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Essay von Ernst-Wilhelm Händler
Gefühle als Organisationsprinzip

Mit "Versuch über den Roman als Erkenntnisinstrument" hat der 62-jährige Autor Ernst-Wilhelm Händler eine breit angelegte Grundlegung des Romans für die Gegenwart veröffentlicht. Sie hebt nicht zuletzt auf die Funktion der Literatur für die Gesellschaft und ihre Individuen ab.

Von Oliver Pfohlmann | 25.03.2015
    Der Roman hat Konkurrenz bekommen – zumindest im Feuilleton. Denn wenn Kritiker ihre Lieblingsserie hypen wollen, greifen sie meist zu literarischen Vergleichen. Für TV-Serien wie "The Wire", "Breaking Bad" oder "Mad Man" werden dann Namen wie Balzac, Dostojewski oder Tolstoi ins Feld geführt – sofern das amerikanische Erzählfernsehen nicht gleich ganz zum Erben des Romans erklärt wird. Gegenwartsautoren sind über diese Entwicklung naturgemäß wenig erfreut, wäre der Roman dann ja eine Kunstform von gestern. Daher hat in den USA zum Beispiel Jonathan Franzen die Überlegenheit des Romans auch im HBO-Zeitalter betont – und hierzulande nun Ernst-Wilhelm Händler.
    "Ich schaue auch wahnsinnig gerne Fernsehserien an, aber das ist doch überhaupt gar keine Konkurrenz zum Roman und ich finde das immer völlig idiotisch, wenn da also gestandene Literaturkritiker, wenn die da in diese Richtung argumentieren, ich mein, sprachlich ist alles, was in einer Fernsehserie vorkommt, runtergedampft auf Dialoge, auf nichts anderem, damit kann man natürlich viel machen, aber da fällt ja unglaublich viel weg, wenn ich einen Text lese, wenn ich einen Roman lese, dann – es geht schon damit los, wer redet eigentlich?, wer spricht eigentlich?, was für eine Stimme ist das?, kann ich die Stimmen auseinanderhalten, gehört die Gegenwart, Vergangenheit oder Zukunft?, da gibt's also unglaublich viele sprachliche Möglichkeiten, die gehen ja alle nicht [...]"
    Spiel des Poeta doctus mit den Möglichkeiten
    Wer die anspruchsvollen Romanwerke Händlers kennt, weiß, wie gern dieser Poeta doctus mit eben solchen Möglichkeiten spielt. Man denke nur an den Stimmenchor in Händlers Roman "Wenn wir sterben". Dennoch dürfte sein Argument Serienfans kaum beeindrucken: Zeitlich unbestimmte Figurenstimmen findet man heute sogar schon in Serien aus der zweiten Reihe wie, sagen wir, "Grey's Anatomy" – von den komplexen Protagonisten oder verschachtelten Erzählmodi wie zuletzt in der HBO-Serie "True Detective" ganz zu schweigen.
    Tatsächlich gehört das, was Händler über die Unterschiede von Roman und Fernsehserie zu sagen hat, zu den schwächeren Passagen seines neuen Buches. Dieses will nicht weniger als den Nachweis erbringen, warum der Roman (und damit die Literatur insgesamt) noch immer die gesellschaftlich wichtigste Kunstform darstellt – und voraussichtlich auch bleiben wird. Das macht schon der selbstbewusste Titel deutlich: "Versuch über den Roman als Erkenntnisinstrument" – eine Anspielung auf die erste deutsche Romantheorie überhaupt, die von Christian Friedrich von Blanckenburg aus dem Jahr 1774. Wie einst Blanckenburg ist auch Händler davon überzeugt, dass der Roman vor allem dazu da ist, Innensichten von Individuen zu vermitteln – eine gerade für die moderne Gesellschaft eminent wichtige Funktion:
    "Der Roman kann zwei Dinge, die können Bilder-Sachen niemals, der Roman kann erklären, aber vor allem kann der Roman eine Innenschau bieten. Der Roman, das ist jetzt der innere Monolog oder wie man das nimmt, oder erlebte Rede oder so etwas, das heißt, der Roman kann versuchen auszuleuchten, kann versuchen darzustellen, wie es in einem Menschen aussieht [... ]. Und ich meine, dieses innere Ausleuchten ist ja was unglaublich Wichtiges, das ist ja auch ganz wichtig jetzt für die gesellschaftliche Kommunikation, [...] dass jemand erklärt, wie es in ihm aussieht [...]"
