Freitag, 19. April 2024

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Eskalation im Mittleren Osten
Bundesregierung "muss sich von den USA wirklich distanzieren"

Die Bundeswehr sollte sich aus der Anti-IS-Koalition zurückziehen, sagte der Linken-Politiker Alexander Neu im Dlf. Europa müsse im Iran und Irak eine eigenständige Außen- und Sicherheitspolitik verfolgen und sollte sich nicht bedingungslos hinter die USA stellen - die hätten in der Region Chaos ausgelöst.

Alexander Neu im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann | 07.01.2020
16.05.2018, Berlin: Alexander Neu (Die Linke) spricht bei der Plenarsitzung des Deutschen Bundestages im Reichstagsgebäude. Hauptthemen der 32. Sitzung der 19. Legislaturperiode sind der Bundeshaushalt 2018, die Finanzplanung des Bundes für die Jahre 2017 bis 2021 sowie einzelne Ressort-Etats. Foto: Kay Nietfeld/dpa | Verwendung weltweit
Sieht im Mittleren Osten einen geopolitischen Machtkonflikt: Linken-Politiker Alexander Neu (picture alliance / dpa / Kay Nietfeld)
Dirk-Oliver Heckmann: Mitgehört hat Alexander Neu von der Partei Die Linke. Er ist Obmann seiner Partei im Verteidigungsausschuss. Schönen guten Tag!
Alexander Neu: Ja, schönen guten Tag.
Heckmann: Herr Neu, die Bundesregierung verlegt einen Teil der deutschen Soldaten nach Kuwait und nach Jordanien. Diesen Schritt müssten Sie eigentlich begrüßen, denn Sie sind ja sowieso ohnehin gegen diese Militärmission?
Neu: Ja, Sie haben es gesagt: Wir sind generell gegen diese Mission. Wir haben von Anfang an dagegen opponiert. Dieser Schritt, der jetzt diese Nacht angekündigt wurde und auch durchgezogen wurde, kann natürlich nur ein erster Schritt sein. Wir fordern den kompletten Abzug der Bundeswehr aus der Region, den Rückzug aus dieser sogenannten Anti-IS-Koalition.
Man ist dabei "auf die irakische Regierung Druck auszuüben"
Heckmann: Was halten Sie denn davon, dass das jetzt nicht erfolgt ist, sondern dass die deutschen Soldaten, die im Kurden-Gebiet im Norden stationiert sind und dort kurdische Kräfte ausbilden, bisher nicht abgezogen wurden?
Neu: Na ja. Auch der Kollege Kiesewetter hat gerade deutlich gemacht, dass man sie aus Sicherheitsgründen aus Bagdad und Tadschi abgezogen hat, nicht auf der Grundlage der Resolution des irakischen Parlaments. Das heißt, es wird nach wie vor diese Resolution ignoriert, zumindest mit Blick auf Erbil, wo auch deutsche Soldaten stationiert sind und auch erst mal dort bleiben. Das heißt, die Resolution des irakischen Parlaments, auch wenn es noch nicht verbindlich ist, geht offensichtlich an der Bundeswehr beziehungsweise an der Bundesregierung vorbei.
Heckmann: Sie sagen es: Diese Resolution ist rechtlich nicht bindend. Vorher muss noch die Regierung entscheiden und da liegt noch keine Entscheidung vor.
Neu: Das ist richtig. Aber dass ein Parlament so eine Entscheidung fällt, ist ja schon mal ein starkes politisches Zeichen. Ich gehe auch davon aus, dass die Regierung im Irak (letztendlich war ja der Ministerpräsident des Iraks derjenige, der das angeregt hat, diese Resolution) auch versuchen wird, das umzusetzen. Was wir aber auch sehen – und das wird auch deutlich aus den verschiedenen Statements der Regierung und auch von Kiesewetter -, dass man gerade dabei ist, auf die irakische Regierung einzuwirken, sprich Druck auszuüben, dass sie das noch mal überdenkt. Das kommt ja aus allen Poren hervor, dass man Druck ausüben will.
CDU-Obmann im Auswärtigen Ausschuss des Bundestags Roderich Kiesewetter
Golf-Region:"Die Amerikaner haben einen Riesenfehler gemacht"
Die Tötung von Qasem Soleimani durch die USA könne verheerende Folgen für die Stabilität der gesamten Region haben, warnte der CDU-Außenpolitiker Roderich Kiesewetter im Dlf.
Heckmann: Man scheint, die Sicherheitslage in und um Bagdad anders einzuschätzen als im Norden des Landes. Deswegen dürfen die deutschen Soldaten dort erst mal bleiben. Was halten Sie von dieser Einschätzung der Lage?
