Donnerstag, 18. April 2024

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Essay zum NPD-Verbotsverfahren
Wir brauchen zeitgemäße Maßstäbe für die Parteienfreiheit

Die 1964 gegründete Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) ist fortwährend in der gesellschaftlichen und politischen Diskussion und in vieler Hinsicht ein Ärgernis. Wähler bringt sie kaum hinter sich, Mitglieder hat sie wenige, der Zustand der Partei ist desolat und die Konkurrenz AfD zieht ihr davon.

Von Claus Leggewie und Horst Meier | 11.09.2016
    Der Essener Politikwissenschaftler Claus Leggewie am 25. Februar 2015
    Der Essener Politikwissenschaftler Claus Leggewie am 25. Februar 2015 (dpa / picture alliance / Marcel Kusch)
    Derzeit bemüht sich der Bundesrat, nach einem 2003 gescheiterten, von Bundesregierung und Bundestag mitgetragenen Versuch, erneut um ein Verbot. Vor dem Bundesverfassungsgericht, dem allein es laut Grundgesetz obliegt, die Verfassungsmäßigkeit der Partei zu prüfen, kamen im März 2016 alle Seiten zu Wort. Das Urteil steht kurz bevor.
    Claus Leggewie und Horst Meier haben den Prozess in Karlsruhe begleitet. Sie ziehen mit ihren Notizen und Mitschriften eine Bilanz des Verfahrens und ordnen es rechts- und demokratiepolitisch ein.
    2016 waren die beiden Autoren als Prozessbeobachter in Karlsruhe.
    Prof. Dr. Claus Leggewie, Politikwissenschaftler und Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen, und Autor und Jurist Dr. Horst Meier gaben bereits 2002 im Suhrkamp Verlag "Verbot der NPD oder mit Rechtsradikalen leben? Die Positionen" heraus.
    2015 erschien von Horst Meier im Berliner Wissenschafts-Verlag "Verbot der NPD – ein deutsches Staatstheater in zwei Akten".

    Erster Prozesstag. Dienstag, 1. März 2016. Karlsruhe, Schlossbezirk 3. Hier, wo einst das im Zweiten Weltkrieg zerbombte Hoftheater stand, residiert seit Ende der 60er-Jahre das Bundesverfassungsgericht. Unter dem wolkenverhangenen Himmel wirkt der betont schlichte Bau, dessen Äußeres sich bewusst von der Herrschaftsarchitektur alter Justizzeiten absetzt, gesichtslos. Links der verglaste, helle Saalanbau. Vor dem flachen Hauptgebäude drei Fahnenmasten: links Europa, in der Mitte Deutschland, rechts blankes Metall. Ab 9:00 Uhr wird der Vorplatz zum Bienenstock. Der Bundesrat bietet ein Kontingent von 80 Personen auf: Ministerialdirigenten, Verfassungsschutzpräsidenten, Innenminister, Regierungschefs - im Tross ihre Kofferträger, Leibwächter und Chauffeure. Eine stattliche Kolonne schwarzer Limousinen. Die NPD erscheint mit 40 Funktionären. An den Sicherheitsschleusen der Bundespolizei drängen sich Presseleute und Besucher. Flughafenatmosphäre. Wohin die Reise wohl geht?
    "Wir bleiben! Deutschland lässt sich nicht verbieten!"
    Eine Leerstelle fällt nicht weiter auf: Die Partei, um deren Existenz hier verhandelt wird, bringt keinen einzigen Demonstranten auf die Straße. Eine linke Partei hätte in Sichtweite des Gerichts ein Protestcamp errichtet. Doch von der NPD künden nur einige Sandwichplakate, in einer Querstraße, hoch oben an den Laternen des Mittelstreifens: "Wir bleiben! Deutschland lässt sich nicht verbieten!"
    Teilnehmer einer Kundgebung der NPD, einer trägt eine NPD-Flagge.
    Bild von einer NPD-Demonstration am 1. Mai in Schwerin. (dpa / Jens Büttner)
    Punkt 10:00 Uhr. Ausruferin: "Das Bundesverfassungsgericht!" Der Zweite Senat, angeführt von Präsident Voßkuhle, tritt ein. Er blickt in den stehenden Saal, keine Sekunde zu lang: "Bitte nehmen Sie Platz!" Der Vorsitzende und seine drei Kolleginnen und vier Kollegen setzen sich und legen ihre roten Mützchen auf die Bank.
