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EU-Flüchtlingspolitik
"Wir müssen menschliche Lösungen finden"

Dass die Menschen als Flüchtlinge zu uns kommen, sei auch ein großes Kompliment für die Europäische Union und Deutschland, sagte der Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung, Hans-Gert Pöttering, im DLF. Er betonte, dass nun menschliche Lösungen gefordert seien - deswegen werde auch eine Quote zur Verteilung der Flüchtlinge benötigt.

Hans-Gert Pöttering im Gespräch mit Bettina Klein | 08.09.2015
    Porträt von Hans-Gert Pöttering
    Hans-Gert Hermann Pöttering (CDU) war von 2007 bis 2009 der 23. Präsident des Europäischen Parlamentes. (picture alliance / ZB / Karlheinz Schindler)
    Bettina Klein: Vor allen Dingen an der Grenze zu Ungarn spielen sich im Augenblick unschöne Szenen: Flüchtlinge, die durch eine Öffnung im Grenzzaun zu gelangen versuchen und sich dann auf den weiten Marsch Richtung Österreich und Deutschland immer wieder begeben.
    Insgesamt sechs Milliarden hat die Bundesregierung ja zugesagt zur Bewältigung der Kosten, angesichts von Zehntausenden Flüchtlingen, die im Augenblick in Deutschland aufgenommen werden, und die Frage ist, ob es bei dieser Summe bleiben wird und inwiefern dies auch die Planungen des Bundesfinanzministers möglicherweise noch durcheinanderwirbelt. Darauf hat in der Diskussion auch die CSU noch einmal hingewiesen.
    Die Deutschen haben nicht überall den allerbesten Ruf, immer noch nicht. Das hat vor allen Dingen mit unserer Geschichte im 20. Jahrhundert zu tun. Das Bild vom arroganten Besserwisser und Ausländerfeind hat sich in Teilen gehalten. Während der Griechenland-Krise dann fanden nicht alle das Pochen auf Regeln in Ordnung. Umso größer nun bei einigen die Überraschung über ein so großzügiges Gebaren der Deutschen, die hier alles tun, um bis zum Jahresende mindestens 800.000 Flüchtlinge aufzunehmen. - Über das sich offenkundig verändernde Deutschland-Bild und über die Herausforderungen für Europa können wir jetzt sprechen mit Hans-Gert Pöttering. Er ist Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung. Ich grüße Sie.
    Hans-Gert Pöttering: Ich grüße Sie auch, Frau Klein.
    Klein: Beginnen wir mal damit. Sind wir jetzt die wirklich völlig Guten, die Vorbilder für Europa?
    Pöttering: Ich weiß nicht, ob wir Vorbild für Europa sind. Aber die Haltung, die in Deutschland erkennbar ist, bei unserer Bundeskanzlerin Angela Merkel, auch was Bundestagspräsident Norbert Lammert eben gesagt hat und andere, ist, dass wir an die Menschen denken, die in einer unglaublich schwierigen Situation sind, wenn sie aus Syrien kommen und aus anderen Ländern, wo Krieg herrscht, und dass wir diesen Menschen im Prinzip mit offenem Herzen als Menschen begegnen, das ist etwas sehr, sehr Positives und ich bin sehr, sehr froh darüber, wenn ich natürlich auch weiß, dass wir konkrete Lösungen brauchen, und darüber müssen wir jetzt in der Europäischen Union gemeinsam sprechen.
    "Dass die Flüchtlinge zu uns kommen, ist doch ein großes Kompliment für die Europäische Union"
    Klein: Um dabei kurz noch zu bleiben. In ein positives Deutschland-Bild mischen sich ja inzwischen auch Töne, wie wir sie heute Morgen zum Beispiel vom britischen Politikwissenschaftler Anthony Glees hier im Deutschlandfunk gehört haben, und da hören wir mal kurz rein.
