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EU-Abkommen mit der Türkei
"Ein klassischer Konflikt zwischen Werten und Interessen"

Die Chancen auf ein Abkommen zwischen der EU und der Türkei stünden grundsätzlich nicht schlecht, sagte der Europaexperte der Bertelsmann-Stiftung, Joachim Fritz-Vannahme, im DLF. Hier gebe es aber einen "relativ klassischen Konflikt zwischen Werten und Interessen". Bundeskanzlerin Angela Merkel gehe es jetzt darum, die europäische Außengrenze in der Ägäis zu stabilisieren.

Joachim Fritz-Vannahme im Gespräch mit Doris Simon | 16.03.2016
    Bundeskanzlerin Angela Merkel während ihrer Regierungserklärung im Bundestag
    Bundeskanzlerin Angela Merkel während ihrer Regierungserklärung im Bundestag (dpa / picture-alliance / Michael Kappeler)
    Doris Simon: Die Bundeskanzlerin glaubt weiterhin an eine dauerhaft tragfähige Lösung und auch Jean-Claude Juncker, der EU-Kommissionspräsident, rechnet mit einem Durchbruch beim EU-Gipfel über das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei. Das hat er dem morgigen "Handelsblatt" gesagt. Aber längst nicht alle sind so zuversichtlich, dass es zu diesem Pakt kommt, wo die Türkei Migranten zurücknimmt und im Gegenzug Syrer auf sicherem Weg in die EU gelangen und es dafür Visafreiheit oder weitgehende Erleichterung für türkische Bürger geben wird. Darüber habe ich gesprochen mit Joachim Fritz-Vannahme. Er ist Direktor des Europaprogramms der Bertelsmann-Stiftung. Und ich habe ihn gefragt, wie er die Chancen einschätzt, dass es zu einem solchen Pakt mit der Türkei kommt.
    "Merkel ist an diesem Kampfgetümmel nicht ganz unschuldig"
    Joachim Fritz-Vannahme: Die Chancen stehen nicht schlecht. Aber ob das bei diesem Gipfel schon wirklich funktionieren und klappen könnte, da bin ich wiederum sehr skeptisch, denn Angela Merkel hat sich zwar, wie wir heute im Bundestag gesehen haben, mit stoischer Ruhe gewappnet, beim Klang des Kampfgetümmels da draußen, aber an diesem Kampfgetümmel ist sie ja nicht ganz unschuldig, denn sie hat vor gerade mal einer Woche in einem mehr oder weniger Alleingang zusammen mit dem niederländischen Regierungschef und dem türkischen Ministerpräsidenten einen Lösungsvorschlag gezimmert, den alle anderen 26 EU-Mitglieder erst hinterher zu Gesicht bekamen und darüber nicht schlecht erstaunt, um nicht zu sagen verdutzt bis erbost waren. Und die Liste derer, die da gesagt haben, so nicht und nicht mit uns, die ist ziemlich lang geworden. Ich zähle so grob etwa ein Drittel aller EU-Mitglieder, die sich zu erkennen gegeben haben. Das sind aber noch nicht mal unbedingt alle.
    Simon: Jenseits der Vorgehensweise, die Sie gerade beschrieben haben, aus welchen Gründen lehnen andere Mitgliedsstaaten den Deal ab? Ist das mehr die Angst vor einer Annäherung der Türkei an die EU, die ihnen zu weit geht oder mehr die Sorge um eine Auslieferung der EU an die Türkei?
    "Es gibt die verrücktesten Zufallsallianzen"
    Fritz-Vannahme: Es gibt beides und es gibt dann natürlich auch die verrücktesten Zufallsallianzen, die sich bilden. Wenn man in die französische Politik hineinhört, den französischen Premierminister hört, den schweigenden Präsidenten hört, der ja so laut schweigt, dass es schon wieder auffällt, dann ist die Position Frankreichs nicht so schrecklich weit weg von dem, was wir auch heute zum Beispiel im Bundestag von der CSU gehört haben. Da werden auf einmal Werte hochgehalten, da wird der autoritäre Stil von Erdogan und die autoritären Neigungen der Türkei kritisiert, alles Dinge, die im Übrigen richtig sind. Meine eigene Stiftung hat in jüngsten Publikationen darauf auch hingewiesen, wie schlecht es um Meinungsfreiheit, um Versammlungsfreiheit in der Türkei bestellt ist. Wir haben hier einen relativ klassischen Konflikt zwischen Werten und Interessen. Die sind aber nicht mehr sehr sauber zu trennen, weder im Einzelfall bei einem einzelnen Land, noch innerhalb eines einzelnen Landes, weil auch da die Fronten inzwischen längst nicht mehr geschlossen, sondern aufgeweicht worden sind. Und das macht es manchmal so schwierig in der Prognose zu sagen, na ja, über den Umweg oder über den Kompromiss könnten sie sich in typischer EU-Manier dann innerhalb der nächsten zwei, drei Tage doch soweit einig werden und zumindest soweit nahe kommen, dass da hinterher ein sinnvolles Ergebnis herauskommt.
    Simon: Wenn Sie den Konflikt ansprechen, Werteinteressen bei einem möglichen Pakt mit der Türkei, macht sich denn Ihrer Meinung nach die EU erpressbar?