    Die Diskussion um das Verbot der NPD ist so alt wie die 1964 gegründete Partei. Vielen käme es wie gerufen in einer Zeit der Flüchtlingskrise, da die Hetze sich verschärft und der Druck von rechts steigt. Charakteristisch sind der moralisierende Grundton und der permanente Fehlalarm. Während die gefühlte Gefährlichkeit schwankt, bleibt die NPD allemal unerträglich. Die Lage erscheint stets hoffnungslos, aber nie ernst.
    Natürlich geht es bei jedem Verbot auch um die Reife und das Selbstbewusstsein der Mehrheitsparteien. Wie viel Dissens, wie viel Opposition können sie vertragen, ja als provozierenden Gebrauch der Freiheit respektieren? Im Folgenden beleuchten wir einige zentrale Problemfelder des NPD-Verfahrens. Und laden dazu ein, die Frage so radikal zu stellen: Was ist schädlicher für die deutsche Demokratie - die Existenz oder das Verbot der NPD?
    2001 wurden die ersten Verbotsanträge gestellt
    Im Anfang war die Parteienfreiheit, sie ist die eigentliche Errungenschaft des Grundgesetzes von 1949. Jedes Verbot greift in die politische Willensbildung ein und stört das freie Spiel der Kräfte. Es kommt daher nur ausnahmsweise in Betracht. Bereits 2001 wurden die ersten Verbotsanträge gegen die NPD gestellt - und zwar von allen drei Antragsberechtigten: der Bundesregierung, dem Bundestag und dem Bundesrat. Kurz zuvor schrieb Jutta Limbach, damals Präsidentin des Verfassungsgerichts:
    "Ein Parteiverbot [trägt] das Risiko in sich, die Freiheit der politischen Auseinandersetzung zu verkürzen. Insbesondere ist der Gefahr zu begegnen, dass dieses Instrument im Kampf gegen den politischen Gegner missbraucht wird. Auf zwei Wegen lässt sich dieser Gefahr entgegenwirken: Zum einen durch eine restriktive Auslegung der Voraussetzungen des Verbots; zum anderen durch ein strenges justizförmiges Verfahren."
    Damit ist die heikle Aufgabe formuliert, die dem Verfassungsgericht obliegt. Im ersten NPD-Verfahren hat sich das Gericht als Hüterin der Verfassung bestens bewährt: 2003 stellte es - noch bevor es überhaupt zum Prozess kam -, die Sache ein. Weil ein "strenges justizförmiges Verfahren" wegen der V-Leute nicht möglich war. Denn der Verfassungsschutz hatte fast jeden siebten Spitzenfunktionär der NPD als Spitzel angeworben - und so sah sich das Gericht nicht in der Lage auseinanderzuhalten, was authentische Parteiaktivität und was Treiben staatlich alimentierter "Kameraden" war. Das damalige Scheitern war eine herbe Niederlage für die Verbotsbetreiber - und die NPD blieb das, was sie seit eh und je ist: eine einflusslose Splitterpartei, die allenfalls regional und zeitlich begrenzt nennenswerte Wahlergebnisse erzielt.
    Trotzdem schwelte die Verbotsdiskussion weiter; kaum ein aufsehenerregendes Ereignis am rechten Rand, das nicht den Ruf nach einem Verbot provozierte. Und so war der Ausgangspunkt für den zweiten Verbotsantrag ebenfalls ein konjunktureller: Im November 2011, kurz nachdem die Terrorzelle NSU sich selbst enttarnt hatte, erklärte der Bundestag einstimmig von Linkspartei bis CSU:
    "Rechtsextreme, Rassisten und verfassungsfeindliche Parteien haben in unserem demokratischen Deutschland keinen Platz. Deshalb fordert der Deutsche Bundestag die Bundesregierung auf, zu prüfen, ob sich aus den Ermittlungsergebnissen Konsequenzen für ein NPD-Verbot ergeben."

