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EU-Arbeitnehmerfreizügigkeit
Angst vor dem Ansturm

Ab dem 1. Januar gilt in der Europäischen Union Arbeitnehmerfreizügigkeit. Viele Länder erwarten einen Ansturm von Arbeitern aus Rumänien und Bulgarien. Besonders Großbritannien macht Stimmung gegen neue Zuwanderer. Die EU verteidigt die Freizügigkeit als ein Grundprinzip der Union.

Von Annette Riedel und Barbara Schmidt-Mattern | 27.12.2013
    Brechend volle Stuhlreihen auf Holzparkett, eine Yucca-Palme neben der Bühne, und ein Rednerpult, festgeschraubt auf einem Rollwägelchen. So viel Betrieb ist selten in der Volkshochschule Duisburg. Die Mikrofon-Anlage hat ihre beste Zeit hinter sich...
    "Ja, meine sehr verehrten Damen und Herren, herzlich willkommen..."
    Josip Sosic, Fachbereichsleiter für politische Bildung an der VHS, hat in Duisburg eine ganze Lesereihe zur Armutszuwanderung aus Südosteuropa auf die Beine gestellt. An diesem Abend gibt es einen weiteren Vortrag, denn das Thema brennt der Stadt und ihren Bewohnern unter den Nägeln - das ist in jeder Sitzreihe zu spüren:
    "Es werden immer mehr. Die Zuwanderung steigt, man muss nur durch diese Viertel gehen, dann sieht man es eindeutig."
    "Also ich bin schon etwas skeptisch mit der Zuwanderung, ob man da irgendwann mal Grenzen setzen muss."
    "Im Grunde eine Art Angst, dass man damit alleine gelassen wird."
    "Ich fühl mich wirklich ein bisschen überfallen bei den Nachrichten, die man hört. Mir ist zwar persönlich jetzt noch nichts passiert, aber ich hab da einfach ein bisschen Sorge, weil da so zwei Kulturen aufeinanderprallen..."
    Leben in unvorstellbarer Armut
    An diesem Abend ist Norbert Mappes-Niediek zu Gast. Der Publizist und Südosteuropa-Experte hat gerade ein Buch geschrieben: "Arme Roma, böse Zigeuner" heißt es. Warum dieser Titel? Kurz vor der Lesung sitzt der Autor nebenan im Café und erklärt:
    "Na, das war das Bild, das man halt sieht. Dass das Menschen sind, die tatsächlich am Rande ihrer Existenz leben, in großer, teilweise unvorstellbarer Armut, oder in einer Armut, die man sich nicht vorstellen möchte. Und ich hab auch gemerkt bei mir selber, aus dieser Weigerung, mir das vorzustellen, dass es jemandem wirklich so schlecht geht, mach ich mir dann gerne ein paar Theorien zurecht, und denk mir, ja vielleicht ist es ja gar nicht so schlimm. Vielleicht wollen sie es ja so. Und dann versucht man zu recherchieren, und dann stellt man fest, das ist nicht so!"
    In wenigen Tagen, am 1. Januar, gilt in der Europäischen Union die volle Freizügigkeit. Der deutsche Arbeitsmarkt steht dann allen EU-Bürgern offen. Wer keine Arbeit findet, bekommt zumindest leichter Zugang zu Sozialleistungen. Bisher können nur Selbstständige, Hochschulabsolventen oder Menschen mit einer Arbeitsgenehmigung legal in der Bundesrepublik arbeiten. Doch anders als viele Politiker, erwartet Norbert Mappes-Niediek keinen Anstieg der Armutszuwanderung:
    "Es wird zunehmend Migration aus Rumänien geben, aber nicht von Armutsflüchtlingen, also, nicht aus den Roma-Vierteln. Denn die haben auf dem ersten Arbeitsmarkt in der Regel keine Chance. Wegen der Sprache, weil sie keine Ausbildung haben, weil sie oft nicht lesen und schreiben können. Das ist in Rumänien und Bulgarien tatsächlich zunehmend ein Problem. Da hilft das nix, dass man Arbeitnehmer-Freizügigkeit hat. Man wird nach wie vor auf den "Arbeiterstrich" gehen und dann irgendwo schwarzarbeiten. Oder im Schrotthandel tätig sein. Für die Rumänen und Bulgaren aus den besseren Quartieren gilt das nicht. Die werden stärker kommen."