    Luhmannsche Unterscheidung
    Der Leitgedanke des 62-jährigen Romanciers ist dabei die Luhmannsche Unterscheidung von System und Umwelt. Und gerade letztere, die Umwelt des Romans, kartografiert Händler mit einer überraschenden Gründlichkeit: Deshalb wird nicht nur der Leser behandelt oder die Frage, ob es so etwas wie eine "richtige" Interpretation gibt. Vielmehr widmet sich Händler in 28 hochkomprimierten Kapiteln ebenso Sprache und Denken, Wahrnehmung und Ich-Bewusstsein oder dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft. Das alles stets in der Auseinandersetzung mit den einschlägigen Denkern und Theorien: von Heidegger bis zu den Neurowissenschaften. Das ist überaus anregend zu lesen, selbst da, wo es zu eher abseitig anmutenden Fragen führt wie etwa, ob eines Tages Roboter Romane lesen oder gar schreiben werden. Gewöhnen muss man sich jedoch daran, dass Händler keine Namen nennt, sondern mittels Umschreibungen eine Art Anti-Namedropping für Insider praktiziert. Dabei sind die meisten Chiffren leicht zu entschlüsseln: Der "Alleszermalmer" steht natürlich für Kant und "Mathematiker ohne Eigenschaften" für Robert Musil. In anderen Fällen dürften produktive Missverständnisse vorprogrammiert sein – denn darüber, wer der "garantiert belesenste aller internationalen Literaturprofessoren der Gegenwart" ist, ließe sich wohl trefflich streiten.
    Viel Raum in Händlers Essay nimmt die Abgrenzung des Romans von Textsorten wie Wissenschaftsprosa, Protokoll oder Manual ein. Dabei zeigt sich, wie zentral für den Roman der Rückgriff auf Gefühle ist, die hier sogar zum Organisationsprinzip werden:
    "[...] ich vergleich es immer sehr gerne mit der Wissenschaft, einfach um Unterschiede herauszuarbeiten: Wissenschaft geht über Gefühle, aber Gefühl kann in der Wissenschaft niemals Organisationsprinzip sein. Und Romane, da sind Gefühle Organisationsprinzipien, da spielt einfach das Gefühl die größte Rolle, nehmen Sie Proust zum Beispiel, das ist also der grandioseste Roman über Eifersucht, und die Struktur wird einfach zum großen Teil bestimmt durch dieses Thema Eifersucht, das ist etwas völlig anderes, als wenn jetzt jemand hergeht und eine empirische Untersuchung über Eifersucht macht, da wird die Struktur vorgegeben jetzt nicht durch den Beobachtungsinhalt, sondern einfach durch das Fach, durch diese Dinge [...]"
    Lebenspraktische Folgen
    Und eine solche Lektüre ist viel mehr als bloße Unterhaltung, sondern hat lebenspraktische Folgen: Denn wer Marcel Proust gelesen hat, so Händler, wird in seinem Leben mit Eifersucht künftig anders umgehen. Deshalb seien Romane so etwas wie emotionale "Trainingsprogramme" für den Einzelnen. Und indem sie fiktive Lebenssituationen durchspielen, eröffnen sie dem Leser immer auch neue "Handlungsmöglichkeiten", können also buchstäblich unser Leben ändern.
    So einleuchtend das alles ist, so unklar bleibt, warum dies im Medium der Bilder nicht ebenso möglich sein soll. Oder warum Händler in Film, Serie und Roman Konkurrenten sieht – und nicht vielmehr alternative "Trainingsprogramme", zwischen denen ja seit jeher produktive Austauschprozesse stattfinden. Zumal die wahre Konkurrenz für den Roman woanders liegen dürfte: nämlich in den allgegenwärtigen mobilen Displays mit ihren zeitfressenden "Apps" und "Blink-Feeds", die den "User" zerstreuen und konzentrierte Lektüre immer mehr als Zumutung empfinden lassen.
    Ernst-Wilhelm Händler: Versuch über den Roman als Erkenntnisinstrument. Frankfurt am Main: S. Fischer, 2014. 288 S., 19,99 Euro