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EU-Gipfel in Brüssel
Günther Oettinger: EU auf möglichen Grexit vorbereitet

Die Europäische Union will nach den Worten von EU-Kommissar Günther Oettinger in den kommenden Tagen alles tun, um ein Ausscheiden Griechenlands aus der Währungsunion abzuwenden. Gelinge dies nicht, sei man aber auf einen Grexit vorbereitet, sagte der Ressortchef für digitale Wirtschaft und Gesellschaft im DLF.

Günther Oettinger im Gespräch mit Christoph Heinemann | 26.06.2015
    Günther Oettinger (CDU): EU-Kommissar für Digitale Wirtschaft
    Günther Oettinger (CDU): EU-Kommissar für Digitale Wirtschaft (picture alliance/dpa/Lukas Schulze)
    "Der Grexit ist für uns kein Ziel, aber er wäre unvermeidbar, wenn wir in den nächsten fünf Tagen keine Lösung bekommen", sagte Oettinger im Deutschlandfunk. Bisher verfahre die Regierung in Athen aber immer noch nach dem "Prinzip Hoffnung". Sie wage sich nicht an die von den Gläubigern geforderten Steuererhöhungen und an die Reform des Rentensystems heran. Die Griechen hätten nun nur noch wenige Tage, um die Auflagen zu verfüllen.
    Einen Plan B habe die EU nicht, sagte Oettinger. Wenn es nicht möglich sei, Griechenland in der Eurozone zu halten, sei man aber vorbereitet. Die Europäische Zentralbank werde dann Maßnahmen ergreifen, um Schaden für andere Euro-Länder abzuwenden. Zudem werde die EU alles tun, um die wahrscheinliche Entwicklung abzumildern, dass Griechenland zum "Notstandsgebiet" werde, so der Kommissar.
    Ende Juni läuft das Hilfsprogramm für Griechenland aus, dann ist erneut eine Milliardenrate an den Internationalen Währungsfonds fällig.

    Das Interview in voller Länge:
    Christoph Heinemann: Erst die Eurogruppe, also die Finanzminister, jetzt der Gipfel, morgen dann wieder die Eurogruppe und der Internationale Währungsfonds. Im Nahkampf ringen die Staats- und Regierungschefs der griechischen Regierung Reformen ab. Die Taktik der Vertreter aus Athen: Um nicht hässlich sparen zu müssen, versprechen sie höhere Einnahmen. Dass der griechische Staat in der Lage wäre, diese Einnahmen einzutreiben, muss man nicht glauben.
    Am Telefon ist EU-Kommissar Günther Oettinger (CDU). Guten Morgen.
    Günther Oettinger: Guten Morgen.
    Heinemann: Herr Oettinger, um Wolfgang Schäuble zu zitieren: Wann isch over?
    Oettinger: Wir wollen weiterhin alles versuchen, um die Griechen in der Eurozone zu halten. Aber klar ist: Sie müssen bereit sein, die Reformen zu machen, die dazu führen können, dass Griechenland im Laufe der nächsten Jahre wieder schuldentragfähig wird. Da gibt es Fortschritte, nennenswert, aber noch haben wir einige Unterschiede und ich baue darauf, dass die am Wochenende besprochen werden. Wir werden bis zum 30. alles tun, damit diese Reformbereitschaft von den Griechen gezeigt wird. Der Grexit ist für uns kein Ziel, aber er wäre unvermeidbar, wenn wir in den nächsten fünf Tagen keine Lösung bekommen.
    Heinemann: Wo sehen Sie Fortschritte?
    Oettinger: Die Griechen haben akzeptiert, dass sie in den nächsten Jahren einen Haushalt brauchen, in dem sie, den Schuldendienst herausgerechnet, keine neuen Schulden machen. Die Griechen haben auch einiges an Haushaltskürzungen akzeptiert. Aber im Kern wollen sie noch immer zu viel nach dem Prinzip Hoffnung verfahren, Steuererhöhungen, bessere Finanzverwaltung, mehr Steuereinnahmen, und wollen auch im Bereich der Renten und des Arbeitsmarkts an Reformen nicht herangehen. Da sind noch ein, zwei, drei Unterschiede, die sind nicht unerheblich, und da wird man sehen, ob die Griechen jetzt, von Brüssel zurückgekehrt, in Athen mit ihrer Regierungspartei eine Einigung bekommen.