    Die Ermittlungen ergaben aber keine direkten Verbindungen zwischen NPD-Politik und NSU-Morden. Es blieb dem Bundesrat überlassen, alle Warnungen in den Wind zu schlagen und den zweiten Anlauf zu wagen. Zu den kritischen Stimmen zählten etwa die damalige Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger und der ehemalige Präsident des Verfassungsgerichts Hans-Jürgen Papier, der erklärte, der Staat laufe in eine "unsägliche Falle". Der grüne Politiker und Dresdner Rechtsanwalt Johannes Lichdi initiierte einen "bündnisgrünen Appell", der sich gegen ein waghalsiges Unternehmen kurzsichtiger Symbolpolitik wandte:
    Akten für ersten NSU-Untersuchungsausschuss Bundestag 2012-2013
    Akten für ersten NSU-Untersuchungsausschuss Bundestag 2012-2013 (dpa / picture alliance / Wolfgang Kumm)
    "Es geht beim NPD-Verbot nicht um eine 'antifaschistische Mutprobe', das hilflose 'Setzen von Zeichen' oder moralische Erwägungen, sondern um die [...] verfassungsrechtlichen Voraussetzungen eines Parteiverbots."
    Der Antrag vom 1. Dezember 2013 bringt es auf 264 Seiten. Seine Begründung ist verschachtelt und bietet nichts substanziell Neues. Verglichen mit den drei Verbotsanträgen des Jahres 2001 tischt der heutige Antrag wiederum eine Sammlung anstößiger Zitate auf. Ein Blick in die Liste der dem Antrag beigegebenen 303 Belege genügt: hier ein Flugblatt, da ein Internetbeitrag, dort eine Rede auf dem Parteitag.
    Da viele im "Kampf gegen rechts" auch einem schlechten Unternehmen guten Erfolg wünschen, empfehlen wir die Gegenprobe: Was wäre, wenn eine linke Partei in Karlsruhe um ihre Existenz kämpfen müsste? Würde ich die Argumente und Maßstäbe, die ich heute gegen die NPD gelten lasse, morgen auch gegen eine linke, antifaschistische Partei akzeptieren?
    Verbot ist keine Frage der Verfassungspädagogik
    Die beiden Verbotsurteile der 50er-Jahre trafen kleine Parteien, die objektiv ungefährlich waren. Die Sozialistische - sprich Nationalsozialistische Reichspartei, SRP, war ein Sammelbecken alter Nazis. Die KPD eine spätstalinistische Sekte, die schon 1953 aus dem Bundestag flog. Seither geht es in der deutschen Extremistendebatte mehr um symbolisch-rituelle Ausgrenzung denn um wirkliche Gefahrenabwehr. Das ist kein Zufall, denn das Parteiverbot des Grundgesetzes, gern als Errungenschaft der streitbaren Demokratie gelobt, ist per se eine Fehlkonstruktion.
    "[...] schon die geringe Zahl einschlägiger Fälle [...] sowie das weitgehende Fehlen vergleichbarer Verfassungsnormen in anderen freiheitlichen Demokratien spricht eine deutliche Sprache, was die Effektivität wie vor allem vielleicht die verfassungspolitische Klugheit entsprechender Maßnahmen angeht."
    Resümierte der Staatsrechtslehrer Horst Dreier. Ein Verbot ist keine Frage der Verfassungspädagogik, es muss zur Verteidigung der Demokratie objektiv notwendig sein. Bei der heutigen, realexistierenden NPD lässt sich nüchtern feststellen: Sie ist konstitutionell unfähig, die "freiheitliche demokratische Grundordnung" dieses Staates zu beeinträchtigen. Da, wo keine Gefahr im Verzuge ist, lässt sich in aller Ruhe über einige Grundsatzfragen nachdenken:
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    Menschen demonstrieren gegen die NPD (Bild: dpa / Jens Büttner) (Jens Büttner dpa/lmv)
    Wie weit darf Opposition gehen? Steht legale Politik unter dem Vorbehalt der Verfassungstreue? Was macht Parteipolitik zu einer Gefahr für die demokratische Grundordnung? Genügen anstößige Ziele? Oder müssen Rechtsbruch und politisch motivierte Gewalt hinzukommen oder wenigstens nennenswerte Wahlergebnisse erzielt werden? Oder kommt es auf all das nicht an, weil, so das Mantra des Verbotsantrags, gar keine Gefahr vorliegen muss?
