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EU-Kommissionspräsident
Barley: "Stehen klar zum Spitzenkandidaten-Prinzip"

Katarina Barley, SPD-Spitzenkandidatin für die Europawahl, hat sich gegen den Plan der Staats- und Regierungschefs ausgesprochen, eigene Kandidaten für das Amt des EU-Kommissionspräsidenten aufzustellen. "Das wäre ein riesiger Rückschritt bei der Demokratisierung der Europäischen Union", sagte Barley im Dlf.

Katarina Barley im Gespräch mit Silvia Engels | 10.05.2019
Die Europapolitikerin Katarina Barley vor grünen Bäumen bei einer Veranstaltung der SPD zur Europawahl am 26. Mai 2019.
Europa ist immer Work in Progress - und wird immer demokratischer, ist Katarina Barley überzeugt (imago / C. Niehaus)
Silvia Engels: Wir haben die Stichworte gerade gehört. Es gab wenig Bewegung bei den Vorstößen, die es zu mehr Umweltschutz vielleicht durch eine CO2-Steuer gab. Es gab auch keine Bewegung zu einer europäischen Arbeitslosenversicherung. Haben die EU-Regierungschefs einen Kurs, um Probleme zu lösen?
Barley: Na ja. Zwischen den Regierungschefs gibt es große Unterschiede. Da sind welche dabei, die sehr ambitioniert unterwegs sind, und welche, die das nicht sind. Und dann unterscheiden sich natürlich die Schwerpunkte ganz stark. Es gibt manche, die zum Beispiel aus der europäischen Säule sozialer Rechte endlich ein soziales Europa machen wollen, wie wir das gerne tun wollen. Es gibt manche, die beim Klimaschutz vorangehen wollen. Leider ist bei beidem die Bundesregierung nicht dabei, weil die Konservativen da bremsen.
Engels: Auch das Thema Iran wurde am Rande diskutiert. Hier versucht man ja nach wie vor eine Möglichkeit zu finden, die internationale Finanzabwicklung für das Land europäisch zu organisieren. Bislang hat das nicht geklappt. Zeigt das einmal mehr, die EU ist als außenpolitischer Akteur handlungsunfähig?
Barley: Die Außenpolitik ist sicherlich der schwierigste Bereich, wo man zu gemeinsamen Lösungen kommen kann, weil alle Mitgliedsstaaten ganz unterschiedliche historische Erfahrungen haben, ganz unterschiedliche Konstellationen haben. Das wird uns in vielen Punkten begleiten. Da müssen wir Schritt für Schritt vorgehen. Wir müssen einen echten Außenminister, eine echte Außenministerin bekommen. Wir müssen weg auch vom Einstimmigkeitsprinzip, früher oder später. Aber das wird eine sehr, sehr heikle Operation. Da bin ich deutlich nicht pessimistisch, aber es wird länger dauern, als ich das beispielsweise bei anderen Fragen, bei Steuern zum Beispiel sehe, wo wir auch weg müssen vom Einstimmigkeitsprinzip.
Dossier: Europawahlen
Europawahlen (picture alliance / dpa / Kay Nietfeld)
"Keine Einstimmigkeitsentscheidungen mehr!"
Engels: Aber bei der Außenpolitik sehen Sie Probleme. Das heißt, läuft da möglicherweise dieser Reformgedanke, der ja genau das vorsieht, in ganz vielen Bereichen nur noch per Mehrheitsbeschluss zu entscheiden, de facto einer Chimäre, einem Irrbild hinterher? Wird es nie so weit kommen?
Barley: Doch! Wir müssen mittelfristig dahin kommen, dass es keine Einstimmigkeitsentscheidungen mehr gibt. Die EU ist jetzt so viel größer geworden, als sie das bei ihrer Gründung war. Das funktioniert einfach sonst nicht mehr. Aber es ist ein ganz, ganz sensibler Bereich, die Außenpolitik. Ich nehme jetzt nur mal als Beispiel, welches Verhältnis die Mitgliedsstaaten zu Russland haben. Da gibt es ganz, ganz unterschiedliche. Da gibt es welche, die extrem vorsichtig mit jedem Schritt sind, die Befürchtungen haben, und da gibt es welche, die sehr nach vorne gehen und sagen, da muss ein besseres Verhältnis jetzt etabliert werden – nur als ein Beispiel von vielen. Da müssen wir wirklich sehr behutsam vorgehen.
"Hohe Kommissarin muss eine Außenministerin werden"
Engels: Was sagen Sie Kritikern, die warnen, mit zu starkem Druck auf die dann überstimmten EU-Staaten riskiere man ein Auseinanderbrechen der Gemeinschaft?
