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EU-Abgeordneter fordert "gemeinsame europäische Anleihen"

Der Grünen-Politiker Sven Giegold wirft der Bundesregierung eine Blockadehaltung in der europäischen Finanzkrise vor. Um Ländern wie Griechenland aus dem Tal zu helfen, seien europäische Anleihen ein probates Mittel - doch Kanzlerin Merkel verweigere sich der Mehrheitslösung.

30.05.2011
    Gerwald Herter: Gefährdet die Spaltung des Arbeitsmarkts tatsächlich unsere soziale und demokratische Stabilität? Das behauptet der frühere Finanzminister Peer Steinbrück (SPD). In der Zeit schreibt er von der Erosion des Normalarbeitsverhältnisses. In dieser Hinsicht steht Deutschland leider nicht alleine da. Proteste in Griechenland oder Spanien zeigen es: Gerade jüngere Menschen leiden besonders darunter, keine normalen Jobs, oder gar keine Jobs mehr zu bekommen. Womöglich zeigt uns der Protest der "working poor" in anderen europäischen Ländern, was auch Deutschland droht. Anlass genug für den Deutschlandfunk, in der Sendung "Europa heute" in dieser Woche immer um 9:10 Uhr genauer hinzuschauen. Sie werden dort heute und in den kommenden Tagen Reportagen aus jenen Ländern hören, in denen gerade junge Menschen auf die Straße gehen.

    Ich habe über die Euro-Wut und die Proteste jener, die einfach außen vor bleiben, mit Sven Giegold gesprochen. Er hat in Deutschland das Netzwerk Attac mitbegründet und ist Europaabgeordneter. Im Europaparlament arbeitet er im Ausschuss für Wirtschafts- und Währungsfragen und ist hier Obmann, also Koordinator der Grünen. – Herr Giegold, in den vergangenen Monaten haben wir uns darüber gewundert, dass die Proteste in arabischen Ländern kein Ende mehr nehmen. Experten haben uns erklärt, dass es da sehr viele junge Menschen ohne jede Perspektive gibt. Spätestens mit den Protesten in Spanien muss man wohl sagen, das ist auch in europäischen Ländern so. Was hat dazu geführt?

    Sven Giegold: Ja! Guten Tag, Herr Herter. – Also zunächst mal ist es so, dass in Spanien die Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise besonders spürbar sind, und es ist schon fast traditionell in diesen Ländern, dass während bei uns Arbeitslose eher ältere Menschen sind, das in Spanien eher die jüngeren sind, die vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen werden. Aber die Leute dort gehen nicht nur auf die Straße wegen des Arbeitsmarktes, sondern wie Freunde mir dort berichten, ist es einfach so, dass die zutiefst ungerecht finden, wie beide großen Parteien daran gescheitert sind, die entsprechenden Konsequenzen aus der Krise zu ziehen. Die Reformen werden als sehr ungerecht empfunden, die Menschen haben das Gefühl, die Banken bekommen im Grunde jede Menge Geld von den normalen Menschen und es werden die Sozialsysteme zusammengekürzt, um die Probleme, die die Banken eigentlich mal mit exzessiven Kreditvergaben erzeugt haben, zu lösen. Das ist also nicht einfach nur eine arbeitsmarkterzeugte Protestwelle, sondern es geht sehr stark um Gerechtigkeitsverhältnisse.

    Herter: Es geht aber auch um den Arbeitsmarkt, und eine Folge ist, dass in Spanien, Portugal, Irland auch immer mehr Leute auswandern. Es sind Hunderttausende, die ihrem Land den Rücken kehren. Ist das die einzige Lösung?

    Giegold: Ja, das stimmt. Aber das ist nicht, was die Menschen dort zuerst fordern. Also wenn man die Forderungen der Leute selbst liest und anhört und das ja auch erst mal ernst nimmt, so wie sie gestellt werden, dann ist die Bewegung des 15. Mai in Spanien heißt "Wahre Demokratie jetzt", und die erste Forderung in ihrer Forderungsliste ist die Abschaffung aller Privilegien für die, so wie sie es nennen, politische Klasse und der Kampf gegen die Korruption, und im Bereich der Arbeitsmärkte fordern sie halt natürlich besseren Zugang für junge Leute und, was ich sehr interessant finde, das fairere Aufteilen der Arbeit. Denn wenn man mal schaut, wie hier in der Krise reagiert wurde, war es ja so, dass die Kurzarbeit eingeführt wurde. Das ist ja nichts anderes, als dass in der Krise weniger Arbeit da ist und man die fairer aufteilt und dadurch Entlassungen vermeidet. Das wurde in Spanien genau nicht gemacht, und das fordern dort im Grunde jetzt die jungen Leute, faire Aufteilung der Arbeit, statt eben immer höhere Belastungen zur Finanzierung der Banken und der Finanzwelt.