    Heinemann: Wird in Brüssel schon an einem Plan B gearbeitet?
    Oettinger: Wir haben keinen zweiten Plan. Es gibt für uns das Ziel, die Griechen zu halten. Aber klar ist: Wenn das nicht möglich ist, dann wären wir nicht unvorbereitet. Dann würden wir die Zentralbank, die Kommission, natürlich das, was wir an Instrumenten haben, einsetzen, um Schaden für andere Euroländer zu vermeiden. Das heißt, alles zu tun, dass die Entwicklung in Griechenland nicht auf andere Eurostaaten überschlägt. Und wir würden auch alles tun, um den Bürgern in Griechenland die Entwicklung, dass sie ein Notstandsgebiet werden könnten, um die abzumildern oder um sie zu verhindern.
    Heinemann: Herr Oettinger, die "Bild"-Zeitung fragt heute: "Warum lassen sich Merkel und Co. So von den Griechen quälen?" Wissen Sie warum?
    Oettinger: Frau Merkel ist ja nicht allein, sondern Herr Hollande, die Letten, die Litauer, die Esten, die Portugiesen, die Iren, die Italiener, die Slowenen, die Slowaken, wir alle tun alles in einer Familie, um ein Familienmitglied nicht zu demütigen und auch nicht hinauszuwerfen. Das halte ich für notwendig. Man kann nicht die Europäische Union als Wertegemeinschaft bilden, entwickeln, vertiefen und im Krisenfall da nichts mehr wahrhaben wollen. Aber es gibt in der Wertegemeinschaft ein paar Pflichten und die klagen wir ein, und die Griechen haben noch ein paar Tage Zeit, um sie zu erfüllen.
    Heinemann: Aber in letzter Konsequenz heißt das, dass auch in Zukunft polnische oder spanische Krankenschwestern dafür zahlen müssen, dass griechische Millionäre keine Steuern zahlen?
    Oettinger: Wir wollen, dass die Griechen ihre Steuerverwaltung endlich hinbekommen, dass sie Steuerpflichten auch bei den Bürgern und den Unternehmen einklagen. Das ist ein Kernpunkt, das sagen sie auch zu. Da traue ich auch dieser Regierung zu, etwas mehr zu tun, als frühere Regierungen getan haben. Aber in der Tat ist die Verwaltung in Griechenland, sind die Ministerin, sind die Rathäuser längst nicht so handlungsfähig, wie es sie in Berlin, Stuttgart oder in Brüssel oder in Madrid sind.
    Heinemann: Wieso trauen Sie dieser Regierung mehr zu als vorherigen?
    Oettinger: Weil sie angetreten ist mit dem Willen, diese Oligarchie von zwei Parteien aufzubrechen, und weil sie sicherlich erkennt, das Ausscheiden Griechenlands wäre, egal wer regiert, für die Bürger der schlechtere Weg. Und die griechischen Bürger sind ja in großer Mehrheit der Meinung, Griechenland sollte drin bleiben in der Eurozone.
    Heinemann: Herr Oettinger, was heißt aber das Taktieren der vergangenen Monate, Wochen, Tage, Stunden, Minuten für die Zukunft, oder genauer gesagt für die Verwirklichung dessen, was dann auch immer möglicherweise vereinbart werden könnte?
    Oettinger: Da gibt es starke Interessengegensätze. Dieselben Fragen, die Sie mir zurecht stellen, werden von der anderen Richtung, vom Rundfunk in Athen, von den Zeitungen in Athen in die andere Richtung gestellt. Die Griechen glauben, sie leisten schon zu viel, würden schon zu viele Kürzungen ertragen müssen, und wir werden gefragt, warum wir den Griechen nicht mehr an Pflichten abverlangen. Ich glaube, die Balance zu halten ist notwendig, und das versucht die Kanzlerin und Herr Juncker ebenso und da gehen wir auch die nächsten vier Tage daran, eine Einigung zu finden, und erst am 30. wäre dann Schluss mit der Bemühung, Griechenland in der Eurozone zu halten und trotzdem an die Pflichten zu erinnern.