Barley: Man muss das durchaus ernst nehmen. Das ist im Bereich Außen- und Sicherheitspolitik der sensibelste Bereich, den wir haben. Deswegen ist das Ziel ganz klar: Wir müssen dahin, weg vom Einstimmigkeitsprinzip und eine deutlich stärkere Konzentration bei der Europäischen Union, auch eine Aufwertung der Institutionen. Jetzt die Hohe Kommissarin, das muss eine Außenministerin werden. Aber es ist ein Bereich, den wir mit viel Fingerspitzengefühl machen müssen.
Engels: Wie sehen Sie denn die Idee, dass die Mehrheit der EU-Staaten auch einen Sanktionsmechanismus gegen Mitgliedsstaaten festlegen können, wenn sie gegen Grundwerte verstoßen – beispielsweise, dass in diesem Fall Polen und Ungarn sich nicht wechselseitig schützen könnten, wenn sie wegen wachsender Demokratiedefizite oder einer Justizreform in der Kritik stehen, sondern per Mehrheit dann auch wirklich zu Sanktionen gebracht werden könnten, die gegen sie ausgesprochen werden?
Barley: Hier geht es ja um das Verhältnis innerhalb der Europäischen Union, und da ist es tatsächlich so: Bei der Gründung hat man gedacht, na ja, das wird vielleicht in einem Mitgliedsstaat passieren, dass da rechtsstaatliche Probleme auftreten, und deswegen gibt es diesen Artikel-sieben-Mechanismus, der mit Stimmentzug enden kann, wo aber alle anderen EU-Staaten einig sein müssen. Dadurch, dass Polen und Ungarn sich jetzt gegenseitig decken, läuft der quasi leer.
Und ja, es ist richtig, dass wir da Veränderungen vornehmen müssen. Wir brauchen erst mal eine Art Frühwarnsystem. Wir haben gerade bei Ungarn gesehen, dass die Kommission viel zu lange zugeschaut hat, übrigens auch andere Akteure innerhalb der Europäischen Union. Das heißt, wir müssen jedes Jahr schauen, in allen europäischen Staaten, nicht nur in denen, wo es schon kritisch ist, wie entwickelt sich Rechtsstaat, wie entwickelt sich Demokratie. Und ja, wir brauchen dann auch Möglichkeiten, finanziell einzugreifen, weil wir am Beispiel Ungarn sehen, die Regierung dort stützt sich in weiten Teilen auf den Wohlstand, den steigenden. Der beruht wiederum zu großen Teilen auf EU-Subventionen. Und mit dieser Macht werden dann demokratische Rechte eingeschränkt. Das kann so dann auch nicht laufen.
Mittel um Polen und Ungarn zum Einlenken zu bewegen
Engels: Aber auch hier besteht ja die Gefahr, wenn der Druck zu groß wird, beispielsweise auf Polen oder auf Ungarn, um bei dem Beispiel zu bleiben, dann werden sie ausscheren, oder dann bricht die Union auseinander.
Barley: Na ja. Wir haben gesehen, dass es durchaus Mittel gibt, um Polen und Ungarn zum Einlenken zu bewegen. Zum Beispiel bei Polen war es ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs zur Rechtswidrigkeit der Justizreform, das dazu geführt hat, dass sie die Zwangspensionierung der Richterinnen und Richter zurückgenommen haben.
Ich habe noch diese Woche mit dem ungarischen Botschafter auf einem Podium gesessen, der erklärt hat, wenn der Europäische Gerichtshof entscheiden sollte, dass Ungarn Migranten, Flüchtlinge aufnehmen muss, dann würde sich Ungarn daran auch halten.
Es gibt durchaus Mechanismen, wie man Druck ausüben kann. Das muss auch so sein in einer Union, die sich als Werteunion versteht.
Engels: Stichwort Druck ausüben. Das gilt noch für eine andere Frage, nämlich die, wie eigentlich der EU-Kommissionspräsident, der neue, in sein Amt kommt. Die SPD und Sie folgen ja der Linie, dass es den europäischen Spitzenkandidaten aus Ihrem Lager Frans Timmermans gibt, den Sie dann auch gerne als EU-Kommissionspräsidenten sehen wollen. Die EVP, die Konservativen versuchen das mit Manfred Weber. Aber jetzt sagen die Staats- und Regierungschefs, sie behalten sich vor, auch eigene Kandidaten unabhängig von der Wahl vorzuschlagen, und das wird auf einem Sondergipfel am 28. Mai besprochen. Was sagen Sie?
