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"Es war ein längst überfälliger Schritt"

Die gemäßigte Palästinenser-Partei von Mahmud Abbas wählte rund zwei Drittel neue Politiker in das Zentralkomitee - und leitete damit "einen längst überfälligen Schritt" ein, wie Nahost-Experte Michael Lüders meint.

Michael Lüders im Gespräch mit Sandra Schulz | 11.08.2009
    Sandra Schulz: Um mehrere Tage war diese Wahl verschoben worden. Mangelnde Entschlussfreudigkeit kann man nach dem, was sich abzeichnet, den rund 2.500 Delegierten der Fatah aber trotzdem nicht vorwerfen. Die gemäßigte Palästinenser-Partei von Mahmud Abbas wählte rund zwei Drittel neue Politiker in das Zentralkomitee. Am Vormittag ist der erste Parteitag seit 20 Jahren zu Ende gegangen.
    Telefonisch ist mir jetzt der Publizist und Nahost-Experte Michael Lüders zugeschaltet. Guten Tag!

    Michael Lüders: Schönen guten Tag, Frau Schulz.

    Schulz: Steht die Fatah tatsächlich an einem Wendepunkt?

    Lüders: Auf jeden Fall hat sie versucht, sich zu erneuern, und an Haupt und Gliedern wirklich versucht, einen neuen Kurs einzuschlagen. Das ist bemerkenswert. Es war allerdings auch ein längst überfälliger Schritt, denn die Fatah ist mental wie auch politisch immer noch gefangen gewesen in der Ära von Jassir Arafat. Eine Zäsur ist hier in der Tat erfolgt. Die Frage ist nur, ob das ganze Experiment politisch auch trägt, denn die Fatah hat das große Dilemma, dass sie zwar gemäßigt auftritt, dass sie kompromissbereit ist mit Israel fast bis zur Selbstverleugnung, aber im Gegenzug nichts erhalten hat von der israelischen Seite, schon gar nicht einen Fahrplan für die Gründung eines lebensfähigen palästinensischen Staates.

    Schulz: Ein neuer Kurs, sagen Sie. In welche Richtung geht der denn?

    Lüders: Dieser neue Kurs wird versuchen, an den Verhandlungs- und Friedenslösungen mit Israel und den westlichen Staaten anzuknüpfen, ungeachtet der Tatsache, dass die Fatah auch in ihr Programm geschrieben hat, dass man sich alle Optionen offen halte, auch den bewaffneten Kampf gegen Israel, und zwar im Rahmen des Völkerrechts gewährt er Widerstand gegen die militärische Besatzung. Dazu wird es nicht kommen, aber dies ist doch ein ernst gemeinter Hinweis der Fatah an die israelische Seite, dass man nicht ewig bereit sein wird, ohne Gegenleistung mit der israelischen Seite zu verhandeln. Die Fatah braucht Ergebnisse, die sie den Palästinensern als eigenen Erfolg verkaufen kann. Andernfalls läuft die Fatah Gefahr, auch im Westjordanland von der Hamas politisch überflügelt zu werden. Aus genau diesem Grund hat Mahmud Abbas, dessen Amtszeit als Präsident schon im Februar dieses Jahres abgelaufen ist, bislang nicht den Mut gefunden, zu Neuwahlen aufzurufen - aus Sorge, dass dann die Hamas wie erwähnt die stärkste Fraktion werden könnte.

    Schulz: Ist denn aber wirklich so klar, worum es Abbas tatsächlich geht - darum, seine Rolle zu stärken, oder wirklich um eine Reform?