    Je nachdem, wie die Richter darauf antworten, setzen sie die Hürden hoch oder niedrig an. Bleiben sie, wie ihre Vorgänger in den 50er-Jahren, auf Gefahrenvorsorge fixiert, erübrigt sich jede Diskussion um das wirkliche Potenzial der NPD: der reinen Präventionslehre genügt die Gefahr einer Gefahr. Was wäre dann mit einem Karlsruher Verdikt gegen rechts gewonnen? Es könnte das fortwesende Potenzial der hässlichen Deutschen, das sich etwa im NSU gezeigt hat, nicht entsorgen. Je mehr ein Verbot sich auf bloße Ziele stützt, desto sinnloser ist es: Ideen lassen sich nicht verbieten.
    Die Verbotsurteile gegen SRP und KPD waren einseitig auf verfassungswidrige Propaganda, das heißt den Inhalt von Politik, bezogen. Damit ist heute nichts anzufangen. Wir brauchen Maßstäbe für die Parteienfreiheit, die sich im 21. Jahrhundert bewähren. Nur wirklich hohe Hürden schützen den friedlichen Wettbewerb und die Freiheit der Opposition.
    Die wichtigste Aufgabe einer restriktiven Interpretation besteht darin, die zweite, bislang ausgeblendete Verbotsalternative einzubeziehen: das illegale, gewalttätige Verhalten der Parteianhänger, das heißt die Form von Politik. Nur so gelangt man von einem gesinnungs- zu einem verhaltensbezogenen Eingriff; nur so kann man bloß abstrakte von sich konkretisierenden Gefahren unterscheiden. Und nur so kann man auch dem ungeschriebenen Tatbestandsmerkmal der "aktiv kämpferischen, aggressiven Haltung", das im KPD-Urteil praktisch folgenlos blieb, die ihm zugedachte begrenzende Funktion geben.
    Die Aktivitäten von Parteien, die "darauf ausgehen", die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen, müssen in eine objektiv bestimmbare Gefahrenlage münden. Der Supreme Court der USA hat für Freedom of Speech, für die politische Redefreiheit, einen zunehmend anspruchsvollen "Clear and present danger"-Test entwickelt. Dieser Ansatz, eine "klare und gegenwärtige Gefahr", muss für das deutsche Verfassungsrecht fruchtbar gemacht werden.
    Das bedeutet: Es genügt nicht, einer Partei ihre verwerflichen verfassungswidrigen Ziele vorzuwerfen. Hinzukommen muss, wenigstens in Ansätzen, ein kriminelles Verhalten ihrer Anhänger. Aber selbst wenn man keine Straftaten fordert und sonstige Bedrohungen Andersdenkender und Fremder genügen lässt: Eine spezifische Gefahrenlage, real und imminent, ist die zentrale Achse jedes rechtsstaatlichen Parteiverbots.
    Der ehemalige Verfassungsrichter Dieter Grimm resümierte klipp und klar:
    "Alles, was im Meinungsmäßigen bleibt, reicht nicht aus."
    Außerdem muss man die Europäische Menschenrechtskonvention berücksichtigen.
    "Das Straßburger Gericht fragt nicht nur nach der Absicht, die verfassungsmäßige Ordnung zu beseitigen, sondern auch nach der Erfolgswahrscheinlichkeit. Wo soll die bei der NPD herkommen?"
    Splitterpartei NPD zählt gerade einmal 5.000 Mitglieder
    Und schließlich ist da noch die vielleicht fallentscheidende Frage der Verhältnismäßigkeit, die im Verbotsantrag vom Dezember 2013 beflissen kleingeredet wird. Die Splitterpartei NPD zählt gerade einmal 5.000 Mitglieder; von den Massenaufmärschen einer Pegida und den Wahlerfolgen einer AfD ist sie meilenweit entfernt.
    Die Verbotsbetreiber bieten zwei Gutachten des Instituts für Zeitgeschichte auf, die Teilen der NPD-Programmatik eine gewisse Nähe zur Ideologie des Nationalsozialismus bescheinigen. Das ist im Prinzip zutreffend; aber selbst solche Anleihen genügen nicht. Die These von der "Wesensverwandtschaft", bereits in einem Verbotsantrag des Jahres 2001 bemüht, wird auf die reine Zielebene verkürzt. Und scheint auf den politischen Mehrwert eines Tabus zu spekulieren: Wenn man einer Partei kaum mehr als anstößige Parolen ankreiden kann, dann wenigstens solche des ultimativ verfassungswidrigen Nationalsozialismus.