    O-Ton Anthony Glees: "Die tektonischen Platten bewegen sich, wenn Deutschland sich als Hippie-Staat verhält, wo nur von Gefühlen Deutschland geleitet wird. Und die Frage in Großbritannien ist: Wenn Frau Merkel diese Politik jetzt betreibt, eine ganz andere Politik, die man mit Griechenland betrieben hat, wo soll es ein Ende geben? Viele meinen, die Deutschen haben hier ihr Gehirn verloren."
    Klein: Anthony Glees heute Morgen im Deutschlandfunk. - Herr Pöttering, lassen wir mal die Rhetorik bei Seite, Deutschland hat sein Gehirn verloren. Bisher trat Deutschland ein für das Einhalten von Regeln; jetzt beklagen einige Staaten, dass wir sie außer Kraft setzen.
    Pöttering: Das, was dieser britische Professor sagt, ist völlig unangemessen. Auch schon die Sprache zeigt ja, dass er uns eigentlich nicht verstanden hat. Und selbst Großbritannien - das hätte er mal sagen sollen -, Premierminister Cameron, der bisher ja immer abgelehnt hat, überhaupt Flüchtlinge aus Syrien zu nehmen, hat nach diesem erschütternden Bild von dem kleinen Ailan, der ja vor den Küsten der Türkei und in Griechenland umgekommen ist und ein Mensch hat ihn dann von der Küste weggenommen und weggetragen, das hat ja uns alle sehr erschüttert, seitdem hat auch David Cameron seine Meinung geändert und das zeigt doch, dass wir diese Menschen als Menschen verstehen müssen.
    Sie sind Menschen, die Flüchtlinge, mit Hoffnungen, mit ihrem Schicksal, mit ihrer Trauer und sie suchen ein neues Leben. Und wenn die Europäische Union sich diesen Menschen gegenüber darstellt mit Stacheldraht, mit Einsatz von Tränengas, mit Einsatz von Hunden, dann verlieren wir selber unsere Würde, sondern wir müssen Lösungen finden für die Probleme und daran muss jetzt gearbeitet werden, und ich sehe mit Zuversicht auch auf das, was morgen Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker vor dem Europäischen Parlament vorschlagen wird, dass wir Quoten bekommen, dass die Flüchtlinge aufgeteilt werden auf die Länder. Aber dass sie zu uns kommen, ist doch ein großes Kompliment für die Europäische Union, für Deutschland, dass wir ein Kontinent, eine Gemeinschaft, die Europäische Union, der Zukunft, der Hoffnung sind.
    Klein: Und da ist es auch richtig, dass die Deutschen sich dort über Bedenken in anderen Staaten hinwegsetzen?
    Pöttering: Ich glaube ja gar nicht, dass es Bedenken in anderen Staaten so sehr gibt.
    Klein: Aus Ungarn kam die sehr stark, die Kritik.
    Pöttering: Ja, eben von dem britischen Professor. Aber woanders sieht man es sehr positiv. Wir brauchen einen Mentalitätswandel in der Europäischen Union. Auch wir Deutschen müssen daran arbeiten. Wir haben in der Vergangenheit, die Europäische Union - und Deutschland ist ja ein Teil davon -, auch Griechenland und Italien mit ihren Problemen viele Jahre allein gelassen, was die Wanderung nach Griechenland, nach Italien angeht, und dann sind die Menschen weitergezogen nach Deutschland. Heute wissen wir, wir müssen den Griechen, wir müssen den Italienern helfen bei der Grenzsicherung. Mir geht es darum - und ich glaube, das ist der Kern der Europäischen Union -, wenn ein Land der Europäischen Union gewaltige Probleme hat, dann sind das nicht nur Probleme, die Griechenland, die Italien betreffen, oder Polen, oder Deutschland; dann sind es unsere gemeinsamen Probleme und wir müssen gemeinsam und solidarisch diese Probleme lösen.
