzen Prozess, dann kommt es früher oder später zur Eskalation. Der Grund ist immer derselbe: Präsident Abdoulaye Wade, inzwischen offiziell 85 Jahre alt, klammert sich an die Macht. Will eine dritte Amtszeit. Noch einmal sieben Jahre. Die Verfassung lässt das nicht zu, doch der Verfassungsrat erlaubt es ihm. Im Senegal wundert das niemand, denn Wade hat kräftig nachgeholfen. Die fünf Richter hat er persönlich eingesetzt - sie haben eine saftige Gehaltserhöhung bekommen und fahren plötzlich neue Autos. Abdourahmane Thiam, Politikwissenschaftler an der Cheikh Anta Diop Universität von Dakar:

    "Für Präsident Wade scheint die Macht eine Obsession zu sein. Was wir hier erleben, gleicht einer Art Machtergreifung aus dem Amt heraus. Der Präsident wirkt wie ein Planet, um den die Sterne kreisen. Diese Haltung erklärt, warum die Opposition so dermaßen wütend ist und sich dagegen wehrt, dass er und seine Machtclique um jeden Preis ihre Privilegien verteidigen wollen."

    Als Abdoulaye Wade im Jahr 2000 zum ersten Mal gewählt wurde, galt er als Hoffnungsträger. Die Senegalesen wählten ihn, weil sie genug hatten von 40 Jahren Sozialismus. Der liberale Jurist war für viele der Präsident der Straße - für seine Überzeugung hatte er sogar im Gefängnis gesessen. Wade ist erst der dritte Präsident des Senegals, und die Machtfolge lief bisher immer erstaunlich demokratisch. Der Staatsgründer Leopold Senghor trat 1980 aus Altersgründen zurück, ihm folgte Abdou Diouf - und der übergab den Stab vor zwölf Jahren an Abdoulaye Wade. An den Mann, der sich selbst einmal auf zwei Amtszeiten beschränken wollte.

    "Der Senegal war einmal ein leuchtendes Beispiel für die blühende Demokratie in Westafrika - die demokratische Tradition hat schon vor der Unabhängigkeit vor mehr als 50 Jahren begonnen. Auch Wades Vorgänger Diouf hat im Jahr 2000 seine Niederlage gegen Wade akzeptiert, seitdem glaubten wir, wir hätten das Niveau einer fortgeschrittenen afrikanischen Demokratie erreicht. Aber seitdem zerstört Präsident Wade unseren Staat durch seinen Regierungsstil, und vor allem durch seine vielen, vielen Verfassungsänderungen zu seinen Gunsten. Dieses ganze Kandidatenproblem hätte sich überhaupt nicht stellen dürfen. Nun hat unsere Demokratie tiefe Risse bekommen."

    Wade stand einmal für alles, was man auf Wolof "Sopi" nennt - den Wandel seines Landes. Damals war er für viele Menschen "le bâtisseur" - der Erbauer, der Mann, der den Senegal nach vorne bringen würde. Heute ist er für die meisten nur noch der "Gorgui" - der starrsinnige Alte, der selbst gekrönte Monarch, der verschwinden soll.

    Daouda Sarr sitzt auf einem Schemel auf dem Bürgersteig in der heruntergekommenen Medina von Dakar. Nebenan ist ein Abwasserrohr geplatzt. Es stinkt beißend nach Urin und Fäkalien. Kinder spielen auf der Straße. Daouda Sarr schlägt die Zeit tot. Er war einmal Elektriker, aber einen Job hat er schon lange nicht mehr. Damals hatte er noch für Wade gestimmt - inzwischen ist er von seinem Präsidenten tief enttäuscht.

    "Wade hat ja einiges für das Land getan, aber mit ihm kamen auch die Skandale. Seine Leute bedienen sich an den Staatskassen; die Korruption blüht, viele Menschen sind arbeitslos, Bildung und Gesundheitswesen liegen am Boden. Wade hat seine Zeit gehabt, jetzt wollen wir, dass er verschwindet, vielleicht kann jemand anders es besser."