    Das ist Prozesspsychologie, doch keine tragfähige Analogie zur SRP. Diese wurde, weil nach einem NSDAP-Raster "wesensverwandt", als Nachfolgeorganisation der NSDAP verboten. Das war, elf Jahre nach dem alliierten Verbot der NSDAP, für ein Sammelbecken alter Nazis einigermaßen plausibel. Es für die heutige NPD zu reklamieren, grenzt an Verharmlosung der NSDAP, zu deren Politik nicht allein ein völkisches und antisemitisches Programm, sondern auch der Straßenkampf bewaffneter Totschläger zählte.
    Im Antrag werden einmal mehr "Angsträume" und "national befreite Zonen" als diffuse Verbotsgründe geltend gemacht. Man beruft sich auf ein Gutachten des Politologen Dierk Borstel:
    "Für bestimmte Gebiete in Mecklenburg-Vorpommern kann durch die Raumordnungsstrategie und das Konzept national befreiter Zonen eine Akzeptanzsteigerung für die NPD vor Ort nachgewiesen werden."
    Solche Vorwürfe erschöpfen sich darin, dass die NPD hier und da bescheidene Erfolge erzielt. Eine lästige Akzeptanzsteigerung macht aber noch keinen Verbotsgrund. Das gilt auch für "national befreite Zonen", die es nur als "Konzept" gibt. Hier sitzt der Antrag, wie schon seine Vorgänger des Jahres 2001, einem "nationaldemokratischen" Popanz auf, der keiner Empirie standhält.
    Die Verhältnisse, die Borstel aus genauer Orts- und Szenekenntnis in seinen Arbeiten und in dem Gutachten zutreffend beschreibt, sind beklagenswert. Aber zum einen sind diese Zustände nicht allein, ja nicht einmal hauptursächlich der NPD als Erfolg zuzurechnen; zum anderen konstituieren sie als punktuelle Erscheinungen keine konkrete Gefahr für die Demokratie: weder in Mecklenburg-Vorpommern noch gar für die Bundesrepublik Deutschland insgesamt.
    Der kurze Schluss von einer "Störung des demokratischen Lebens" in wenigen Dörfern und Kleinstädten auf eine Verletzung der demokratischen Legitimation in ganz Deutschland führt ins Surreale und spricht der NPD eine Macht zu, die sie bei Weitem nicht hat.
    Im Übrigen ist daran zu erinnern, dass Borstel 2006 gegen ein Verbot der NPD argumentierte. In einem Beitrag für die Bundeszentrale für politische Bildung schrieb er:
    "Gerade vor Ort bin ich immer wieder auf den z. T. verzweifelten Ausruf gestoßen, es müsse endlich das Verbot her [...] Nur bedeutet ein NPD Verbot eben nicht, dass der Rechtsextremismus verschwunden ist. [...] Rechtsextreme Störungen, Unterwanderungen, Wortergreifungsstrategien, Probleme mit entsprechenden Schülern, selbst ernannten Fußballfans [...] wird es trotz Verbot weiterhin geben. Hier hilft nur, den Umgang mit diesen Personen festzulegen, die politische Auseinandersetzung zu lernen... Dieser Weg ist mühsam, aber als einziger erfolgreich. [...] An die Stelle des kalten Verbots muss die feurige politische Auseinandersetzung [...] treten."
    Weitere Vorwürfe verlieren sich im Nebel von Unterstellungen. Die Verbotsbetreiber behaupten etwa, die NPD sei für die dreitägigen Krawalle verantwortlich, zu denen es Ende August 2015 im sächsischen Heidenau kam. Tatsächlich begannen die Landfriedensbrüche erst drei Stunden nach dem Ende einer NPD-Demonstration. Sie wurden von Nazi-Hooligans verübt, ohne dass eine Steuerung durch die NPD erkennbar wäre.
    Der Bundesrat wird sich daher die Frage gefallen lassen müssen, wie plausibel seine unausgesprochene Annahme eigentlich ist, dass die Hetze gegen Flüchtlinge, die Übergriffe und Brandstiftungen enden würden, wäre die NPD nur endlich verboten. Nach einer Analyse des BKA gibt es keine konkreten Hinweise für eine Lenkung durch fremdenfeindliche Organisationen, auch nicht durch die NPD.
    Es war schon das Volk selbst, das da brachial geworden ist.
    Anfang März 2016 beginnen die ersten Verhandlungstage
    Ende 2015 war es so weit: Zwei Jahre nach Eingang des zweiten Verbotsantrags, setzte das Gericht für Anfang März des Jahres 2016 drei Verhandlungstage an.