    Heinemann: Herr Oettinger, Sie haben Jean-Claude Juncker genannt. Zur Verhandlungsführung der Europäischen Kommission sagte gestern bei uns im Deutschlandfunk der CSU-Europapolitiker Markus Ferber:
    O-Ton Markus Ferber: "Ich habe das Gefühl, dass hier schon ein bisschen die Sorge ist, dass die Kommission als eine der Prüfungsinstanzen neben der Zentralbank und dem Internationalen Währungsfonds schon auf dem Kurs ist, lasst uns auf alle Fälle eine Lösung finden und dann sehen wir weiter. Und da ist es gut, dass sowohl Europäische Zentralbank als auch Internationaler Währungsfonds eine harte Linie vertreten, weil eine Lösung, die nur wieder ein paar Tage, ein paar Wochen oder ein paar Monate Zeit kauft, ohne dass eine substanzielle Lösung erarbeitet wird, ist keine Lösung für Griechenland."
    Heinemann: Ist Jean-Claude Juncker ein schlechter Sachwalter der europäischen Steuerzahler?
    Oettinger: Nein! EZB und IWF und auch wir in der Kommission haben bisher immer geschafft, auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen. Aber die Ausgangslage ist zum Teil unterschiedlich. Der IWF ist nicht nur Europa. Das sind andere Geldgeber von außerhalb. Die EZB ist eine Zentralbank und wir sind letztendlich etwas flexibler. Jean-Claude Juncker ist ein ganz großer Europäer. Er will alles tun, dass die europäische Familie zusammenhält. Er ist deswegen vielleicht ein bisschen flexibler. Das halte ich für richtig. Das ist die Politik. Aber am Ende sind wir im Auftritt Griechenland gegenüber noch immer gemeinsam gewesen.
    Heinemann: Kann die Kommission garantieren, dass Vereinbarungen lückenlos eingehalten werden?
    Oettinger: Nein, das kann man nicht. Das kann man nicht garantieren für Griechenland, nicht für Irland, aber auch nicht für Deutschland. Übrigens wir Deutsche haben doch 2003 und 2004 - damals waren wir der kranke Mann Europas mit Stagnation, Rezession, Arbeitslosigkeit und horrender Staatsverschuldung -, wir Deutsche haben die Maastricht-Kriterien verletzt. Wir Deutsche brauchten Geduld vonseiten der Europäischen Kommission. Insofern: Was heute in Griechenland geschieht, ist nicht einmalig. Es gibt überall in Europa immer die Versuchung, dass man mehr Geld ausgibt als man einnimmt und sich ein besseres Dasein gönnt, als man sich eigentlich leisten kann.
    Heinemann: Wie erleben Sie, Stichwort Deutschland, die Bundesregierung? Ziehen die Kanzlerin und der Finanzminister an einem Strang und auch in die gleiche Richtung?
    Oettinger: Ich glaube, ja. Sicher sind beide vom Charakter her nicht deckungsgleich. Wolfgang Schäuble ist ein großer Europäer, aber stinke sauer über Varoufakis. Das kann ich verstehen. Aber die Kanzlerin versucht, alles zu tun, dass Europa zusammenhält. Es geht ja um Finanzpolitik, das ist die Aufgabe von Dr. Schäuble, und es geht um die Geostrategie. Da geht es um den östlichen Mittelmeer-Raum, um die Lage zu Israel, den Gazastreifen, Palästina, da geht es um die unsichere Nachbarschaft mit Syrien und Irak, da geht es um die Angebote Russlands oder auch Chinas, Griechenland raus zu bekommen aus der Eurozone. Insofern: Ich glaube, beide erfüllen ihre Aufgabe und stimmen sich auch ab. Aber beide versuchen, einerseits Griechenland zu halten und umgekehrt Griechenland zu ermuntern oder dazu zu bringen, die Pflichten der Eurozone einzuhalten.
    Heinemann: EU-Kommissar Günther Oettinger (CDU). Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören.
    Oettinger: Einen guten Tag.
    Heinemann: Ihnen auch.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.