    Noch immer leben rund die Hälfte der knapp 13 Millionen Senegalesen unterhalb der Armutsgrenze. Die Universitäten sind überfüllt, die Professoren streiken, 60 Prozent der Bevölkerung können weder lesen noch schreiben. Stromausfälle gehören noch immer zum Alltag, die Rebellion in der südlichen Provinz Casamance schwelt weiter, noch immer flüchten verzweifelte junge Menschen in Booten über den Atlantik nach Europa. Wegen all dieser Probleme hat Daouda Sarr so viel übrig für die jugendlichen Demonstranten. Die neuen Wutbürger des Senegals, die gegen Wade auf die Straße gehen. Sie seien, sagt Daouda Sarr martialisch, die Speerspitzen einer betrogenen Nation.

    "Wir haben es mit einem alten Banditen zu tun, und der wird dann beginnen zu zittern, wenn Blut fließt. Dann wird er das Weite suchen. Das ist der Moment, wo Abdoulaye Wade das gleiche Schicksal ereilen wird wie Ben Ali und Mubarak. Wir müssen es unblutig versuchen, wir müssen ihn aus dem Amt wählen. Die Gewalt macht vor niemandem Halt. Erst recht nicht vor denen, die jeden Tag im Tränengas stehen. Ich hoffe, dass der Präsident uns das Blutvergießen erspart."

    Die Proteste gehen weiter. Trotz Demonstrationsverbot. Die Oppositionsbewegung des 23. Juni, kurz M23, versucht, über SMS, Facebook und Twitter die Bürger zu mobilisieren. M23 hatte sich im Juni 2011 gegründet. Damals hatte Präsident Wade versucht, eine tief greifende Verfassungsänderung durchzupeitschen. Doch in der Bevölkerung war der Aufschrei zu groß. Wade wollte sich künftig mit nur 25 Prozent der Stimmen wiederwählen lassen - und stillschweigend das Amt des Vizepräsidenten einrichten. Im Senegal zweifelt niemand daran, dass dieser Vizepräsident dann Karim Wade geheißen hätte. Schon jetzt leitet Abdoulaye Wades Sohn vier wichtige Ministerien. Einer von vielen Gründen, Sturm zu laufen. Koordinator Alioune Tine, Koordinator der Oppositionsbewegung des 23. Juni:

    "Wir fühlen uns den Demokraten des Arabischen Frühlings sehr nah, es gibt viele Gemeinsamkeiten. Die Ägypter haben Mubarak verjagt, in Tunesien ist Ben Alis Polizeistaat zusammengebrochen. Und im Senegal versucht Wade so zu agieren wie Omar Bongo in Gabun oder Eyadema in Togo - beide haben ihre Söhne zu Nachfolgern gemacht, genau das hat Wade mit seinem Sohn Karim auch vor. Aber das werden wir ihm nicht durchgehen lassen. Der Senegal ist nicht Gabun und ist auch nicht Togo. Wir werden den Unabhängigkeitsplatz von Dakar zu unserem Tahrir-Platz machen - und irgendwann wird man uns von diesem Platz nicht mehr verjagen."

    Alioune Tine kämpft, wie er sagt, für die zweite Unabhängigkeit des Senegals. Müde und unrasiert sitzt er auf der Bettkante seines Hotelzimmers in Dakar. Der Ort muss geheim bleiben, zu Hause ist es zu gefährlich. Wie viele andere Aktivisten und Journalisten wird auch Alioune Tine überwacht, ständig muss er seine Handynummer wechseln. Überall wittert er Spione des Präsidenten. Der Senegal sei keine Diktatur, sagt Alioune Tine - noch nicht. Noch gelte die Presse- und Versammlungsfreiheit. Zumindest auf dem Papier.

    "Wenn man sich die Demos anschaut, dann sieht man viel mehr Polizei als Demonstranten. Als wären wir im Krieg. Das ist alles ein fürchterlicher Rückschritt für dieses Land. Dabei ist diese Revolution friedlich. Das muss man sich mal vorstellen: Wir hatten vor, eine bunte Wahlparade abzuhalten, eine Kundgebung, mit Musik und ein paar Reden. Aber das alles ist uns verboten worden. Stattdessen beschießt uns die Polizei mit Tränengas. Das ist schlimm. Sehr schlimm."