Neu: Ich glaube, was die Lageeinschätzung anbetrifft, ist es richtig, dass in der Region Erbil, wo die Kurden dominieren, die Lage ruhiger ist, stabiler ist als in Bagdad beziehungsweise im Zentralirak. Das ist ganz definitiv der Fall.
"Wir sehen hier einen geopolitischen Raumkonflikt"
Heckmann: Die Bundesregierung spricht jetzt von einer vorläufigen Verlegung. Die Soldaten und Soldatinnen könnten jederzeit wieder zurückgebracht werden, wenn die Mission denn auf Wunsch der Regierung fortgesetzt werden soll. Denken Sie dennoch, dass das der Anfang des Endes der Ausbildungsmission im Irak ist?
Neu: Das ist momentan wirklich spekulativ. Es bleibt abzuwarten, was die irakische Regierung letztendlich entscheidet, wie groß der Druck ist und der erpresserische Druck - wir haben es ja auch seitens der US-Regierung gehört, dass man mit Sanktionen droht etc. -, ob die irakische Regierung sich wirklich traut, das zu machen, gegen den dezidierten Willen der Amerikaner und der Europäer. Wenn sie es tun, dann ist es gut. Das begrüßen wir. Ich teile nicht die Auffassung, die von vielen hier in Berlin geteilt wird, oder auch in Paris, dass ein Machtvakuum entsteht und dass ein Chaos da ist. Das Chaos haben wir ja schon. Das kommt nicht erst. Das Chaos haben wir, ausgelöst durch die Vereinigten Staaten, nicht zuletzt mit diesem Angriff auf den General.
Heckmann: Das ist ein gutes Stichwort, was Sie jetzt liefern. Darauf wollte ich jetzt auch zu sprechen kommen. Denn die internationale Gemeinschaft war ja nicht wegen irgendwelcher Erpressungsaktionen vor Ort, sondern auf Einladung der irakischen Regierung war sie im Land, um Sicherheitskräfte im Kampf gegen Terroristen und auch in medizinischer Hinsicht zum Beispiel auszubilden und zu schulen. Wenn jetzt diese Mission beendet würde, dann würde das dem Iran Tür und Tor öffnen, sagen viele Experten. Wäre das denn hilfreich aus Ihrer Sicht?
Neu: Was heißt hilfreich. Es geht ja ganz knallhart um einen geopolitischen Konflikt. Der Westen möchte Einfluss haben in der Region. Auch Europa möchte Einfluss haben in der Region. Dieser Einfluss ist im Konkurrenzverhältnis zu Iran, Russland und China in der Region. Wir sehen hier einen geopolitischen Raumkonflikt, um es mal so auszudrücken, und es wird die ganze Zeit immer gegen den Iran diffamiert, dass der Iran Interessen in der Region hat, aber der Westen hat genauso Interessen in der Region und verfolgt diese Interessen auch mit militärischen Mitteln. Ich sehe da keinen Unterschied.
Heckmann: Ist es nicht legitim, das Interesse zu vertreten, dass Stabilität in der Region herrscht?
Neu: Ich denke mal, dass die iranische Regierung das genauso sieht, dass es legitim ist für den Iran, in der Region Stabilität zu projizieren - auf ihre Weise.
Heckmann: Auf ihre Weise, sagen Sie. Das heißt, es kommt ein bisschen auf die Mittel an?
Neu: Na ja. Die westlichen Mittel sind ja nicht besser. Auch wir setzen militärische Maßnahmen ein.
Iran hatte "ganz, ganz starke Rolle im Anti-IS-Kampf"
Heckmann: Würden Sie diese Maßnahmen vergleichen mit dem, was aus dem Iran in den letzten Monaten gekommen ist?
Neu: Ich glaube, wir müssen schon konzedieren, dass der Iran im Kampf gegen den IS in Syrien und im Irak dezidiert an erster Stelle gewesen ist. Der Iran hat mit den Proxy-Kräften in Syrien und im Irak an vorderster Stelle gegen den IS gekämpft – am Boden. Das waren nicht die Amerikaner. Das muss man schon konzedieren, dass der Iran eine ganz, ganz starke Rolle im Anti-IS-Kampf dargestellt hat.
Trauernde Iraner gedenken des ermordeten General Soleimani in Teheran. 
Ex-Botschafter Erbel:
Der frühere deutsche Botschafter im Irak, Bernd Erbel, hält eine Militärkonfrontation des Irans mit den USA für aussichtslos, weil die Waffensysteme des Landes in einem sehr schwachen Zustand seien.
Heckmann: Das heißt, Sie würden sagen, dass iranische Engagement hat sich vor allem auf die Bekämpfung des Islamischen Staats beschränkt?
