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Essaysammlung
Sex, Verbrechen und die jüdische Unterwelt

Der aktuelle Jüdische Almanach dreht sich um Verbrechen und Sex. 19 Essays befassen sich aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln mit dem Thema - persönlich, wissenschaftlich oder in Bezug auf Fernsehen und Film. Ein Beitrag analysiert die Reaktionen auf den Skandal um den jüdischen Produzenten Harvey Weinstein.

Von Kirsten Reimers | 07.01.2020
Buchcover: Gisela Dachs (Hg.): "Sex & Crime. Geschichten aus der jüdischen Unterwelt"
Buchcover: Gisela Dachs (Hg.): "Sex & Crime. Geschichten aus der jüdischen Unterwelt" (Hintergrund: Deutschlandradio/Janine Wergin, Buchcover: Suhrkamp Verlag)
Der Jüdische Almanach zum Thema "Sex & Crime" beginnt mit der Feststellung, "dass Juden in der Diaspora eine geringere Kriminalitätsrate aufweisen als die Durchschnittsbevölkerung der Länder, in denen sie leben". Die Essaysammlung beweist in 19 Beiträgen, dass es sich dennoch lohnt, dem Thema nachzugehen, und zwar sowohl was die kriminellen Aktivitäten von Juden in der Diaspora wie in Israel angeht. Die Autorinnen und Autoren nähern sich sehr unterschiedlich den Fragen nach Sex, nach Crime und deren Kombination: mal persönlich, mal wissenschaftlich, mal mit Bezug auf Literatur, Fernsehen und Film, mal aus juristischem, mal aus theologischem Blinkwinkel.
So befasst sich Robert Rockaway mit der "Kosher Nostra" in den USA der 30 Jahre. Weitere Beiträge fragen, ob das Judentum die Sexualität befreit oder unterdrückt, während andere Rechtsgrundsätze bei der Strafverfolgung von Schwerverbrechern erläutern mit einem Blick auf das jüdische Rechtssystem mit seinen mehr als 3.000 Jahren Geschichte. Auch die Sexualtherapeutin Ruth Westheimer oder der Sexualforscher Magnus Hirschfeld stehen im Mittelpunkt von Essays.
Beschäftigung mit Ängsten, Tabus und Werten
Die Beiträge sind in Stil, Thema und Herangehensweise so heterogen, dass man fast meinen könnte, sie seien lediglich durch den Buchtitel verklammert. Aber das täuscht. Verbrechen und Sex gehören zu den intimsten Themen eines Menschen wie einer Gesellschaft. Über beides zu schreiben, bedeutet, sich mit der Verfasstheit einer Kultur zu beschäftigen, es bedeutet, ihre bewussten wie uneingestandenen Ängste, ihre Tabus und Werte zu hinterfragen.
Deutlich wird dies im Beitrag von Michael Wuliger. Er verweist auf den Finanzbetrüger Bernard Madoff und den Filmproduzenten Harvey Weinstein, der wegen sexueller Nötigung und Vergewaltigung angeklagt ist. Dieser Skandal war Auslöser für die #MeToo-Bewegung. Anhand dieser beiden Fälle erläutert Wuliger, dass Scham und Bestürzung über Verbrechen von Juden in der Diaspora umso größer sind, wenn es sich um Taten handelt, die judenfeindlichen Stereotypen entsprechen. Die Erfahrung aus 2.000 Jahren als verfolgte Minderheit habe einen Angstreflex hinterlassen, möglichst alles zu vermeiden, was Antisemiten einen Vorwand liefern könnte. Wuliger kommt zu dem Schluss:
"Nach allen Statistiken der Kriminologie sind Madoffs und Weinsteins Taten nicht spezifisch jüdisch. Spezifisch jüdisch ist die Angst, sie könnten von Nichtjuden so gesehen werden. Genauer: Sie ist spezifisch Diaspora-jüdisch. Auch in Israel hat die Tatsache, dass Madoff und Weinstein Juden sind, natürlich für besonderes Interesse an ihren Fällen gesorgt. Die Aufmerksamkeit war allerdings vor allem voyeuristischer Natur. Angstbesetzt, wie in den USA, war sie nicht."
Lange vor der Gründung des Staates Israel schrieb der hebräische Nationaldichter Chaim Bialik, der jüdische Staat werde nur dann ein normales Gemeinwesen sein, wenn es dort auch jüdische Diebe und jüdische Nutten gebe. Dies, so Wuliger, sei inzwischen längst erreicht.