    Verstärkter Zuzug
    Eduard Pusic ist vom Verein ZukunftOrientierteFörderung ZOF, der sich in Duisburg in der Kinder-, Jugend- und Familienhilfe engagiert. Und er ist ganz anderer Meinung. Der Sozialwissenschaftler arbeitet seit Jahren in und mit den Roma-Familien zusammen. Kaum jemand ist so nahe an ihnen dran wie der 37-Jährige:
    "Wir haben jetzt auch die Hoffnung gehabt über die kalte Jahreszeit, dass der Zuzug zumindest abebben wird oder bis ins nächste Frühjahr erst mal stoppen wird, aber eigentlich ist genau das Gegenteil der Fall. Also, die letzten Zahlen, die wir gesehen haben, sprechen eher dafür, dass sich der Zuzug noch verstärkt."
    Andere deutsche Großstädte stehen vor den gleichen Problemen: Die Roma aus Südosteuropa bescheren den Kommunen wachsende Armut und Kriminalität - die Integration dieser EU-Bürger ist ein mühseliges Unterfangen. Duisburgs Stadtdirektor Reinhold Spaniel beobachtet schon seit Monaten die gravierenden Folgen:
    "Dat geht um Urinieren im Park oder in der Haustür oder im Vorgarten. Dat geht darum, dass nachts Feste gefeiert werden bis halb drei. Und ich halte das für völlig legitim, wenn man sagt, ich möchte einfach schlafen!"
    Im sechzig Kilometer entfernten Dortmund ringt die Stadt mit ähnlichen Konflikten. Andere Kommunen in Nordrhein-Westfalen bleiben hingegen völlig außen vor. So geht das nicht, meint der Publizist Norbert Mappes-Niediek:
    "Es gibt ja keine Solidarität. Duisburg leidet unter dieser Armutszuwanderung enorm, aber gleich an Duisburg grenzt Düsseldorf, die steinreiche Landeshauptstadt, die praktisch keine Armutszuwanderung hat, aber einen Sinti-und-Roma-Beauftragten!"
    Leben in Schrottimmobilien
    Alles andere als vornehm ist die Lage der Roma in Rheinhausen oder Hochfeld:
    In gleich mehreren Duisburger Stadtvierteln hausen sie oft in völlig überfüllten Hochhäusern. Im Rathaus versucht die Verwaltung gegenzusteuern, indem sie die Menschen zumindest in größeren Wohnungen unterbringen und sie besser in der Stadt verteilen will. Doch gerade der Immobilienmarkt in Duisburg ist der Grund, warum so viele Armutszuwanderer hierher kommen. 300 bis 500 sind es jeden Monat, schätzt Stadtdirektor Spaniel.
    "Wir haben in Duisburg viele Schrottimmobilien, die zu günstigen Preisen vermietet werden können. Und das spricht sich in diesem Personenkreis rum. Das Problem haben wir jetzt seit drei Jahren. Kontinuierlich haben wir eine Zunahme zu verzeichnen, wir haben mal mit zweieinhalbtausend begonnen, und sind jetzt aktuell bei 9500."
    Unter diesen 9500 Armutsmigranten sind besonders viele Kinder. Sozialarbeiter Pusic sieht genau da die Schwierigkeit:
    "Wohnraum zur Verfügung zu stellen, ist natürlich eine Mammutaufgabe. Ein gravierendes Problem ist zum Beispiel, dass Familien mit acht, neun Kindern keine Seltenheit sind. Und die brauchen ja entsprechenden Wohnraum. Und den von der Quadratmeterzahl zur Verfügung zu stellen, das wird auch Duisburg nicht schaffen. Das ist utopisch."
    Keine kulturell-ethnisch typischen Verhaltensmuster
    Duisburgs alteingesessene Nachbarschaften klagen über Müll, nächtlichen Lärm und die fehlende Kommunikation – man könne ja nicht mal ein Wort miteinander reden, weil die meisten Roma kein Deutsch verstehen oder manche das zumindest behaupten. All diese Verhaltensmuster seien jedoch nicht etwa typisch Roma. Buchautor Mappes-Niedik wehrt sich gegen dieses Klischee:
    "Leute, die ihr Auskommen haben, gehorchen anderen ökonomischen Gesetzen als Leute, die ihr Auskommen nicht haben. Das hat mit Kultur und mit Ethnizität eigentlich überhaupt nichts zu tun. Es gibt so eine Studie bei britischen Langzeitarbeitslosen in Manchester. Das sind alles ethnische Briten, falls es so was gibt. Und da hat man exakt genau die Verhaltensweisen gefunden, die man sonst für typisch Roma hält."
    Seit jeher gilt diese Volksgruppe in ihren Herkunftsländern als unterster Teil der Gesellschaft, erklärt Norbert Mappes-Niediek, der sich seit über zwanzig Jahren mit diesem Thema beschäftigt. Im Sozialismus wurden die Roma zwar in die Arbeitswelt integriert, aber selten bekamen sie mehr als einen Job in der Gebäudereinigung oder bei der Müllabfuhr.