    Dieses Mal war die Kommentarlage anders als 2001; damals zogen die Verbotsbetreiber unter allgemeinem Beifall nach Karlsruhe. Dieses Mal gab es neben staatsfrommer Zustimmung und taktischer Zurückhaltung wenig Elan und viel Skepsis. Erstens, ob sich der ganze Aufwand bei dieser unbedeutenden und - sagen wir es einmal schnörkellos -, ungefährlichen Partei lohnen würde; und zweitens, ob das Gericht nicht abermals die Politik vor den Kopf stoßen könnte.
    Reinhard Müller, Rechtspolitiker der "FAZ", hatte sich unmittelbar vor dem Prozess einmal mehr als Verbotsskeptiker profiliert und die "Reife der Republik" beschworen. Selbst Heribert Prantl, einen notorischen Verbotsbefürworter, plagten in der "Süddeutschen" Zweifel:
    "Ist der nun beginnende große Karlsruher Bohei nicht ein großer Irrtum, eine Aberratio?"
    Bange Fragen wie diese galten auch dem, was in den kommenden Tagen als staatspolitische Verantwortung über der Residenz des Rechts liegen würde. Die rechtspopulistische Konkurrenz der NPD schwoll in den Umfragen auf Werte an, von denen Nationaldemokraten nur träumen können. Das Land steckte in einer Flüchtlingskrise. Könnte es sich da das Gericht leisten, eine Partei nicht zu verbieten, die jedenfalls atmosphärisch mit dem Vormarsch und der Aggression der radikalen Rechten assoziiert wird? Um noch einmal den früher als Staatsanwalt tätigen leitenden Redakteur der "Süddeutschen Zeitung" Prantl zu zitieren:
    "Darf es sein, dass [unter dem Mantel des Parteienprivilegs] Gewalttaten gegen Flüchtlinge Vorschub geleistet wird? Auch dazu muss dieses Verbotsverfahren gegen die NPD Aussagen treffen. Und das hat Bedeutung für neue Parteiengebilde rechts außen."
    Also die NPD schlagen, um die AfD zu disziplinieren? Im Übrigen brodelte, wie vor jedem größeren Prozess, die Gerüchteküche: Der zum "Staranwalt mit Einserabitur" aufgejazzte Vertreter der NPD, Peter Richter habe den einen oder anderen "Knaller", sprich V-Mann in petto.
    Das also war die Ausgangslage. Wer Anfang März nach Karlsruhe reiste, durfte sich den Luxus leisten, alle Sorgen der Welt für drei Tage zu vergessen, um der Verhandlung einer deutschen Schicksalsfrage beizuwohnen: Muss jetzt, im 52. Jahr ihrer Gründung, mit dem Treiben der NPD endlich Schluss gemacht werden?
    Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe: Ulrich Maidowski (l-r), Sibylle Kessal-Wulf, Peter M. Huber, Peter Müller, Andreas Voßkuhle (Vorsitz), Herbert Landau, Monika Hermanns und Doris König.
    Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe: Ulrich Maidowski (l-r), Sibylle Kessal-Wulf, Peter M. Huber, Peter Müller, Andreas Voßkuhle (Vorsitz), Herbert Landau, Monika Hermanns und Doris König. (picture alliance / dpa / Marijan Murat)
    Erster Prozesstag. Dienstag, 1. März 2016."Ich eröffne die Verhandlung über den Antrag des Bundesrates vom 1. Dezember 2013 [...]. Sehr geehrte Damen und Herren!"
    Mit dem Parteiverbot, Ausdruck des Konzepts einer "wehrhaften Demokratie", hat der Verfassungsgeber versucht, erklärt Präsident Voßkuhle, ein "Grenzproblem" zu lösen - dass nämlich "die Freiheit zur Abschaffung der Freiheit missbraucht werden kann. Vor diesem Hintergrund erweist sich das Parteiverbotsverfahren als ebenso scharfes wie zweischneidiges Schwert, das mit Bedacht geführt werden muss: es schränkt Freiheit ein, um Freiheit zu bewahren!"
    Andreas Voßkuhle, Präsident des Bundesverfassungsgerichts, streift das gescheiterte erste Verfahren, skizziert die Geschichte des zweiten Anlaufs und betont, der Prozess stelle für das Gericht in vielfacher Hinsicht eine besondere Herausforderung dar.