Barley: Das wäre ein riesiger Rückschritt bei der Demokratisierung der Europäischen Union. Es war ein ganz großer Meilenstein, dass das Europäische Parlament dieses Spitzenkandidaten-Prinzip erkämpft hat. Und ja, es ist wahr, dass die europäischen Spitzenkandidaten nicht besonders bekannt sind innerhalb der Europäischen Union, innerhalb der Bevölkerung. Aber immerhin gibt es eine transparente Wahl. Es gibt Kandidaten, die man kennen kann, wenn man sich dafür interessiert. Wenn die Regierungscheffinnen und Chefs jetzt wieder für sich beanspruchen, dass sie das irgendwo auskungeln, dann wäre das wirklich ein großer Rückschritt.
Wir sehen, dass sich innerhalb der Konservativen da auch Absetzbewegungen formieren. Das war ja in dem Beitrag auch angesprochen, dass da dann doch auch wieder andere Namen im Gespräch sind. Wir als Sozialdemokratie stehen ganz klar zu diesem Spitzenkandidaten-Prinzip. Bei uns ist gar keine Frage, dass Frans Timmermans auch gewählt werden würde. Sehr enttäuschend ist das Verhalten der Liberalen, auch unserer FDP, dass die sich abgewandt haben - sie haben ja ein Team nur aufgestellt -, weil man dahin kommen muss zu sagen, wir legen vor der Wahl offen, was wir nach der Wahl tun. Das ist das Prinzip dieser Spitzenkandidaten-Nominierung und das ist ein wichtiges Element der Demokratisierung.
Liberale kommen mit Namen, die gar nicht auf Listen stehen
Engels: Aber was machen Sie, wenn tatsächlich die EU-Regierungschefs hier hart bleiben und auch die Liberalen sich nicht für einen Kandidaten, der auch angetreten ist bei den Wahlen, festlegen wollen? Bleibt dann dieser Posten erst mal unbesetzt? Laufen wir auf eine Blockade hier zu?
Barley: Über solche Fragen kann man und sollte man vor der Wahl jetzt nicht spekulieren, weil das hängt ganz stark davon ab, wie diese Wahl ausgeht. Wie gesagt, die einzige Kraft, bei der das völlig klar ist, wenn wir die Mehrheit gewinnen sollten, dann erübrigt sich das, weil bei uns ist dann klar, dann wird das Frans Timmermans. Bei den Konservativen ist die Diskussion, wer es wird, und bei den Liberalen, die kommen jetzt die ganze Zeit mit Namen, die gar nicht auf irgendwelchen Listen stehen. Aber wie dann das konkrete Setting am Ende aussieht, das muss man dann sehen, wenn die Wählerinnen und Wähler ihre Entscheidung getroffen haben. Sie können all das ja auch in ihre Wahlentscheidung einbeziehen.
Engels: Nicht wenige Beobachter sagen aber, die Chancen für das EU-Parlament, Ihr Prinzip, dass ein Spitzenkandidat auch tatsächlich EU-Kommissionspräsident wird, würden steigen, wenn man sich zügig auf einen Kandidaten, vielleicht fraktionsübergreifend verständigt, zum Beispiel auf Manfred Weber von der EVP, dem ja die besten Chancen eingeräumt werden, weil er wahrscheinlich die größte Fraktion in Zukunft vertreten könnte.
Barley: Das ist nicht ausgeschlossen, und wenn Sie die Prognosen derzeit sehen – dadurch, dass die Briten jetzt doch an der Europawahl teilnehmen, dadurch, dass Orbán seine Unterstützung entzogen hat, ist das Rennen sehr, sehr eng geworden. Es sind wenige Stimmen, die derzeit in den Prognosen Frans Timmermans von dem EVP-Kandidaten trennen. Das wäre völlig absurd und auch gerade nicht der demokratische Wettbewerb, den wir wollen. Wir wollen, dass die Menschen die Wahl haben, und das sollten wir jetzt nicht im Voraus einem Gehorsam einrollen.
Engels: Was für ein Bild gibt Europa da ab, dass noch nicht mal diese Frage, ob ein Spitzenkandidat tatsächlich Kommissionspräsident wird, geklärt ist?
Barley: Man muss ganz klar sagen: Europa ist kein monolithischer Block. Europa ist immer Work in Progress. Wenn man sieht, wie die Institutionen ursprünglich mal ausgesehen haben, wie dann das Europaparlament mal ein Parlament war, was gar nicht vom Volk gewählt wurde, was gar keine Kompetenzen hatte, welchen Weg wir da zurückgelegt haben, ich glaube, das muss man immer wieder in Erinnerung rufen. Europa entwickelt sich und wichtig ist, dass wir diesen Weg jetzt weiter vorwärts gehen, hin zu mehr Demokratisierung, hin zu mehr Europa von den Bürgern, aber auch für die Bürger, auch inhaltlich zu einem sozialen Europa hin.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.