    Lüders: Es ist der Versuch, beides miteinander zu vereinen. Reformerisch sind insbesondere die Versuche zu nennen, die verschiedenen Kräfte innerhalb der Fatah zu bündeln und politisch einzubinden. Die Fatah ist ja keine Partei wie, wenn ich so sagen darf, in Deutschland CDU oder SPD, sondern eine Massenbewegung - als solche versteht sie sich -, die verschiedene Gruppierungen und Interessen lose bündelt und zusammenführt zu einer politischen Plattform, und da gilt es immer wieder Kompromisse zu machen. Mahmud Abbas, der Präsident, hat allerdings bislang kein sonderliches Profil von sich selbst zeichnen können. Er gilt als zu kompromissbereit aus Sicht vieler Palästinenser. Eine wirkliche Statur wie sein Amtsvorgänger, der Begründer von PLO und Fatah, Jassir Arafat, hat er nie gewinnen können. Nichtsdestotrotz: Mahmud Abbas ist jetzt der stärkste Mann auf palästinensischer Ebene, er ist der Chef der PLO, der Fatah und der palästinensischen Autonomiebehörde.

    Schulz: Drei Mitglieder der alten Garde sind jetzt immer noch im Zentralkomitee, konnten da ihren Sitz verteidigen. Können die sich auch einen Resteinfluss noch sichern?

    Lüders: Auf jeden Fall. Politik unter den Palästinensern wie in der arabischen Welt insgesamt ist sehr stark patriarchalisch geprägt. Es ist meistens ein Netzwerk von überwiegend älteren Herrschaften, die im Hintergrund die Fäden ziehen. Das ist nicht anders auf palästinensischer Seite. Es hat natürlich einen enormen Aderlass der alten Garde gegeben, es sind viele neue politische Köpfe nachgerückt, aber das ist vielfach eine Fassade. Die eigentlichen Machtzentren, sie sind nicht so sehr mit offiziellen Funktionen vergeben, sondern hinter den Kulissen wird da gekungelt, werden Deals gemacht, und ein ganz großes Problem der Fatah ist natürlich der Vorwurf der Vetternwirtschaft, der Korruption. Beides zusammen hat der Fatah in der Vergangenheit viele Sympathien gekostet und ist mit ein Grund dafür, warum die Hamas im Gaza-Streifen, aber auch im Westjordanland eine so starke Kraft geworden ist.

    Schulz: Kann sich die Fatah von diesen Vorwürfen denn jetzt frei machen?

    Lüders: Das kann sie sicherlich, wenn sie ernsthaft bemüht ist, der Korruption ein Ende zu bereiten. Das bedarf dann eines politischen Neuanfanges, einer wirklichen Reinigung, einer Neuorientierung, weg von einer Pfründen-Mentalität, wie sie in der Vergangenheit häufig zu beobachten gewesen ist. Viel entscheidender ist allerdings die Frage, ob die Europäer und die USA bereit sind, die Fatah insoweit zu unterstützen, als ihre in der Sache berechtigte Forderung nach der Gründung eines palästinensischen Staates Gewicht verliehen wird. Die Regierung Obama und zum Teil auch die Europäer haben begonnen, die israelische Regierung unter Benjamin Netanjahu in die Pflicht zu nehmen, auf dass es Fortschritte im Friedensprozess gebe, aber bislang hat es noch nicht einmal eine Begegnung zwischen Netanjahu einerseits und Abbas andererseits gegeben. Der sogenannte Friedensprozess, er besteht eigentlich nur auf dem Papier, während die israelischen Siedlungen weiter ausgebaut werden. Die etwa 400.000 israelischen Siedler im Westjordanland und in Ost-Jerusalem kontrollieren mittlerweile 50 Prozent dieses Westjordanlandes und 80 Prozent der dortigen Wasserreserven. Es bleibt wenig Luft für einen palästinensischen Staat.

    Schulz: Und in dem Zusammenhang, wenn wir da schauen auf neue Namen wie Dahlan oder Barghouti - das haben wir auch gerade gehört -, die stehen jetzt auch nicht gerade als Integrationsfiguren im Nahost-Konflikt. Was für Konsequenzen hat das denn?