    "Es muss nicht nur dem sehr offen formulierten Verbotstatbestand des Art. 21 Abs. 2 GG [...] inhaltliche Konturen verleihen [...]. Es muss auch selbst als quasi erste Instanz einen komplexen Sachverhalt aufklären und sehr viele Einzelaspekte in eine wertende Gesamtbetrachtung überführen. Dabei hat es sich jeder politischer Bewertung zu enthalten [...] Nach alledem zeigt sich einmal mehr: Jedes Parteiverbotsverfahren stellt eine ernsthafte Bewährungsprobe für den freiheitlich demokratischen Verfassungsstaat dar!"
    Der Präsident legt das Blatt, von dem er abgelesen hat, beiseite. Jetzt müssen die Kameras und Mikrofone aus dem Saal. - Die folgenden Zitate basieren auf unseren Prozessnotizen. Das Gericht ließ zwar eine Tonaufnahme anfertigen, diese ist aber laut Geschäftsordnung nur den Verfahrensbeteiligten zugänglich.
    "Bevor wir in die Verhandlung eintreten, stelle ich zunächst die Anwesenheit fest. Herr Innenminister, Frau Abgeordnete, Herr Regierungsdirektor [...]"
    Die namentlich Aufgerufenen erheben sich, nicken oder deuten eine leichte Verbeugung an.
    Ganz oben auf der Verhandlungsgliederung des Gerichts stehen Verfahrensfragen. "Ich vermute, Sie haben dazu einige Anträge", so Voßkuhle zu NPD-Anwalt Richter. Dieser stellt die erwarteten Befangenheitsanträge gegen die Richter Müller und Huber. Jetzt könnte der NPD-Anwalt seine beste Stunde haben. Das Belastungsmaterial ist erheblich - insbesondere bei Peter Müller, der als damaliger Ministerpräsident des Saarlandes die NPD "ekelerregend" nannte. Zudem haben beide Richter die Ziele der NPD als "extremistisch" eingestuft, also eine Kernfrage des Prozesses vorentschieden. Freilich war das schon zu Jahresbeginn in der "taz" nachzulesen.
    Der Anwalt verdirbt den Effekt, indem er obendrein die angeblich falsche Besetzung beider Senate des Verfassungsgerichts rügt. Die Langeweile, die solche Abschweifungen hervorrufen, gibt ausgiebig Gelegenheit, die Richterbank zu studieren. Gesichter und Körperhaltungen sprechen Bände. Nachdem der junge Rechtsanwalt endlich fertig ist und die Richter Huber und Müller ihre Unvoreingenommenheit beteuert haben, gibt der Vorsitzende die Linie vor:
    Voßkuhle: "Vielen Dank, wir stellen das zunächst einmal zurück und kommen zu unserer Verhandlungsgliederung."
    Rechtsanwalt: "Herr Präsident, ich meine, es müssten erst die Anträge beschieden werden!"
    Voßkuhle: "Das machen wir in der Mittagspause."
    Rechtsanwalt: "Herr Präsident, ich meine aber schon, diese Anträge müssten gleich entschieden werden. Ich beantrage Entscheidung des Senats."
    Voßkuhle: "Ach nein, das machen wir lieber in der Mittagspause. Ich bitte um Verständnis, dass wir so verfahren."
    Das genügt. Rechtsanwalt Richter insistiert nicht, er fügt sich. Ihm fehlt offenbar die forensische Erfahrung. Ein konflikterprobter Strafverteidiger hätte es sich kaum bieten lassen, vor einem Gericht weiter zu verhandeln, dem möglicherweise zwei befangene Richter angehören.
    Unterdessen erklärt Präsident Voßkuhle das für das Gericht maßgebliche Prozessrecht. Einige Lücken seien zu schließen, wofür die Strafprozessordnung Anhaltspunkte biete. Doch eine förmliche Beweisaufnahme komme nicht in Betracht. Das Gericht, obgleich im Verbotsverfahren ausnahmsweise Tatsacheninstanz, macht damit klar, dass es einen aufwendigen Prozess vermeiden will. Was einst im Verfahren gegen die SRP zehn Tage lang und gegen die KPD 51 Tage lang verhandelt wurde, soll hier und heute nur kursorisch erörtert werden.
