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Esskultur
Der Mensch als kochendes Wesen

Was Menschen in einer bestimmten Region und Epoche essen und was nicht, ist Ausdruck ihrer Kultur. Welchen Einfluss haben historische und soziale Wendepunkte, woher kommen die Moden und Trends beim Essen? Damit haben sich Experten am Rachel Carson Center in München befasst.

Von Hellmuth Nordwig | 17.03.2016
    Frau steht mit Ofenhandschuhen an den Händen vor einem Backofen und schaut hinein.
    Essen ist fertig! (imago stock & people)
    Welche Nahrungsmittel wählen wir aus, wie bereiten wir sie zu und wie verzehren wir sie? Erst in jüngerer Zeit sind solche Fragen rund um die Esskultur ein Thema für die Forschung, sagt Professor Christof Mauch. Er leitet das interdisziplinäre geistes- und sozialwissenschaftliche Rachel Carson Center in München.
    "In den letzten Jahrzehnten haben wir bemerkt, dass, was wir essen, auch Ausdruck dessen ist, wer wir sind. Schon allein die Tatsache, dass wir kochen, definiert den Menschen. Es gibt auch den Begriff des "cookivores". Der Mensch kann eher definiert werden darüber, dass er ein kochendes Wesen ist, als darüber, dass er ein sprechendes Wesen ist. Also das unterscheidet uns von den Tieren ganz fundamental."
    In der Esskultur gibt es dabei vor allem eine Konstante, nämlich den ständigen Wandel. Historische Ereignisse wie Kriege oder Wanderungsbewegungen können zweierlei bewirken: Bestimmte Nahrungsmittel tauchen plötzlich neu auf dem Speiseplan auf. Etwa die russische Soljanka in der DDR oder Spaghetti, die mit den italienischen Gastarbeitern in die Bundesrepublik gekommen sind. Auf der anderen Seite bedeutet gerade Krieg auch Entbehrung und Bescheidenheit auf dem Speisezettel. Die Köchin und Buchautorin Ursula Heinzelmann hat sich mit der Geschichte der Küche in Deutschland beschäftigt und nennt ein Paradebeispiel: den Dreißigjährigen Krieg.
    Die Esskultur hierzulande: schlichte, kostengünstige Gerichte
    "Weil der Dreißigjährige Krieg einer der vielen Einschnitte war, wo Menschen gelernt haben, mit Mangel umzugehen: Food-Systeme, die sehr ausgewogen waren aus dem Mittelalter, die auch hoch ausgeklügelt waren und sehr balanciert, sind damit vollkommen aus den Angeln geworfen worden."
    Und das prägt die Esskultur hierzulande bis heute. Sie steht nämlich nicht zuletzt für schlichte, kostengünstige Gerichte - etwa Kohlrouladen oder Eintopf mit Kartoffeln und Linsen. Beide haben es aber nicht zu einem Nationalgericht gebracht. So etwas gibt es ebenso wenig wie eine deutsche Küche. Denn die ist traditionell regional geprägt - von der Holsteiner Frischen Suppe über die Bratwurst aus Thüringen und Franken bis zum rheinischen Sauerbraten.
    "Die Vielfalt ist das, was uns Deutsche beim Essen auszeichnet. Dass wir gelernt haben, mit dieser Vielfalt umzugehen. Die meiste Zeit, wenn man den großen Blick zurück richtet, haben wir uns offen verhalten und haben viel aufgenommen."
    So sind die bereits erwähnten Spaghetti mit Tomaten oder Bologneser Soße heute Umfragen zufolge das Lieblingsgericht der Deutschen; auch Pizza und Lasagne stehen auf den vorderen Plätzen. In anderen Ländern haben Einwanderer ebenfalls die Küche beeinflusst. Ein Beispiel schildert Dr. Hanna Schösler von der Universität Bayreuth, die in den Niederlanden forscht.
    "Ich habe mir selber chinesische und türkische Migranten angeschaut, die natürlich ihre eigene Esskultur mitbringen und damit auch natürlich die niederländische Esskultur geprägt haben. Man könnte sagen: Das ist ein Mix aus unheimlich vielen verschiedenen Einflüssen. Die indonesische Reistafel zum Beispiel ist ein fester Bestandteil der niederländischen Esskultur."