Diskrepanz von Ideal und Wirklichkeit
Für den Krimiautor Dror Mishani ist diese israelische Normalität Ausgangspunkt seiner Überlegungen. Dass es so wenige Krimis in hebräischer Sprache gibt, erklärt er zum Teil aus literarhistorischen, gesellschaftlichen wie geschichtlichen Entwicklungen heraus; hinzu käme aber, dass das Heldenbild der israelischen Literatur nicht mit der polizeilichen Realität Israels kompatibel wäre. Der idealtypische Held sei in der Regel ein Mann mit europäischen Vorfahren, dessen Familie dem Holocaust entkommen sei, er selbst habe in der Armee in einer der Eliteeinheiten gedient und sei später dem Mossad beigetreten. Mishani stellt fest:
"Leider kann die Hauptfigur in einem realistischen Krimi in Israel diese Biografie nicht haben. Die israelische Polizei besteht seit ihren Anfängen hauptsächlich aus Mizrachim, also Israelis, die aus arabischen oder muslimischen Ländern nach Israel eingewandert und in den sozialen und kulturellen Peripherien aufgewachsen sind. Entsprechend ist in Israel das Bild von der Polizei und den Polizisten nicht glorreich."
Ein Autor, der in Israel realistische Kriminalliteratur schreiben wolle, so Mishani, müsse also entweder die Realität beugen und einen idealtypischen Literaturhelden als Ermittler wählen oder einen Mizrachim-Kommissar in den Mittelpunkt stellen, der sich am Rand der Gesellschaft bewegt, was aber auf Kosten des Erfolgs gehen könne.
Krimi als Seismograf der Gesellschaft
Der Kriminalroman wird so zum Seismograf der Gesellschaft: Er macht nicht nur die Diskrepanz zwischen Ideal und Wirklichkeit bewusst, sondern auch gesellschaftliche Strukturen.
Ganz anders stellt sich diese Frage dem Schweizer Krimiautor Alfred Bodenheimer. Sein Ermittler ist der Rabbiner Gabriel Klein in Zürich. Dieser agiert in der Mitte der Gesellschaft, ist also mit ganz anderen Fragen konfrontiert. Dennoch funktioniert auch bei Bodenheimer der Krimi als gesellschaftliches Analyseinstrument. Bodenheimer sagt über seinen Ermittler:
"Ein Kriminalfall ist für ihn ein Symptom einer ethisch aus den Fugen geratenen Gesellschaft, das grauenhafte Fehlschlagen jeder verbliebenen Form von kommunikativem Verhalten (…)."
"Stalag Fiction" als Spiegel von Unsicherheiten
Das gilt nicht nur für literarisch hochwertige Krimis wie jene von Bodenheimer und Mishani, sondern auch für Schund- und Heftchenliteratur, wie der Beitrag von Oded Heilbronner anhand der sogenannten "Stalag Fiction" zeigt. Das ist ein Genre der fünfziger und sechziger Jahre, das besonders in Israel erfolgreich war. Mittels expliziter Schilderungen von Sex und Gewalt in imaginierten nazideutschen Gefangenenlagern, den sogenannten Stammlagern, kurz "Stalags", spiegelt es die Unsicherheiten und Ängste der israelischen Bevölkerung wider, wie mit dem Holocaust und mit dem Deutschland der Nachkriegszeit umgegangen werden könne.
Die Beiträge des Jüdischen Almanachs zu "Sex & Crime" überschneiden sich und ergänzen einander, sie machen durch ihre unterschiedlichen Ansätze Kontroversen und Widersprüche sichtbar, zum Beispiel wenn es um patriarchale Strukturen in der jüdischen Kultur geht. Dieses Nebeneinander zeigt nicht nur Ängste, Hoffnungen und Werte jüdischen Lebens in der Diaspora wie in Israel, sondern macht auch Unterschiede und Gemeinsamkeiten deutlich. Hinter der fast schon abgegriffen anmutenden Zwillingsformel "Sex & Crime" scheint so eine große Bandbreite an aktuellen Themen, relevanten Fragen und überraschenden Antworten auf. Das ist ebenso lehr- und aufschlussreich wie unterhaltsam.
Gisela Dachs (Hg.): "Jüdischer Almanach: Sex & Crime. Geschichten aus der jüdischen Unterwelt"
Suhrkamp Verlag, Berlin. 206 Seiten, 20 Euro.