    "Und diese Jobs fielen als erste weg nach 1990. Die Elendsviertel entstanden neu, oder vergrößerten sich enorm. Das ist die Entwicklung der letzten zwanzig Jahre. Das ist sozusagen der letzte Wagen, der abgehängt worden ist."
    Keine Wertschätzung von Bildung
    Die von der Armutszuwanderung betroffenen Städte in Deutschland versuchen zu handeln. Duisburg schickt Familienberater in die Hochhäuser der Roma, und neben vielen anderen Angeboten gibt es eine Hausaufgabenhilfe für die Kinder. Doch der Südosteuropa-Publizist Mappes-Niediek ist überzeugt. Die Roma selbst halten Bildung nicht unbedingt für einen Schlüssel zum Aufstieg:
    "Es gibt in ganz Osteuropa die Erfahrung einer ganzen Generation, dass Bildung nicht zu einem besseren Leben führt. Die Mutter war vielleicht Englisch- oder Russischlehrerin, der Vater war Ingenieur. Heute säuft der Vater, die Mutter geht putzen. Und nebenan, der Idiot, der nie zur Schule gegangen ist, der fährt mit einem Cheyenne durch die Gegend und hat ein Goldkettchen. Alle haben erfahren: Durch Lernen kommt man auf keinen grünen Zweig. Das ist die Erfahrung einer ganzen Generation, und zwar nicht nur von Roma."
    Stadtdirektor Spaniel spricht von einer Gratwanderung. Es sei schwer, Missstände wie die wachsende Kriminalität und die Nachbarschaftskonflikte beim Namen zu nennen, und dennoch den Menschen gerecht zu werden.
    "Es hat auch hier Versuche der NPD gegeben, daraus Honig zu saugen, wie man so schön sagt. Die andere Seite ist so, dass man Probleme auch nicht verharmlosen oder gar totschweigen darf. Und dann muss man sicherlich für diejenigen, die bedrängt sind, ´ne Willkommenskultur entwickeln, aber man darf die einheimische Bevölkerung auch nicht überfordern."
    Die Kommunen nicht alleine lassen
    Im hoch verschuldeten Duisburg, das derzeit nur mit einem Nothaushalt über die Runden kommt, erhofft sich Reinhold Spaniel mehr finanzielle Hilfe vor allem vom Bund. Der neue Koalitionsvertrag von Union und SPD in Berlin verharrt allerdings in Absichtserklärungen: „Betroffene Kommunen sollen zeitnah die Möglichkeit erhalten, bestehende (...) Förderprogramme (...) stärker als bisher zu nutzen“, heißt es lapidar. Immerhin stellt die Bundesregierung – anders als etwa Großbritannien – nicht die EU-Freizügigkeit an sich infrage. Mehr ist zu dem Thema aus Berlin noch nicht zu hören, der neue Bundesinnenminister Thomas de Maizière von der CDU müsse sich noch einarbeiten, heißt es. Doch Reinhold Spaniel ist ungeduldig. Wenige Monate vor der Europawahl richtet der Kommunalpolitiker eine deutliche Botschaft auch in Richtung Brüssel:
    "Man kann die betroffenen Kommunen, dazu gehört ja auch in erster Linie Duisburg, mit diesem Problem nicht allein lassen. Das ist ein ungeheurer sozialpolitischer Sprengstoff, neben den finanziellen Problemen, die auf uns zukommen werden..."
    Die Argumente in Brüssel für die EU-weite Öffnung des deutschen Arbeitsmarktes kennt der Sozialdemokrat Spaniel durchaus - nur beschert die Freizügigkeit seiner Kommune bisher mehr Nach- als Vorteile:
    "Ich verstehe ja Europapolitiker, wenn die sagen, wir profitieren insgesamt von der Osterweiterung. Da kommen viele qualifizierte Kräfte...stimmt! Aber das sind nicht die Zuwanderer, über die ich rede."
    Bewegungsfreiheit wichtigste Errungenschaft der EU
    In Brüssel wird man hingegen nicht müde darauf hinzuweisen, dass die volle Bewegungsfreiheit innerhalb der EU, inklusive des Rechts aller EU-Bürger, sich in jedem EU-Land niederlassen zu können, eine der Säulen des EU-Binnenmarktes ist. Und EU-Justizkommissarin Viviane Reding verteidigt sie vehement:
    "Free movement is a fundamental pillar of the free market."