    Moden und soziale Trends beeinflussen die Esskultur ebenfalls
    Migration hinterlässt also nicht zuletzt in Kochtopf und Pfanne ihre Spuren. Aber nicht immer sofort. Zum Beispiel haben die ersten chinesischen Einwanderer in Kalifornien die sehr einfache kantonesische Küche mitgebracht. Doch im Südwesten der USA konnte sie bis weit ins 20. Jahrhundert hinein nicht Fuß fassen, erzählt Christof Mauch.
    "Aber ab den 70er-Jahren kam eine ganz andere Klasse aus China, die etwas despektierlich auf dieses kantonesische Essen heruntergeschaut hat, die aus anderen Regionen kam, etwas globaler orientiert war und einen anderen Bildungsstand hatte. Und da zeigt sich, dass Essen nicht nur ein kultureller Ausdruck ist, sondern dass Essen ganz stark auch verbunden ist mit der Frage nach gesellschaftlichem Aufstieg. Zum populären Essen wurde die chinesische Küche erst ab den 1980er-Jahren, als der "Panda Express", diese an McDonald's etablierte Kette, etabliert wurde. In neuester Zeit sieht man, dass sich eine "Asian fusion"-Küche entwickelt, also eine, die Elemente aufgreift aus Asien, aus der Karibik und die teilweise mit europäischen Einflüssen verbindet. Tatsächlich ist es so, dass Essen permanent eine Kultur im Fluss ist."
    Moden und soziale Trends beeinflussen die Esskultur also ebenfalls. Zurzeit beobachten die Experten vor allem zwei solche Strömungen. Da ist einmal die Reaktion auf eine historische Veränderung unserer Zeit, die Globalisierung. Industriell hergestellte Lebensmittel werden weltweit verfügbar, und das zeitigt wiederum das Bedürfnis nach traditionellen Produkten. Die werden gerne als regional beworben, selbst wenn sie längst nicht mehr in der Region produziert werden. Ursula Heinzelmann beobachtet:
    Korrektes Essen soll nicht nur satt machen, sondern auch die Welt retten
    "Eine Sehnsucht nach einer angeblich besseren, naturnahen Welt, die irgendwie immer etwas mit der Vergangenheit zu tun hat. Das Interessante ist: ungefähr vor hundert Jahren genau das Gleiche. Als Reaktion auf die extrem schnelle Industrialisierung, die mit einer extrem schnellen Verstädterung einherging, ist die Lebensreform-Bewegung entstanden."
    Von der heute noch die Reformhäuser künden. Auch das Vollkornbrot hat seinen Ursprung in dieser Zeit. Zurück zum Vertrauten, Überschaubaren, das ist also der eine Trend in der derzeitigen Esskultur. Der zweite besteht darin, dass mit der Auswahl der Nahrungsmittel ganz bewusst Werte und ethische Ziele verknüpft werden: Wer sich "bio" ernährt, unterstützt eine nachhaltige Landwirtschaft ohne Antibiotika und Pestizide; wer das Klima schützen will, verzichtet auf das Fleisch der Methan ausstoßenden Rinder; Vegetarier und Veganer stehen mit ihrem Essverhalten für den Tierschutz ein. Korrektes Essen soll heute oft nicht nur satt machen, sondern auch die Welt retten - und den Essenden selbst gleich mit. Denn über allem schwebt ja noch das Dogma, sich möglichst gesund zu ernähren. Die Bayreuther Forscherin Hanna Schösler sagt dazu:
    "Was ich sehr interessant gefunden habe in den letzten Jahren: Dass in der Wissenschaft der Begriff aufkam der säkularen Religion. Also dass Essen als eine Art Ersatzreligion propagiert wird, mehr und mehr diesen Status bekommt. Das hat einfach damit zu tun, dass wir diese enorme Diversität haben und Menschen einfach auf der Suche sind nach Orientierung. Das ist eine wichtige Entwicklung, dass es wirklich den Charakter einer Ersatzreligion für viele Leute bekommen hat."