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Eskalation im Internetzensur-Konflikt in der Türkei

In der Türkei wird es immer schwieriger, mit dem Internet zu recherchieren, zu lernen oder zu arbeiten. Seit Anfang des Monats sind sogar einige Dienste der globalen Suchmaschine Google für türkische Nutzer nicht mehr zu erreichen.

Von Susanne Güsten | 29.06.2010
    Vorlesung an einem Institut in Istanbul; der Professor verweist auf Quellen im Internet:

    "Sehen Sie sich das mal an, gehen Sie zu Google, wenn das gerade geht, oder - was weiß ich, wie man dieser Tage noch ran kommt..."

    Die Studenten lachen gequält, denn sie alle schlagen sich täglich mit dem Problem herum: In der Türkei wird es immer schwieriger, mit dem Internet zu recherchieren, zu lernen oder zu arbeiten. Seit Anfang des Monats sind sogar einige Dienste der globalen Suchmaschine Google für türkische Nutzer nicht mehr zu erreichen. Eine neue Eskalationsstufe im Konflikt um die Sperrung des Videoportals YouTube, wie der Rechtswissenschaftler Yaman Akdeniz von der Istanbuler Biligi-Universität erklärt – denn um YouTube lückenlos zu sperren, blockiert der türkische Staat inzwischen reihenweise Internet-Protokoll-Adressen der YouTube-Eigentümerin Google:

    "Weil IP-Adressen nicht statisch sind wie Telefonnummern, ist es jeden Tag wie ein Lottospiel oder eher wie ein Minenfeld, welche Google-Dienste erreichbar sind und welche nicht. Diese Woche funktioniert Google Earth nicht, letzte Woche war es Google Maps, davor waren es Google Analytics, Google Apps und Docs. Das ist eine Ausweitung der YouTube-Sperrung, mit der völlig maßlos alles mögliche gesperrt wird."

    Im Alltag werden davon nicht nur Studenten behindert. Wenn Google Maps ausfällt, funktionieren die Satellitennavigations-Systeme nicht mehr, mit denen Schulbusse in der Megastadt Istanbul geortet oder Lastwagen auf ihrem Weg durch die Türkei verfolgt werden; auf den Webseiten von Firmen und Institutionen erscheinen statt Anfahrtsskizzen nur noch graue Flecken. Den Statistik-Dienst Google Analytics brauchen viele Firmen, und der Ausfall von Google Docs und Google Apps behindert Schulen ebenso wie Unternehmen. Leidtragend ist also die türkische Bevölkerung. Telekommunikationsminister Binali Yildirim glaubt dennoch, Google und YouTube damit zur Unterwerfung unter türkische Zensoren zwingen zu können.

    "Wie groß diese Firma auch sein mag, in wie vielen Ländern sie tätig ist, das ist uns egal: Sie muss unsere Gesetze achten wie jeder türkische Staatsbürger auch. In vielen Ländern hat dieses Videoportal lokale Versionen, bei denen die Gesetze des jeweiligen Landes eingehalten werden. Wir wollen das auch."

    Ein YouTube à la turca wünscht sich der Minister, ein Videoportal ohne Atatürk-Schmähungen, ohne kurdischen Nationalismus und ohne linke Kritik. Sein Vergleich mit den örtlichen YouTube-Versionen anderer Länder hinkt aber, meint Jurist Akdeniz:

    "Nach den Abkommen, die Google in diesen Ländern geschlossen hat, werden dort tatsächlich bestimmte Videos entfernt - in Deutschland zum Beispiel Neonazi-Propagandavideos. Nur ist es so, dass diese Videos nur aus der deutschen Version entfernt werden, nicht aus dem globalen YouTube, sie werden nur für deutsche Nutzer gesperrt und bleiben anderswo sichtbar. Was unser Minister hier für die Türkei fordert, ist etwas anderes: Er will, dass YouTube alle von der Türkei beanstandeten Videos sowohl aus der türkischen als auch aus dem globalen YouTube entfernt."

    In einer Beschwerde gegen das YouTube-Verbot hat Akdeniz vor Gericht nachgewiesen, dass YouTube die von der türkischen Justiz beanstandeten Videos längst für türkische Nutzer gesperrt hat. Dem Gericht genügte das nicht: Erst wenn die Atatürk-Schmähungen von keinem Ort der Welt mehr zugänglich seien, werde das YouTube-Verbot in der Türkei aufgehoben, urteilten die Richter jetzt und wiesen die Beschwerde zurück. Der türkische Rechtsweg ist damit ausgeschöpft. Im Auftrag von 37 zivilgesellschaftlichen und zensurkritischen Vereinigungen bereitet Akdeniz jetzt eine Klage am Europäischen Gerichtshof für Menschrenrechte vor. Dass Minister Yildirim die Zensurkritiker dafür im Parlament als unpatriotisch angriff, ficht den Juristen nicht an:

    "Wir treten nicht für Google oder YouTube ein, sondern für unsere Grundrechte und Freiheiten. Heute sind es Google und YouTube, morgen werden es Facebook und Twitter sein oder sonstige Dienste. Das Problem ist die Zensur in der Türkei, die Zensur- und Verbotsmentalität dieses Landes - dagegen kämpfen wir."