    Gleichzeitig ist die Bewegungsfreiheit auch eine der wichtigsten Errungenschaften, wenn nicht die wichtigste der Europäischen Union überhaupt. An ihr zu rütteln, kommt in Brüssel fast einem Sakrileg gleich. Der ehemalige Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich hat heftig gerüttelt. Er hat der EU-Kommission wiederholt Ignoranz vorgeworfen, gegenüber real existierenden Problemen in manchen Städten und Gemeinden durch - in Friedrichs Worten - ‚Armuts-Flüchtlinge’ oder ‚Sozialhilfe-Touristen’. Bei seinem letzten Besuch in Brüssel forderte er:
    "Ich erwarte von der Kommission, dass sie die Probleme, die wir beispielsweise in deutschen Großstädten haben - aber nicht nur Deutschland, sondern international – ernst nimmt. Es kann nicht sein, dass Freizügigkeit so missbraucht wird, dass man ein Land nur deswegen wechselt, weil man Sozialhilfe haben möchte. Sie sollten sich mehr auch mit der Situation in ihren eigenen Heimatländern befassen. Dazu rate ich dringend."
    Mitgliedstaaten in der Verantwortung
    Das Beharren einiger Länder darauf, dass es große Probleme mit dem Missbrauch der Freizügigkeit gibt, ist in den Augen von EU-Kommissarin Reding hauptsächlich innenpolitisch motiviert, ja nachgerade lächerlich:
    [lacht] "So gut wie nichts von der Sozialhilfe geht auf das Konto von Bürgern anderer EU-Länder. Das meiste geht an die eigenen Bürger."
    Hört man sich im EU-Parlament um, sehen einige Abgeordnete durchaus die Schattenseiten der Freizügigkeit.
    Aber selbst unter diesen Abgeordneten findet man kaum jemanden, der meint, dass es an Brüssel sei, diesen Problemen zu begegnen und dass die europäischen Gesetze verhinderten, gegen Missbrauch der Freizügigkeit vorzugehen. Da sind der Vorsitzende der Fraktion der Sozialdemokraten im EU-Parlament, Hannes Swoboda und der CDU-Europa-Abgeordnete Herbert Reul einer Meinung:
    "Ich glaube, die Gesetzeslage ist gut. Die Anwendung in den einzelnen Mitgliedsstaaten ist schlecht. Denn die Mitgliedsstaaten haben die Möglichkeit, natürlich gegen Missbrauch vorzugehen."
    "Das ist unangenehm. Und da gibt es vor Ort Druck, wenn man das macht. Und insofern scheuen sich ja viele davor. Wenn wir systematischer die Reglungen auch anwenden würden, die da als Möglichkeiten angegeben sind, gäb’s weniger Probleme. Die Rechtslage ist nach unserer Auffassung klar."
    Fünf-Punkte-Papier für eine Lösung
    Die EU-Kommission hat das Murren in einigen Mitgliedsstaaten mit Blick auf den 1. Januar und die volle Freizügigkeit für Bulgaren und Rumänen denn doch nicht komplett als lächerlich abgetan und ein 5-Punkte-Papier vorgelegt, wie dem Problem aus ihrer Sicht im Rahmen geltenden EU-Rechts begegnet werden kann.
    "1. ein Handbuch, wie man gegen Scheinehen vorgehen kann
    2. ein praktischer Führer, wie sich der Hauptwohnsitz von jemandem feststellen lässt, um zu sehen, ob ein arbeitsloser EU-Bürger schon in einem anderen EU-Land Sozialleistungen bezieht.
    3. in den EU-Ländern aufklären über die Möglichkeiten, Gelder aus dem EU-Sozialfonds für soziale Integration einzusetzen.
    4. den Austausch über richtungweisende Integrations-Ansätze in EU-Ländern verstärken.
    5. ein Online-Trainings-Modul zur Unterstützung von Verwaltungspersonal, damit die Gesetze zur Freizügigkeit richtig angewendet werden."
    Erläuterte Jonathan Todd, ein Sprecher der EU-Kommission, Anfang Dezember.
    "Kein EU-Land hat verlangt, dass wir EU-Regeln ändern. Sie haben nur eine Reihe von Sorgen formuliert. Und auf diese Sorgen haben wir in unserem 5-Punkte-Papier reagiert."
    Alle Bewegungsfreiheiten - oder keine
    Der britische Premier, David Cameron, hat angekündigt, dass er gegen den vermeintlichen Ansturm auf soziale Leistungen von Menschen aus Bulgarien und Rumänien vorgehen werde. Der CDU-Europaabgeordnete Herbert Reul ist nicht der Einzige in Brüssel, bei dem das auf Unverständnis stößt:
    "Großbritannien hat frühzeitig und überstürzt damals die Freizügigkeit gleich umgesetzt. Ich weiß gar nicht, was die sich jetzt aufregen."