    Lüders: Beide Persönlichkeiten, Dahlan wie auch Barghouti, musste Abbas aufnehmen in sein Führungsteam. Wahrscheinlich hat er es mit tiefem Gräuel getan, auch wenn die Beziehungen gerade zu Dahlan sehr eng sind, aber Dahlan ist ein Geheimdienstmann, der mit äußerster Brutalität innerpalästinensische Opposition in der Vergangenheit immer wieder kujoniert hat. Er ist eine regelrechte Hassfigur für viele Palästinenser vor allem im Gaza-Streifen geworden und für die Hamas ist er der Feind schlechthin. Aber er ist sehr mächtig, er verfügt eben über die Kontrolle der Geheimdienste und über sehr gute Beziehungen zu den Amerikanern, die ihn in seiner Geheimdiensttätigkeit maßgeblich ausgebildet haben. Marwan Barghouti wiederum, er ist einer der populärsten palästinensischen Politiker überhaupt. Würde es freie Wahlen geben, in der Frage, wer würde palästinensischer Präsident werden, würde Marwan Barghouti wahrscheinlich Mahmud Abbas den Rang ablaufen, aber er kann nicht kandidieren, denn er sitzt in Israel im Gefängnis.

    Schulz: Und welche Rolle - das wollte ich auch gerade ansprechen -, da er ja in Haft sitzt, kann er überhaupt spielen in diesem Zentralkomitee?

    Lüders: Marwan Barghouti inszeniert sich selber als ein Nelson Mandela. Er glaubt, aus dem Gefängnis heraus die Weichen stellen zu können für einen Neuanfang auf palästinensischer Ebene. Er ist ein sehr charismatischer Politiker, der großen Einfluss hat, weil er als glaubwürdig gilt - nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass er in Israel im Gefängnis sitzt.

    Schulz: Wenn wir auf die Situation jetzt insgesamt blicken - die Fatah steht vor einer Trendwende oder hat sie auch vielleicht gerade vollzogen -, was heißt das jetzt insgesamt für den Nahost-Konflikt?

    Lüders: Nüchtern gesehen muss man im Grunde genommen sagen, so ehrenwert der Versuch der Fatah ist, sich an Haupt und Gliedern zu reformieren, er ist für den weiteren Verlauf dieses Friedensprozesses relativ irrelevant, denn man muss sich vor Augen halten: der eigentliche Schlüssel für eine Konfliktlösung liegt auf Seiten der Amerikaner. Nur sie können die israelische Seite, ihren engsten Verbündeten in der Region, dazu bewegen, Zugeständnisse zu machen und vor allem die Siedlungspolitik zu beenden. Barack Obama unternimmt genau diesen Versuch gegenwärtig und die israelische Regierung steht mit dem Rücken zur Wand. Sie merkt, dass der Druck auf sie zunimmt, dass sie diesen Druck auch nicht länger ignorieren kann. Aber wahrscheinlich wird man in Israel versuchen, diesen Druck auszusitzen und zu verweisen auf die iranische Gefahr. Ob sich wirklich etwas bewegt im Nahen Osten, bleibt abzuwarten. Tatsache ist, dass Benjamin Netanjahu, selbst wenn er wollte, den Palästinensern keine Zugeständnisse machen könnte, weil dann seine Regierungskoalition sofort auseinanderbrechen würde, die sehr stark von der Siedlerlobby dominiert ist.

    Schulz: Aber ist es denn überhaupt für Israel eine realistische Option, das auszusitzen?

    Lüders: Nein, das ist es ganz sicherlich nicht, denn die demografische Entwicklung verläuft zu Ungunsten Israels. Es gibt heute schon mehr Palästinenser zwischen Mittelmeer und Jordanfluss als jüdische Israelis und es gibt nicht wenige Israelis, die sich besorgt die Frage stellen, ob Israel nicht in Richtung einer Apartheidpolitik sich bewegt, wenn man weiterhin als Minderheit eine Mehrheit zu kontrollieren beabsichtigt. Es gibt eigentlich keine vernünftige Lösung, als sich zu trennen von den Palästinensern und die Gründung eines solchen Staates zuzulassen. Dagegen spricht aber Ideologie, denn aus Sicht der Ultrarechten in Israel ist das Westjordanland, ist Judäa und Samaria biblisch verheißenes Land, das man niemals aufgeben kann.

    Schulz: Das waren Einschätzungen von Michael Lüders, er ist Publizist und Nahost-Experte und wir waren heute im Gespräch mit ihm in den "Informationen am Mittag". Danke schön!