    Nun gibt Richter Müller, Berichterstatter des Senats, eine Einführung, die, wie sich später herausstellen wird, dem Ganzen das Leitmotiv voranstellt:
    "Das Grundgesetz baut auf die Kraft der freien geistigen Auseinandersetzung. Das Parteiverbot, ein massiver Eingriff in die Offenheit des politischen Prozesses, kommt nur in engen Ausnahmefällen in Betracht. Die Maßstäbe der 50er-Jahre müssen fortentwickelt werden. Aber mit welchen Anforderungen und Hürden? Selbst wenn man dem Präventivcharakter des Parteiverbots Rechnung trägt: Muss man nicht vom bloßen Bekenntnis hin zur aktiven Bekämpfung kommen?"
    So räumt Müller gleich eingangs mit einem Irrtum, dem viele erliegen, gründlich auf: Das Parteiverbot dient jedenfalls nicht der Unterdrückung bloßer Meinungen. Dann zitiert er die ultimativ-präventive Aussage des KPD-Urteils von 1956:
    "Eine Partei kann [...] auch dann verfassungswidrig sein, wenn nach menschlichem Ermessen keine Aussicht darauf besteht, dass sie ihre verfassungswidrige Absicht in absehbarer Zukunft werde verwirklichen können [...]; wenn die verfassungsfeindliche Absicht überhaupt nachweisbar ist, braucht nicht abgewartet zu werden."
    "Kann man heute daran festhalten?", fragt Richter Müller:
    "Oder muss man nicht hin zu einer Wahrscheinlichkeit oder wenigstens Möglichkeit der Verwirklichung solcher Absichten kommen? Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der ein ‚dringendes soziales Bedürfnis‘ fordert, kann hier als Auslegungshilfe dienen. Wir stehen damit vor der Frage, ob das Schüren eines geistigen Klimas, in dem andere schlimme Taten begehen, der Partei zugerechnet werden kann - ob also ‚geistige Brandstiftung‘ genügt."
    Die Rollen sind nach den ersten Tagen verteilt
    In den nächsten Stunden dieses ersten Tages wird über "abgeschaltete" V-Leute und geschwärzte Geheimdienstakten gestritten. Die Befangenheitsanträge werden, wie erwartet, nach der Mittagspause abgelehnt. Und was sich schon vormittags anbahnte, wird jetzt vollends klar. So sehr sich Rechtsanwalt Richter auch bemüht, mögliche Verfahrenshindernisse zu konstruieren: es gelingt ihm nicht, sie plausibel zu machen, oder gar den - hier im Saal allseits so genannten – "Hohen Senat" unter Aufklärungsdruck zu setzen. Das Gericht ist offenbar entschlossen, den Beteuerungen führender Verfassungsschützer zu glauben, die erwartungsgemäß ihre Dienstvorschriften herunterbeten und auf wiederholten Vorhalt unisono erklären:
    "Eine Abweichung davon? Das kann ich definitiv ausschließen!"
    "Ich komme ja vom Disziplinarrecht her", wirft Richter Maidowski ein und erklärt, dass Sein und Sollen nicht immer zur Deckung kommen. "Und wie kontrolliert man die menschliche Neugier?" Jetzt schalten sich auch die Richterinnen Kessal-Wulf und Hermanns ein, haken nach zum Widerspruch zwischen "Anspruch und Realität". Die Anwälte der NPD stellen nicht einmal den Antrag, die betreffenden Akten ungeschwärzt beizuziehen oder wenigsten die V-Mann-Führer namhaft zu machen.
    Abends gegen halb acht vertagt sich das Gericht. Die "Knaller" aber, die Rechtsanwalt Richter so vollmundig angekündigt hatte, sind keine. Er bevorzugt die geschraubte juristische Fensterrede, mal umständlich, mal geschwollen - immer folgenlos. Der geschickt agierende Vorsitzende lässt ihn gewähren und damit regelmäßig ins Leere laufen. Sollte die NPD am Ende ungeschoren davonkommen, dann nicht wegen, sondern trotz ihres Anwalts.
    Nach dem ersten Tag sind die Rollen verteilt. Dieser Prozess kann wirklich nach der vorab ausgeteilten "Verhandlungsgliederung" des Gerichts abgearbeitet werden; die angesetzten drei Tage könnten tatsächlich ausreichen. Wir sind gespannt auf die Fortsetzung des Prozesses.
    Kommenden Sonntag hören Sie in Essay & Diskurs den zweiten Teil der Sendung.