    Jedenfalls hat London seinerseits mit der Ankündigung seiner Pläne für erhebliche Aufregung in Brüssel gesorgt. EU-Kommissarin Reding ließ in ihrer Reaktion an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig:
    "Es gibt vier Bewegungs-Freiheiten im Binnenmarkt: von Kapital, von Waren, von Dienstleistungen und von Menschen. Es gibt sie nur alle zusammen - oder gar keine."
    Drei der fünf Maßnahmen, die David Cameron angekündigt hat, um befürchteten Strömen von Menschen aus Bulgarien und Rumänien zu begegnen, sind von europäischem Recht unter bestimmten Bedingungen sogar gedeckt. Es gibt die Möglichkeit her, Sozialleistungen erst ab drei Monaten zu zahlen; oder Sozialhilfeleistungen auf sechs Monate zu begrenzen; denkbar wäre auch, die Strafen für Arbeitgeber drastisch zu erhöhen, die nicht den britischen Mindestlohn zahlen. Problematisch an Camerons Plan ist zweierlei: EU-Bürger aus Großbritannien ausweisen zu wollen, die betteln oder unter freiem Himmel übernachten, und ihnen nicht von Anfang an wie britischen Arbeitnehmern Mietzuschüsse zu zahlen, wenn sie eine Arbeit aufnehmen.
    Stimmungsmache in Großbritannien
    Ärgerlich finden viele in Brüssel die Pläne der britischen Regierung vor allem deshalb, weil sie eine Stimmung schaffen, die die verhältnismäßig geringen Folgen der Freizügigkeit in einem Maße aufbauscht, die die Chancen in den Hintergrund drängt. Das glaubt der Abgeordnete Herbert Reul:
    "Jede Freizügigkeit, jede zusätzliche Chance bietet auch Risiken - so ist das Leben. Wie oft haben wir an solchen Stellen schon innegehalten und düstere Gemälde an die Wand gemalt und wie oft ist es dann doch gut oder besser gegangen."
    Was allerdings von der EU-Kommission in Bezug auf Bulgarien und Rumänien verabsäumt wurde, ist, darauf zu beharren, dass EU-Gelder von Bukarest und Sofia auch abgerufen werden, die zur Verfügung stehen, um die soziale und wirtschaftliche Integration von Minderheiten wie Sinti und Roma in den Ländern zu fördern. Die Anstrengungen vor Ort lassen zu wünschen übrig. Und die Reaktionen aus Brüssel darauf auch. Da stimmen dem CDU-Politiker Reul sein Kollege von den Sozialdemokraten Swoboda und auch die grüne Fraktionsvorsitzende Rebecca Harms zu.
    "Ich glaube nicht, dass Brüssel seinen Job gemacht hat. Es geht auch darum, Ländern, die ihre Aufgaben nicht erfüllt haben, zu sagen, was sie nicht getan haben."
    "Es gibt Programme in Bulgarien und Rumänien, die von der Europäischen Union angeboten werden, die nicht umgesetzt werden, nämlich um Lebensbedingungen und Integration der Roma dort zu verbessern."
    Keine Standards preisgeben
    An dem Recht aller EU-Bürger, sich überall in der EU niederzulassen und mit den gleichen Rechten und Pflichten zu leben und zu arbeiten, darf aber aus Rebecca Harms Sicht keinesfalls gerüttelt werden:
    "Wir sind für die Freizügigkeit, ich warne davor, dass das alles verteufelt wird!"
    Das habe man auch nicht im Sinn, sagt der Publizist Norbert Mappes-Niediek, der gerade erst den Vortrag an der Duisburger Volkshochschule über die Armut bei Roma gehalten hat. Aber Duisburg und die anderen Problem-Kommunen dürften nicht alleine gelassen werden. Denn letzten Endes, so sagt er, könne man ja gegen die Zuwandererströme nichts tun:
    "Man kann keinen Zaun um Duisburg machen, das sind EU-Bürger. Und wir werden es nicht schaffen, sie von unseren Grenzen fernzuhalten. Das ist eine Illusion. Und selbst wenn wir es schaffen würden, dann würden wir es wahrscheinlich unter Preisgabe bestimmter Standards, die wir in unserer Gesellschaft haben, tun müssen. Und das wollen wir auch nicht."
    Gefährdet die neue Freizügigkeit in der EU den sozialen Frieden? - Diskutieren Sie mit am 30.12.2013 um 10.10 Uhr im Deutschlandfunk (Kontrovers)