Mittwoch, 24. April 2024

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Essays von Henning Ritter
Das Museum als Schule des Sehens

Henning Ritters posthum erschienene Essays zur Geschichte des Museums zeigen den langjährigen "FAZ"-Ressortleiter als engagierten und kritischen Begleiter der Sammlungen. Dabei würdigt Ritter auch die Vorläufer der heutigen Museen, insbesondere die Wunderkammern des Barock. Denn sie waren in manchem offener für Ungewöhnliches als die Kunsthallen klassischen Zuschnitts.

Von Andrea Gnam | 18.06.2014
    Eine junge Besucherin schaut am Dienstag (21.10.2008) durch ein Objekt der Ausstellung "Optische Wunderwelten" in Hamburg.
    Das Museum zeigt mehr, als auf den ersten Blick erkennbar ist (picture alliance / dpa / Anne Ackermann)
    Fast selbst wie ein Blick in die Wunderkammer der älteren europäischen Kunst kommt Henning Ritters posthum erschienene, aber noch von ihm selbst zusammengestellte Sammlung von Ausstellungskritiken und Essays daher: Von Adam Elsheimer über Rubens zur Neukonzeption der Berliner Museumsinsel bis zu einer euphorischen Begrüßung der Bildwissenschaften als mögliche Nachfolger des Wissensanspruchs der Wunderkammer reicht die Palette.
    Ritter versteht es, große Linien der Kunstentwicklung wie nebenbei in einer Ausstellungskritik zu veranschaulichen. Zum Beispiel gleich zu Beginn, wenn er schildert, dass Adam Elsheimers Bilder trotz ihrer Beschränkung auf die kleine Form monumental komponiert sind und gleichzeitig die Rolle der Druckgrafik in Europa erwähnt, an deren Formatvorgaben sich Adam Elsheimers Miniaturen anlehnen, um besser Verbreitung zu finden. Oder wenn er auf die wohl erste Darstellung der Milchstraße in der Malerei, auf Elsheimers "Flucht aus Ägypten" hinweist, die keine Angst vor dem Offenen erkennen lässt:
    "Das malerische Protokoll über die Milchstraße ist alles andere als eine Kränkung des Menschen, wie man es über die neue Astronomie behauptet hat, es ist vielmehr die Entdeckung der Eigenwelt des Menschen, der von eigenem Licht erfüllten Zufluchtsräume, in die sich die Flüchtlinge aus Ägypten bergen."
    Das Museum zeigt mehr, als auf den ersten Blick erkennbar ist
    Das große Anliegen von Ritters Arbeiten für das Frankfurter Feuilleton - und das zeigt sich in der Zusammenstellung als Schwerpunkt - ist indes nicht die einzelne Ausstellung, sondern die Rolle des Museums als Schule des Sehens. Das Museum in seiner gewachsenen Form, mit chronologischer Hängung und Abteilungen, die Epochen und Schulen zusammenfassen, aber auch Sammlungsschwerpunkte setzen, erlaubt vergleichendes, aber nicht kontrastierendes, oder gar überraschtes Sehen. Und das Museum gibt mehr vor, als auf den ersten Blick erkennbar ist:
    "Das Museum spielt innerhalb unseres Kunstsystems die Rolle einer Verfassung. Die Spielräume für Neubewertungen sind in einem Museum klassischen Zuschnitts begrenzt: Es ist notwendig konservativ, da es keine Werke verkaufen kann und in seinen Neukäufen weitgehend an die vorhandene Struktur der Sammlungen gebunden ist."
    Die alten Wunderkammern der Monarchen und Sammler, die gleichermaßen künstliche wie natürliche Objekte oder naturwissenschaftliche Instrumente ihrer Sammlung einverleibten, arbeiteten nach anderen Ordnungsprinzipien. Hier bestimmten formale Korrespondenzen unabhängig von Datierungsfragen sowie der Geschmack des Besitzers und der Zufall die Fülle des Gezeigten: "Der unersättliche Blick des Kunstliebhabers" ist eine andere Sache als die limitierte Ankaufspolitik von Museen.
    Das Museum als letzte Ruhestätte
    Schon früh wurde zum Beispiel von Chateaubriand vor allem für die Plastik beklagt, dass das Museum nicht nur bewahrt und kulturelles Erbe vor Vandalismus und Verfall schützt, sondern auch dem so Konservierten seinen lebendigen Zusammenhang in Kult und Architektur nimmt. Und obendrein fehlt die vormalige gesellige Rezeption der Skulpturen im Barockpark, die Ritter an anderer Stelle erwähnt. Sehr eigenwillig verfuhr manch früher Museumsdirektor, wie zum Beispiel der Direktor der Berliner Kunstsammlungen Wilhelm von Bode, der, schenkt man dem Bericht Ludwig Justis Glauben, nicht davor zurückschreckte, für den Handel der Galerie den hauseigenen Restaurator zu marktkonformen Übermalungen historischer Werke anzuhalten. So etwa im Falle eines nackten Jesusknaben von Signorelli, der in einen Schal gehüllt wurde:
    "Wir wollen das Bild nach London verkaufen, und so ein nacktes Baby mit ... duldet keine englische Lady in ihrem Salon, deshalb brauchen wir den Schal."
    Henning Ritter erweist sich mit seinem Parcours durch Ausstellungen und deutsche Museumsbauten der letzten 20 Jahre als kundiger und meist kurzweiliger Cicerone, der sich trotz der kleinen Form Zeit lässt, über Einzelnem zu verweilen und damit über die ihm wichtigen Anliegen zu plaudern. Eine Zusammenstellung von kleineren Arbeiten, die separat und über die Jahre publiziert werden, verschafft indes einen genauen Einblick in Vorlieben und Arbeitsweise des Kritikers. Sei es in Themen, die immer wieder dem Leser nahe gebracht werden, wie die Problematik des Museums, das auch ausgrenzt, oder in häufig verwendete Formulierungen. So setzt Ritter gerne einen Begriff aus den Anfängen des Films ein - die "Überblendung" , mit der sich ad hoc Traditionslinien und Brüche beschreiben lassen.
    Manchmal hätte man sich indes doch - auch posthum - einen Eingriff des Lektorats gewünscht, etwa wenn im Mittelteil des Buches, wortgleiche Formulierungen wie in einem Baukastensystem für mehrere, hinter einander abgedruckte Essays verwendet werden. Allzu ausufernde Mehrfachverwertung ist schon an sich kein Ruhmesblatt, in der Massierung im Buch gerät sie für den Leser indes zum Ärgernis. Und all die schönen und pointierten Zitate hätte man doch gerne im Anhang genau nachgewiesen gefunden, ebenso wie im Titel einen Hinweis darauf, dass es sich um eine Sammlung von Essays handelt.
    Henning Ritter: "Die Wiederkehr der Wunderkammer. Über Kunst und Künstler".
    Hanser Berlin, München 2014, 251 S. , 19,90 Euro