    Fritz-Vannahme: Ich glaube nicht. Ich glaube, dass die Türken sehr deutlich formuliert haben, wo ihrerseits ihre Interessen liegen, und von da an reden wir übers Geschäft, um das mal ein bisschen trocken, vielleicht auch ein bisschen zynisch zu sagen. Es haben natürlich nicht alle Unrecht, sich im Moment über die Kanzlerin, ich sage es mal vorsichtig, zu wundern, denn im Sommer 2015 hat sie noch sehr deutlich im Alleingang sich auf europäische Werte berufen und sich dafür durchaus auch Beifall gesichert. Es waren ja viele, die gesagt haben, mein Gott, was hat die Kanzlerin da Mut, auf diese Werte sich zu berufen. Jetzt ist sie wieder im Alleingang unterwegs gewesen in Nachtverhandlungen mit den Türken, hat sich aber nicht mehr auf die Werte so sehr berufen, sondern viel stärker auf die Interessen und gesagt, nur so bekommen wir die europäische Außengrenze in der Ägäis einigermaßen stabilisiert. Da stehen ja auch bei ihr zwei Richtlinien auf einmal in einem Konflikt. Ich denke schon, dass das natürlich bei vielen, die sich in den letzten Jahren, muss man sagen, über Deutschland und die Dominanz der deutschen Kanzlerin manchmal auch geärgert haben, die eine oder andere Reaktion auslöst, na ja, jetzt haben wir sie so weit, jetzt können wir mal zeigen, dass wir auch noch da sind, dass wir auch noch wichtig sind, auch noch ernst genommen werden wollen. Ich glaube, da sind solche Ressentiments durchaus auch in der Politik nicht ausgeschlossen.
    Simon: Herr Vannahme, wenn dieser Moment des jetzt haben wir es ihr aber mal gezeigt vorbei ist auf dem Gipfel und es gibt keine Einigung, was macht die EU denn dann?
    "Dann scheitert gleich die ganze liberale Gesellschaft des Westens"
    Fritz-Vannahme: Ja das ist das ganz große Problem. Ich meine, vielleicht sollten die Kritiker von Merkel im Augenblick mal hören, wie die Prognosen eines Donald Trump im amerikanischen Wahlkampf, einer Marine Le Pen, Rechtspopulistin in Frankreich, oder der russischen Nationalisten rund um Putin klingen. Da wird gesagt, na ja, wenn Merkel scheitert, dann scheitert nicht nur Europa, nein, dann scheitert gleich die ganze liberale Gesellschaft des Westens, weil sie gezeigt hat, dass sie zu dem, was sie sich eigentlich vornimmt, gar nicht mehr in der Lage und gar nicht mehr fähig ist.
    Simon: Das wäre einem Viktor Orbán aber recht.
    Fritz-Vannahme: Es gibt inzwischen - das wollte ich als Nächstes sagen - durchaus den einen oder anderen, der auch innerhalb der Europäischen Union schon so tönt. Auch da haben wir nun leider Grenzverschiebungen beträchtlichen Ausmaßes gesehen. Und die große Schwierigkeit ist nun, tatsächlich für jede Verhandlungsposition, erst recht für diejenige, die eigentlich die Richtung vorgegeben hat, sprich der Kanzlerin, genügend Leute hinter sich zu bringen, um zu sagen, jetzt gibt es zwar eine immer noch sehr deutliche und lautstarke spürbare Minderheit, aber von sechs oder acht lassen sich 28 nicht mehr die Richtung weisen. Wir haben die große Masse jetzt auf eine Linie gebracht und zu einem Vorgehen verpflichtet und jetzt sollten wir den Weg auch gehen. Ich glaube, nur dann wird es wirklich gehen. Es wird nicht zur förmlichen Abstimmung kommen. Jeder weiß ganz genau, wo der andere steht. Aber wenn man merkt, dass das Ganze nicht mehr in der Balance ist, sondern zugunsten von Merkel kippt, dann werden auch diejenigen, die hier noch in Opposition sind, sich das zweimal überlegen, allen voran Frankreich, die natürlich eine Schlüsselrolle wegen des deutsch-französischen Verhältnisses spielen werden.
    Simon: Gibt es denn irgendwas Handfestes, was Merkel ihren Gegnern anbieten könnte?
    Noch einige Gegner in der EU
    Fritz-Vannahme: Na ja. Sie hat ja jetzt innerhalb der Europäischen Union nicht mehr schrecklich viel Verhandlungsmasse. Das ist sowieso das große Problem, das ich sehe. Hier laufen eigentlich zwei Verhandlungsstränge parallel gleichzeitig bei diesem EU-Gipfel: Einerseits die eben angesprochenen Verhandlungen innerhalb der EU, und da haben wir von den möglichen Gegnern ja einige genannt, Belgien gehört im Übrigen auch dazu oder Zypern, nicht nur Frankreich. Und dann gibt es natürlich die Verhandlungen, die zwischen Europa, der Europäischen Union und der Türkei zu führen sind, zum Beispiel über das Stichwort Visafreiheit oder Visalockerung, das Sie eben angesprochen haben, und da müssten im Prinzip ja eigentlich alle 28 mit einer Stimme gegenüber der Türkei verhandeln, aber das haben wir im Moment nicht. Auch der maßgebliche Verhandlungsführer, nämlich der Vorsitzende des Europäischen Rates, der Pole Donald Tusk, ist im Moment nicht bei Merkel, um es mal freundlich auszudrücken, und eher bereit, auch da zu sagen, vorsichtig mit den Türken und ihren maximalistischen Forderungen, das ist nicht die Linie, die ich mir eigentlich vorgestellt habe.
    Simon: Joachim Fritz-Vannahme, der Direktor des Europaprogramms der Bertelsmann-Stiftung. Das Gespräch haben wir vor dieser Sendung aufgezeichnet.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.