Donnerstag, 25. April 2024

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Estela Canto: Borges im Gegenlicht

"Von seinen ersten Arbeiten an zeigte er sich rätselvoll und widersprüchlich." Mit diesen Worten leitet die argentinische Schriftstellerin Estela Canto ihr Buch über Jorge Luis Borges ein. Sie tut gut daran, mit einer so weitgefaßten, in viele Richtungen hin ausdeutbaren Mitteilung zu beginnen. Denn nichts könnte einen Leser, der Neues erfahren will über diesen großen Autor Argentiniens, mehr erschrecken als der Gedanke, von einer auskunftswilligen Gefährtin über die privaten Seiten ihres berühmten Geliebten informiert zu werden.

Gisela von Wysocki | 05.06.1998
    Es ist Estela Canto glücklicherweise gelungen, den Verlockungen der weiblichen Informantenrolle zu entgehen und sich von der spektakulären Rhetorik der nahestehenden Geliebten fernzuhalten. Ihr Buch taucht tief in den Aufbau, man könnte auch sagen, in die Methodologie der Borgesschen Seelenverfassung ein. Zugegebenermaßen, das beste Auskunftsmittel darüber ist mit Sicherheit die Literatur eines Autors, sein eigener Text. Aber vielleicht ist die Beschreibung einer Frau, die ihn als reinen Privatier, als männlichen Begleiter zwischen Kino, Park, Caféhaus und Promenade erlebt hat, die zweitbeste Möglichkeit. Es ergeben sich, aus der Ungezwungenheit der Begegnungen und Anlässe heraus, unreglementierte Situationen, unbeabsichtigte Momente: Freiräume, in denen es zu Verschärfungen und plötzlichen Verdeutlichungen der inneren Antriebskräfte der Personen, ihrer Muster und Strukturen kommt.

    Eine solche unvermutete Situation stellte sich beispielsweise ein, so berichtet Estela Canto, als sie mit Borges eines Abends, beide ins Gespräch vertieft, in Buenos Aires auf einer Parkbank saß. Sie sahen sich auf einmal einem Polizisten gegenüber, der sie, ohne große Umstände zu machen, wegen "Erregung öffentlichen Ärgernisses" ins nächste Polizeirevier abführte. Während Estela Canto diesen Vorfall als Beispiel für die diktatorischen, unzumutbaren politischen Verhältnisse in Argentinien verbuchte, quälte sich Borges mit Skrupeln und Selbstvorwürfen herum. Für ihn, so die Canto, stellten öffentliche Situationen, gesellschaftliche Zusammenhänge ein Buch mit sieben Siegeln dar. Hier leitete ihn nicht eigene Anschauung, eigenes Erleben, sondern die überkommene Idee sozialer Fleckenlosigkeit.

    In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage neu, welche Bedeutung für Jorge Luis Borges der Umstand seiner schwindenden Sehkräfte gehabt hat. Man könnte auf den Gedanken kommen, daß seine Blindheit die Züge eines Nicht-Sehen-Wollens an sich hatte; beinahe den Charakter einer Errungenschaft besaß. Wie man weiß, hat Borges sich niemals verzweifelt, niemals aufbegehrend über seinen Zustand geäußert. Nach den Ausführungen Estela Cantos muß man jedenfalls für möglich halten, daß der Dichter in seine Blindheit hinübergewechselt ist wie in ein Exil.

    Gefragt, wie er sich das Paradies vorstelle, soll er geantwortet haben: wie eine Bibliothek. Ein Saal, in dem die Natur keinen Zutritt hat. Und er habe hinzugefügt, er habe im Laufe seines Lebens niemals wirklich die Bibliothek seines Vaters hinter sich gelassen. Der dunkle, von Büchern besetzte Raum mag Sicherheiten versprochen haben, die, in Verbindung mit der Blindheit der Augen, eine vertiefte, von den Episoden der Wirklichkeit gereinigte Weltsicht versprach. Aber sie mag ihn auch geschätzt haben vor der Undurchschaubarkeit des Alltäglichen; vor Anforderungen des politischen Lebens, denen er, so Estela Canto, mit Naivität und Ungeschick gegenüberstand.

    Die patriarchale Figur des großen Argentiniers ist von Estela Canto in ihrem Buch weder geschmäht, noch der Lächerlichkeit preisgegeben worden. Trotzdem gelingt es ihr, die Züge des Konventionellen und Unbewußten in der Person des Dichters bloßzulegen. Ihr Bericht führt die Abhängigkeiten und Verstrickungen des argentinischen Autors auf eine Art und Weise vor Augen, die sowohl ihn schärfer sehen lassen als auch die kulturellen Bedingungen, denen er entstammt: Machismus, Misogynie, musketierhafte Waffenverehrung.

    Estela Canto stellt sich zu Recht die Frage, welche Art der Anziehung es gewesen sein mag, die Borges ihr gegenüber empfunden hat. Ihre Vermutung: die uneingestandene Sehnsucht dieses Mannes, "aus seinem bisherigen Leben auszubrechen". Sie, die junge, unabhängig lebende Journalistin und Schriftstellerin, besaß in der Tat eine Reihe von Eigenschaften, die sie in scharfe Opposition brachte zu den Existenzformen ihres berühmten Kollegen. Mit der Person der modern denkenden, zur Demokratie und Aufklärung sich bekennenden Intellektuellen waren für Borges unerlaubte Phantasien verknüpft. In ihnen verschmolzen das Leben der Bohème und die obskure Sphäre der Unterwelt. Von beiden fühlte Borges sich magisch angezogen, wie in zahlreichen Gedichten und Erzählungen zum Ausdruck kommt. Die Welt des Dichters, katholisch, heroisch, vom Pathos der Reinheit beherrscht und von der Person der Mutter rigide unter Kontrolle gebracht, verlangte nach einer Gegenwelt.

    Estela Canto, ausgezeichnet mit dem argentinischen Nationalpreis für ihren Roman "Die Marmorwand", verstand es, ihm diese Welt zu öffnen. Ihre engagierte Betrachtungsweise neuerer Literatur oder des Kinos von Sergej Eisenstein präsentierten dem Freund andere Lesarten der Kunst und des Lebens: liberal, antiklerikal. Dennoch, die Auseinandersetzungen über die Rollen von Mann und Frau in Argentinien, über das Ausmaß der Ahnenverehrung in diesem Land und über die Zuchtrute des Katholizismus fanden bei Borges zwar eine gewisse Aufmerksamkeit, wurden aber fast immer zugunsten der Tugend, der Tarnung und der Tradition entschieden.

    Hellsichtig seinen Schwächen gegenüber, erkennt die Autorin, daß die Welt keinen Borges kennengelernt hätte ohne sein patriarchales Land, ohne den unerbittlichen Vater und die rücksichtslos possessive Mutter. Borges hat ihnen in der Wirklichkeit keinen Widerstand entgegengesetzt. Sein Werk überspringt diese Ebene: indem ihm alles zur mythischen Wahrheit wird.