    M23 versteht sich als Bürgerbewegung - und als Sammelbecken der 13 Kandidaten, die gegen Abdoulaye Wade antreten. Darunter sind auch politische Schwergewichte wie Idrissa Seck, Mustapha Niasse und Macky Sall - allesamt frühere Premierminister unter Wade, die sich von ihrem einstigen Gönner abgewandt haben. Sie nutzen die Mobilisierungskraft der Oppositionsbewegung - Wahlkampf macht aber jeder für sich allein. Dennoch: Die Kandidaten seien sich einig im großen Ziel, Abdoulaye Wades dritte Amtszeit zu verhindern, versichert Seydou Gueye, Sprecher des Kandidaten Macky Sall. Er ist überzeugt, dass die Wähler die Stimmzettel für Wade in den Müll werfen werden. Der Präsident habe keine Mehrheit mehr im Senegal.

    "Abdoulaye Wade kann kein Kandidat sein - seine Kandidatur ist verfassungswidrig. Da der Verfassungsrat ihm nun dennoch recht gibt, ist das Volk gefragt. Das senegalesische Volk muss Wade aus dem Amt fegen - und zwar an der Wahlurne. Nur so können wir auf friedlichem Weg unsere Demokratie retten, die dieser Präsident dermaßen beschädigt hat."

    Im Lager des Präsidenten ist man dagegen siegessicher. Mit sehr viel Geld tourt Abdoulaye Wade durchs Land. Überall sieht Wahlkampfsprecher Amadou Sall fröhliche Menschen, die ihrem Staatschef zujubeln. Er verschweigt, dass in der Provinz auch Steine auf den Präsidentenkonvoi geflogen sind. Amadou Sall glaubt an einen deutlichen Sieg Wades mit über 50 Prozent der Stimmen im ersten Wahlgang. Einen Zweiten wird es nicht geben. Vehement widerspricht Sall den Befürchtungen, bei der Wahl werde möglicherweise massiv betrogen - und dann macht er seine Auffassung von wehrhafter Demokratie glasklar.

    "Bei dieser Wahl ist Betrug ausgeschlossen. Es gibt internationale und nationale Wahlbeobachter, die Presse ist da - was wollen Sie noch? Ich sag‘ Ihnen was, und zwar klar und deutlich: Wenn das Volk als Souverän für Präsident Wade stimmt, dann kann und wird es keine Diktatur der Minderheit geben. Wenn diese Minderheit gegen das Ergebnis protestiert, dann wird der Staat sein Gewaltmonopol ausschöpfen. Der Staat wird dann legitime Gewalt anwenden, um die Dinge zu regeln. Denn so läuft das in einer Demokratie."

    Diese Minderheit sieht sich jedoch als klare Mehrheit. Und sie schert sich nicht um die Drohungen der Regierung. Sie kämpft um ihre Zukunft. Sie schreit dem alten Präsidenten ihr "Nadem" entgegen, was auf Wolof soviel heißt wie: Er möge endlich verschwinden. Und sie skandieren noch etwas: Y en a marre, Wir haben die Nase voll. Das Credo der gleichnamigen Gruppe von jungen Rappern, die längst zu Senegals Occupy-Bewegung geworden ist.

    "Es geht um meine Verfassung, wenn ich sie nicht verteidige, wer denn sonst? Ich werde bleiben, bis wir unser Ziel erreicht haben. Ich bin jung, und meine Generation hat genug davon, dass auf ihr herumgetrampelt wird, sie hat genug von der Diktatur - darum bin ich hier. Wir haben die Nase voll! Dieses Land gehört nicht Abdoulaye Wade, sondern dem Volk. Es gehört uns, der Jugend, denn wir sind die Zukunft. Wir müssen sehen, wer das Land führen kann. Auf jeden Fall nicht Abdoulaye Wade und seine Familie, wir haben genug von ihm!"