Neu: Es geht immer um viele Dinge. Es geht um die Bekämpfung des Islamischen Staates. Es geht natürlich auch um die Kontrolle in der Region – natürlich!
Heckmann: Und die Angriffe beispielsweise auf die Raffinerie, das würden Sie auch unter diese Überschrift packen?
Neu: Das ist ja der Versuch, etwas zu behaupten, was bislang nicht belegt ist. Weder die Angriffe auf die Raffinerie, noch andere Dinge, die sind nicht belegt. Es wird behauptet, es wird in Plausibilitäten gesprochen. Das kennen wir in anderen Zusammenhängen. Aber die Belege, die Beweise gibt es bislang nicht.
Heckmann: Das werden wir noch weiter verfolgen, wie sich das weiter entwickelt. – Ich würde gerne auf das Interview von Roderich Kiesewetter zurückkommen, das der CDU-Politiker heute Morgen dem Deutschlandfunk gegeben hat. Er meinte, er könnte sich vorstellen, dass die Europäer ihr Engagement sogar verstärken könnten und damit das Vakuum, das die Amerikaner möglicherweise hinterlassen dürften, füllen. Was halten Sie von diesem Vorstoß?
Neu: Na ja. Diese Lastenteilung, die häufig von den Europäern angesprochen wird, bedeutet ja auch nur, dass dann die Europäer eine verstärkte Machtprojektion im Nahen und Mittleren Osten ausüben wollen, also anstatt der Amerikaner die Europäer. Ob das in der Region erwünscht ist, das sei mal dahingestellt. Da müsste man vielleicht mal in Teheran und in Bagdad nachfragen, ob das wirklich erwünscht ist, dass die Europäer die Rolle der Amerikaner übernehmen. Ich glaube, es macht tatsächlich Sinn, wenn alle ausländischen Kräfte sich zurückziehen und nur mit zivilen Mitteln versuchen, den Irak aufzubauen. Und wenn man schon der Auffassung ist, dass man eine Ausbildungsmission handhaben kann, dann kann man genauso irakische Militärs nach Deutschland holen und sie dort ausbilden. Das ist eine Möglichkeit, die wir sogar als Linke nicht ablehnen würden.
USA "chaotisieren" im Nahen und Mittleren Osten
Heckmann: Wenig hilfreich – so hat Außenminister Maas das Vorgehen der amerikanischen Regierung genannt. Jetzt ist er ja der oberste Diplomat, muss sich eine gewisse Zurückhaltung auferlegen. Was sagen Sie denn eigentlich insgesamt zu der Reaktion der Bundesregierung gegenüber Washington?
Neu: Kurzum: Schwach! Schwach! Man traut sich nicht wirklich, Kritik zu äußern. Der Kollege Kiesewetter hat das ein wenig gemacht. Die Überschrift lautet ja, die Amerikaner haben einen riesen Fehler gemacht.
Heckmann: Er hat den Alleingang heute früh im Deutschlandfunk verurteilt.
Neu: Genau! Ich glaube, das ist immer noch zu schwach. Man muss sich von den USA wirklich distanzieren. Ich hoffe, dass die Europäer beziehungsweise die Europäische Union eine unabhängige Außen- und Sicherheitspolitik betreibt, das heißt losgekoppelt von den USA. Die USA haben im Nahen und Mittleren Osten keine Stabilisierungsrolle eingenommen, sondern sie chaotisieren. Ich denke, wenn die Europäer, besser gesagt die Europäische Union hier eine andere Rolle einnehmen würde, anstatt sich den USA anzuschließen, dass wir dann auch mehr Einfluss hätten – positiven Einfluss.
Heckmann: Was heißt das praktisch, distanzieren? Sie meinen, Deutschland sollte mal eben aus der NATO austreten, oder?
Neu: Nein, das habe ich ... Gut, das ist eine Position, die wir natürlich haben als Linke, aber das ist jetzt nicht Gegenstand dieser Debatte hier, sondern dass die Europäer eine eigenständige Außen- und Sicherheitspolitik von Fall zu Fall machen, mit Blick auf den Iran, mit Blick auf den Irak, und sich nicht bedingungslos hinter die USA stellen, was bislang ja leider der Fall ist. Auch bei dem Iran-Abkommen ist es ja so, dass die E3-Staaten vieles versprochen haben gegenüber dem Iran, aber nichts umgesetzt haben, sondern sich dem Druck der Amerikaner wieder gebeugt haben. Hier wäre es sinnvoll, dass die E3 innerhalb der Europäischen Union und die Europäische Union insgesamt eine eigenständige Rolle übernehmen, eine stabilisierende Rolle, und sich nicht dieser chaotischen Politik der USA unterordnen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.