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Essayband "Verführtes Denken" von Czeslaw Milosz
Abrechnung mit dem Kommunismus

Von Johanna Herzing | 08.06.2015
    Beliebter Dozent in Berkeley und Harvard, ein Dichter von Weltruhm - 1980 mit dem Literaturnobelpreis geehrt - und dennoch, Czeslaw Milosz war ein Leidender, ein Heimatloser:
    "Last summer after 30 years in exile, I returned to Poland. But after what happened in December, I am again a poet in exile."
    Dichter im Exil zu sein, dieses Schicksal hatte Czeslaw Milosz gewählt. Abgesehen von einer kurzen Unterbrechung im Jahr 1981 hatte er es jahrzehntelang zu erdulden. Dabei war Milosz unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs dem Kommunismus nicht ganz abgeneigt und diente der polnischen Regierung einige Jahre als Kulturattaché in Frankreich und den USA. Doch schließlich wandte er sich vom stalinistischen Regime entschieden ab:
    "Es gibt eine Insektenart, die Raupen anderer Insekten stechen und ihnen ein Gift einspritzen. Die so behandelten Raupen leben weiter, obwohl sie gelähmt sind. In ihren Körpern legen nun die Gift-Insekten ihre Eier, und der Leib der Raupen dient der jungen Generation als lebende Speisekammer. In ähnlicher Weise wird dem Geist des Menschen in den Volksdemokratien ein narkotisierendes Mittel eingespritzt: Das ist der dialektische Materialismus. Wenn der Geist präpariert ist, werden dort die Eier der stalinistischen Interpretation abgelegt. Wenn du schon Marxist bist, sagt man dem Patienten, mußt du auch Stalinist sein, denn außerhalb des Stalinismus gibt es keinen Marxismus."
    Trotz solcher scharfen Urteile ist Milosz' Essayband "Verführtes Denken" nicht die Abrechnung eines Geläuterten und Kommunistenfressers. Milosz versucht - nicht zuletzt sich selbst - zu erklären, weshalb so viele Intellektuelle und Künstler eine andere Entscheidung trafen als er selbst. Er schildert ihre Hoffnungen, Ideale und die Verlockungen eines Systems, denen auch er zu Beginn erlag - auch wenn er nie Parteimitglied war:
    "Viele Musiker, Maler und Schriftsteller haben die Gelegenheit, nach dem Westen zu fliehen, nicht benützt, denn sie zogen es vor, ihren Beruf auszuüben, unter welchen Umständen es auch sei, statt in der Fabrik zu arbeiten und auf die Betätigung ihrer Talente verzichten zu müssen. Man kennt im Osten die Rücksichtslosigkeit des Westens gegenüber den Männern der Kunst und Wissenschaft, und man fürchtet sie. Es ist besser, mit einem intelligenten Teufel zu tun zu haben, als mit einem gutmütigen Trottel - so sagen sie."
    In einem mitunter sarkastischen Systemvergleich beschreibt er die Stellung von Kunst, Kultur und Wissenschaft in Ost und West. Er zeigt, welche Privilegien der systemtreue Künstler im Kommunismus erhält, welche Anerkennung und Achtung ihm zuteilwird, wenn er nur die an ihn gestellten Anforderungen erfüllt. Er zeigt, mit welchen Mitteln - nämlich Selbstbetrug, Verstellung, Eskapismus - seine Bekannten und Freunde die Augen verschließen, ihr Wertesystem anpassen, sich in den Dienst des Regimes stellen. Wie sie die Maßgaben des sozialistischen Realismus erfüllen, sich Nischen künstlerischer Freiheit erkaufen, indem sie von Zeit zu Zeit Lobeshymnen auf die Führung, auf Moskau, Marx und den Neuen Menschen verfassen. Die Enge des Geheges, in dem sich Intellektuelle und Künstler bewegen dürfen, verdeutlicht Milosz im Detail und sehr konkret: Alles Metaphysische wird verbannt, die Kunst muss nützlich und sozial sein, wer fantasievoll schreiben will, schreibt Kinderbücher - dort wird weniger streng zensiert als in den übrigen Bereichen:
    "Die lyrische Dichtung ist besonders heftigen Verfolgungen ausgesetzt, denn ihre Quellen lassen sich von denen der Religion nur mit Mühe unterscheiden. Der Dichter darf zwar Berge, Bäume, Blumen beschreiben, sobald er aber beim Erlebnis der Natur jenes Gefühl der Verzückung verrät, wird er gebrandmarkt und muss im Falle der Widerspenstigkeit aus dem literarischen Leben verschwinden."
    "Verführtes Denken" machte Milosz im Westen schlagartig bekannt; ein Umstand, mit dem er haderte, sah er sich doch in erster Linie als Dichter. Für die Oppositionellen in seiner Heimat Polen aber, die Milosz' Werke heimlich von Hand zu Hand weitergaben und verbreiteten, avancierte er schnell zum Helden und moralischen Vorbild. Auf weniger Gegenliebe stieß seine Essaysammlung bei manch anderem Exilanten: Man warf ihm vor, zu milde, zu verständnisvoll zu sein. Heute hingegen ist der 2004 Verstorbene eine Ikone, ein Nationalheiliger, bekannt für seine scharfsinnige Analyse, aber auch für die Weitsicht seiner Lyrik:
    "Du hast Unrecht getan, dem einfachen Mann,
    Brachst in Gelächter aus über sein Leid. (...)
    Wähne dich nicht in Sicherheit. Ein Dichter erinnert sich.
    Wenn du ihn tötest - wird er neu geboren.
    Das Tun und das Sprechen wird alles notiert."
    Czeslaw Milosz: "Verführtes Denken". Antiquarisch erhältlich - etwa als Suhrkamp Taschenbuch, Übersetzung: Alfred Loepfe, 242 Seiten, etwa 8 Euro. ISBN-13: 978-3-518-36778-9