    In Dakar vergeht kein Tag ohne Festnahmen, ohne Verletzte. Kein Tag ohne Barrikaden, brennende Autoreifen, fliegende Steine und Tränengas. Die jungen Senegalesen lassen sich nichts mehr gefallen. "Y en a marre" - es reicht. Die Bewegung wurde im Januar 2011 gegründet, nur vier Tage nach dem Beginn der Jasmin-Revolution in Tunesien. Auch im Senegal riskieren die Aktivisten viel - sie bekommen Morddrohungen, werden wegen Landfriedensbruch angeklagt und von der Polizei verprügelt. Aber davor haben die Mitglieder von Y en a marre keine Angst mehr. Koordinator Fadel Barro:

    "Die Bewegung Y en a marre wurde gegründet, weil wir ganz einfach genug haben. Genug von den vielen Stromausfällen, genug von den hohen Preisen für Lebensmittel, genug von den Überschwemmungen, die durch die kaputten Kanalsysteme verursacht werden, genug von der Korruption, genug von der Straflosigkeit, genug von einem Präsidenten, der für seine Präsidentenmaschine und eine zweifelhafte Statue Milliarden Franc ausgibt, während das Volk in den Überschwemmungen absäuft. Genug von einem Land, in dem wir alle bisher die Hände in den Schoß gelegt haben. Wir haben genug davon, uns dem Schicksal zu ergeben. Wir engagieren uns, damit dieses Land anders geführt wird, als bisher."

    Der Slogan bahnt sich seinen Weg durch eine Gesellschaft, in der mehr als die Hälfte unter 30 Jahre alt sind. Yen a marre bringt Wutbürger zusammen, sucht nach neuem politischen Bewusstsein. In der Charta der Gruppe steht viel über den NTS, den neuen Typus des Senegalesen. Ein gutes Zeichen für den Senegal von morgen, lobt der Politikwissenschaftler Abdourahmane Thiam. Doch der Senegal von heute muss erst einmal Wahlen abhalten - in sehr schwierigen, in gefährlichen Zeiten.

    "Man könnte tatsächlich von einem afrikanischen oder einem senegalesischen Frühling sprechen, man könnte auch den Vergleich zu Laurent Gbagbo ziehen, dem Ex-Präsidenten der Elfenbeinküste. Auch er hatte sich an die Macht geklammert, und wir kennen das dramatische Ende dieser Geschichte. Was mir hier im Senegal Sorgen macht, ist die Gewalt, mit der die Sicherheitskräfte gegen die Demonstranten vorgehen. Es wird sehr wichtig sein, dass diese Wahl friedlich verläuft und dass es keinen Grund gibt, sie anzufechten."

    Die EU-Wahlbeobachter kritisieren mangelnde Transparenz, die Westafrikanische Staatengemeinschaft, die USA und auch der deutsche Außenminister warnen vor einer Eskalation der Gewalt. Vor einem Schritt, der den einst so friedlichen Senegal für immer verändern könnte. Alioune Tine, von der Oppositionsbewegung des 23. Juni:

    "In dieser Phase, in der der Wahlprozess dermaßen umstritten ist, in der es keinen Konsens mehr gibt, kann es eigentlich keine Wahlen geben. Wenn das so weitergeht, fährt der Senegal gegen die Wand. Noch ist dieses Land eines der wenigen Bollwerke der Stabilität in der Region - abgesehen von dem Konflikt in der Casamance. Es ist Zeit, dass die Afrikanische Union ihre Vogel-Strauß-Politik aufgibt und handelt. Abdoulaye Wade muss zum Rücktritt gezwungen werden, denn wenn der Senegal jetzt wählt und Wade dann zum Sieger erklärt wird, dann herrschen hier bald Verhältnisse wie an der Elfenbeinküste oder im Niger. Dann stehen wir möglicherweise vor einem Militärputsch."

    Vor weiterer Gewalt fürchtet sich auch Matador, einer der wichtigsten Musiker der Yen a marre-Bewegung. Sein Song "Sama Senegal - Mein Senegal" ist zum Fanal geworden. Das Wort, sagt Matador, sei jetzt noch die einzige wirksame Waffe im Kampf für die Freiheit.

    "Ich erzähle von den Werten, die dieses Land geprägt haben, und dass ich den Senegal heute nicht mehr wiedererkenne. Ein Land, das brennt, ein Land, in dem Blut fließt. Ich vergleiche den Senegal mit einer Piroge und frage: Wer ist bloß der Kapitän auf diesem Boot? Wie kann dieser Kapitän die öffentliche Meinung kaufen, wie kann er auf sein Volk schießen lassen, wie kann er durch ein Meer aus Blut rudern, um sich dann auf seinen Thron zu setzen? Wenn wir nicht aufpassen, wird diese Piroge kentern und sinken. Und dann wird es zu spät sein."