    Herter: In Griechenland spricht man von der 600-Euro-Generation. Nur etwa jeder zehnte Auszubildende kann dort gleich in ein Arbeitsverhältnis wechseln, jeder dritte sucht mindestens vier Jahre nach einem Job. Ein ähnliches Phänomen wie in Spanien, oder betrachten Sie das anders?

    Giegold: Doch. Die Prekarisierung oder die unsicheren Arbeitsverhältnisse von jungen Menschen, das ist in Griechenland genau das gleiche. Ich hatte politische Veranstaltungen gemacht, zweimal in Griechenland; dort waren auch jeweils Betroffene, die das sehr eindrücklich schilderten, bestens ausgebildet von der Universität und dahinter in der Tat ein Job in der Größenordnung 600, 700 Euro. Und dann muss man wissen: In Athen ist es eher teurer als in Berlin. Das heißt, es war sehr glaubhaft, dass die sich überhaupt nicht leisten konnten, mit anderen Leuten auszugehen, oder auch Grundbedürfnisse zu befriedigen. In Spanien zum Beispiel deshalb auch die Forderung nach günstigem Wohnraum, damit junge Leute überhaupt die Möglichkeit haben, von ihren Eltern auszuziehen. Insofern ja, diese Prekarisierung haben wir in sehr, sehr vielen europäischen Ländern.

    Herter: Sie sagen, haben es gerade kurz erwähnt, traditionell ist es in den südlichen Ländern so, dass eher jüngere Leute arbeitslos werden. Können ältere Menschen dort ihre Besitzstände besser verteidigen?

    Giegold: Ja, es hat natürlich ganz verschiedene Gründe. Also zum einen sind die regulären Jobs, die es gibt, die eben relativ wenig zahlreich sind. Dort ist es schwer, jemanden zu entlassen. Das heißt, in der Tat ist es so, dass die Arbeitsmärkte auf der Seite wenig flexibel sind und die Flexibilität der Arbeitsmärkte kommt einfach durch einen großen Niedriglohnsektor mit schlechter sozialer Absicherung. Gleichzeitig ist es eben diesen Ländern nicht gelungen, das günstige Geld, was sie durch den Euro bekommen haben, wirklich in die Schaffung guter Arbeit zu investieren, sondern es wurde eine riesige Baublase erzeugt und die ist jetzt geplatzt und dadurch gibt es Massenarbeitslosigkeit.

    Herter: Sie sprechen es an: Spanien, Griechenland, Irland, Portugal, alle diese Länder gehören zur Euro-Zone. Können diese Länder deshalb nicht flexibel oder nicht mehr flexibel reagieren, wenn es um die Abfederung von Krisen geht?

    Giegold: Das stimmt schon. Normalerweise wäre jetzt angesagt, dass Deutschland und die Niederlande und einige andere aufwerten und die Länder in Südeuropa abwerten. Das ist jetzt nicht mehr möglich und das bedeutet, die Flexibilität muss jetzt hergestellt werden innerhalb der jeweiligen Währung. Und das Problem ist, dadurch, dass wir gemeinsam den Euro haben, bedeutet das eben, solange wir nicht bereit sind, wieder mehr nachzufragen – und wir haben ja auch 25 Prozent der Beschäftigten in Niedriglohnjobs; die können auch nicht in den Urlaub fahren nach Spanien, nach Griechenland und so weiter -, wenn wir nicht bereit sind, mehr nachzufragen, müssen die Löhne und Kosten in den südlichen Ländern umso mehr sinken. Und das ist eben das, was so schmerzhaft ist, was man eine interne Abwertung nennt, und genau an der Stelle wäre eine Anpassung, die gleichmäßiger ist, richtig und die Position Deutschlands, sich dagegen vollständig zu verweigern, blockiert derzeit auch unsere Verhandlungen zur Euro-Rettung im Europäischen Parlament.