    "Ich bin sehr traurig über die Entwicklung in Ungarn"
    Klein: Herr Pöttering, um mal kurz einzuhaken. Massive Kritik kam ja nicht nur von einem Professor, sondern kam auch vom EU-Mitgliedsland Ungarn. Die pochen darauf und sagen, nach Dublin III dürfen Flüchtlinge eigentlich nicht ohne weiteres weiterreisen, und bauen massiv darauf, dass die eigenen Grenzen geschützt werden. Sie gehen davon aus, dass die Ungarn da eines Besseren belehrt werden können?
    Pöttering: Ich bin sehr traurig über die Entwicklung in Ungarn, und zwar deswegen, weil Ungarn mit zu den Ländern gehört, das den Kommunismus überwunden hat und die Grenzen geöffnet hat, und dass jetzt gerade Ungarn mit diesen unverhältnismäßigen Mitteln reagiert, das macht mich wirklich traurig. Aber ich sage auch, wir dürfen Ungarn nicht alleine lassen mit der Grenzsicherung. Wir müssen es gemeinsam tun als Europäische Union. Aber es müssen menschliche Lösungen sein und es darf nicht am Ende so aussehen, dass Militär, dass Einsatz von Gas, dass Stacheldrahtzäune, der Einsatz von Hunden nun auf die Menschen losgelassen werden, sondern wir brauchen menschliche Lösungen und deswegen brauchen wir Quoten und es müssen alle daran mitwirken, dass die Flüchtlinge einigermaßen gerecht verteilt werden. Und es müssen vor allen Dingen auch diejenigen, die zum Beispiel aus Ländern kommen, wo es wirtschaftliche Not gibt, aber keine politische Verfolgung, die aus Albanien oder Montenegro oder Kosovo kommen, die Menschen müssen zurück in ihre Heimat. Nur wenn das geschieht, können wir auch die Flüchtlinge, die um ihr Leben kämpfen, dann auch aufnehmen und uns als Menschen verhalten. Insgesamt möchte ich sagen, ...
    Klein: Herr Pöttering, um an der Stelle noch mal kurz eine Frage zu stellen. Wir haben nicht mehr viel Zeit. Ich würde gerne auf das eingehen, was Sie gerade angedeutet haben. Morgen wird es noch mal Beschlüsse aus der EU geben. Flüchtlingsquoten, das könnte ein Beschluss sein. Aber das ist ja bisher gescheitert am Widerstand einiger EU-Staaten. Sie gehen davon aus, dass der Widerstand jetzt überwunden wird?
    Pöttering: Frau Klein, es wird morgen noch kein Beschluss gefasst, sondern wenn ich es richtig sehe, wird Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker vor dem Europäischen Parlament dieses vorschlagen. Auch in Deutschland, wenn wir Probleme haben, können wir das nicht von einem Tag zum anderen lösen. Es gibt die Verhandlungen zwischen den Bundesländern, ich meine jetzt ganz abstrakt und in vielen anderen Fragen. Und so braucht das natürlich auch in der Europäischen Union seine Zeit. Und ich sage den Ländern aus Mitteleuropa, die meine ganze Sympathie haben, die baltischen Länder, Estland, Lettland, Litauen, besonders auch Polen, dass sie auch solidarisch sein müssen mit den Flüchtlingen, wie wir solidarisch sind mit Polen, wenn Polen sich bedroht fühlt jetzt in der Ukraine-Krise durch Russland beispielsweise. Wir müssen ein Verständnis in der Europäischen Union haben, dass die Probleme, die in der Europäischen Union sind, unsere gemeinsamen Probleme sind. Und die Flüchtlingsbewegung ist nach meiner Einschätzung die größte Herausforderung, die von außen kommt, für die Europäische Union im Sinne der Moral, der Politik, der Wirtschaft und der sozialen Dinge.
    Klein: Der Appell heute Mittag bei uns im Deutschlandfunk von Hans-Gert Pöttering, Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung. Ich danke Ihnen für das Gespräch, Herr Pöttering.
    Pöttering: Sehr gerne, Frau Klein.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.