    Herter: Sitzen wir alle in einem großen Euro-Gefängnis?

    Giegold: Nein! Das würde ich überhaupt nicht so formulieren, sondern es gab schon immer große Probleme mit den Währungen. Man soll das nicht schön reden. Vor dem Euro hatten wir ja viele Auf- und Abwertungskrisen in Europa, die auch sehr schmerzhaft waren für die Länder. Unsere Wirtschaften sind so eng miteinander verflochten, eine gemeinsame Währung macht Sinn. Aber das macht nur Sinn, wenn wir gleichzeitig auch eine starke gemeinsame Wirtschafts- und Finanzpolitik haben, und das haben wir eben nicht. Wir haben den Euro geschaffen, aber ohne wirklich eine gemeinsame Wirtschaftsregierung oder eine Wirtschaftsunion, und das muss sich jetzt ändern. Dazu gehört zuvorderst auch, dass die schwächsten Länder wie Griechenland und Spanien nicht die höchsten Zinsen bezahlen müssen, während die stabilsten Länder, denen es ohnehin relativ gut geht, wie Österreich, Finnland, Deutschland und so weiter, die niedrigsten Zinsen bezahlen. Ich glaube, wir brauchen recht dringend etwas wie gemeinsame europäische Anleihen, damit können wir auch Spanien helfen, besser aus der Krise zu kommen.

    Herter: Und dafür setzen Sie sich im Europaparlament ein?

    Giegold: Dafür setze ich mich ein, aber wir haben auch eine Mehrheit im Europaparlament für solche gemeinsamen Anleihen. Das wird leider von der Bundesregierung blockiert, die sagt, das dürfen wir auf keinen Fall machen. Das geht ja schon seit Beginn der Finanzkrise so, dass die Merkel-geführte Bundesregierung immer wieder sich den Dingen verweigert. Und dadurch, dass man Notwendiges später tut, läuft man immer hinter der Krise hinterher, statt beruhigend zu wirken. Das ist etwas, was viele Kollegen im Europaparlament aus verschiedenen Ländern uns Deutschen schwer ankreiden.

    Herter: Sie haben aber die Bundesregierung auch gelobt, für die Regelung der Kurzarbeit zum Beispiel. Was würde uns denn drohen, wenn Gesellschaften in Südeuropa auseinanderfallen?

    Giegold: Also ich sage es mal so: Mir geht es nicht darum, grundsätzlich die Bundesregierung zu kritisieren, sondern ich finde, gerade Opposition bedeutet, auch sagen zu können, wenn etwas gut ist und wenn etwas schlecht ist. Und dass genau dieses Klima von Schematischem, die Opposition ist immer gegen alles, was die Regierung sagt, das ist etwas, was viele Menschen politikverdrossen macht. Davon halte ich daher nichts. Aber was muss man tun? – Also ich glaube, die Gefahr ist wirklich groß, wenn die südeuropäischen Länder es nicht schaffen, sich schnell genug zu reformieren, dann ist in der Tat die Gefahr groß, dass das europäische Projekt insgesamt darunter leidet, denn man soll das nicht vergessen. Wenn jetzt Griechenland ein Staatsbankrott droht, und dann die Spekulation sich als Nächstes fragt, welches nächste europäische Land wird es nicht schaffen, dann kann es in der Tat sein, dass der Gedanke der europäischen Einigung insgesamt Schaden nimmt, auch deshalb, weil wenn die Länder es nicht schaffen, dann werden wir ja auf den Defiziten sitzen bleiben, dadurch, dass wir den Ländern ja Geld geliehen haben und das nicht zurück bekommen. Das heißt, zu investieren in eine gemeinsame europäische Zukunft, statt hinter der Krise hinterherzulaufen und geizig zu sein, das wäre deutlich klüger, weil daran hängt auch der europäische Gedanke.

    Herter: Das war der Grünen-Europaabgeordnete Sven Giegold, Mitbegründer von Attac, über die Proteste in vielen europäischen Ländern. Herr Giegold, vielen Dank. Und mehr dazu, zu diesem Thema in dieser Woche täglich in "Europa heute" ab 9:10 Uhr hier im Deutschlandfunk.

    Giegold: Vielen Dank, Herr Herter.

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