Freitag, 29. März 2024

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EU-Kommissionspräsident Juncker
"Wir möchten ein offener Kontinent bleiben"

Wer verfolgt werde, habe, wenn er die Bedingungen für Asyl erfülle, einen Platz in Europa, sagte der scheidende EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker im Dlf. Wenn einige Länder sagten, "wir nehmen keine Moslems oder Andersfarbige bei uns auf", widerspräche das dem europäischen Weg.

Jean-Claude Juncker im Gespräch mit Bettina Klein | 15.09.2019
Der scheidende EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker erscheint zwischen zwei EU-Flaggen in Brüssel
Noch bis zum 31. Oktober ist der ehemalige luxemburgische Premierminister Jean-Claude Juncker EU-Kommissionspräsident (imago images / Belga)
Jean-Claude Juncker beurteilt die wirtschaftliche Entwicklung Europas während seiner Zeit als EU-Kommissionspräsident als überwiegend positiv. Ein "eher ungutes Gefühl" hat der 64-Jährige mit Blick auf die politische Entwicklung.
Der Austritt Großbritanniens aus der EU sei der "Höhepunkt einer kontinentalen Tragödie", "ahistorisch" und der Problemlage, die es in Europa zu bewältigen gebe, nicht angemessen, sagte Juncker. Die Entscheidung der Briten gelte es aber zu respektieren.
Nicht optimistisch für Alternativen zum "Backstop"
Den Austrittsvertrag wieder aufzumachen sei nicht möglich, betonte der scheidende EU-Kommissionspräsident. Es gehe darum, zu überlegen, welche in die Zukunft reichenden Vereinbarungen denkbar seien. Man müsse mit Großbritannien ein ordentliches Verhältnis behalten. Für alternative Vereinbarungen zum "Backstop" sei er nicht optimistisch. Er hoffe weiter auf alternative Vorschläge, aber die Zeit dafür werde knapp, meinte der ehemalige luxemburgische Premierminister.
Ein ungeordneter Brexit werde zu einem heillosen Chaos führen, auf den britischen Inseln wie auf dem Kontinent. Man werde Jahre brauchen um die Dinge wieder in Ordnung zu bringen. "Wer sein Land liebt - und ich gehe doch davon aus, dass es in Großbritannien noch Patrioten gibt - der möchte seinem Land ein derartiges Schicksal nicht wünschen", sagte Juncker.

Das Interview in ganzer Länge:
Bettina Klein: Herr Juncker, danke dass Sie sich die Zeit nehmen heute, für das Interview der Woche im Deutschlandfunk. Noch sechs Wochen - so ist es geplant - sind Sie im Amt des Kommissionspräsidenten. Wie geht es Ihnen bei diesem Gedanken oder mit welchen Gefühlen verlassen Sie Ihren Job in diesem Herbst 2019?
Jean-Claude Juncker: Also, das bringt vieles an momentaner Nostalgie mit sich, denn ich bin nicht für Abschiede gemacht. Damit meine ich Mitarbeiter, Kollegen und so. Aber ich bin auch erleichtert. Ich bin froh, mich nicht auf jede Agenturmeldung sofort stürzen zu müssen.
"Was das Internationale anbelangt, habe ich ein eher ungutes Gefühl"
Klein: In welchem Zustand der Europäischen Union verlassen Sie diesen Posten? Was ist Ihre größte Sorge im Augenblick?
Juncker: Also, ich bin einigermaßen zufrieden mit dem was wir hinterlassen. Als wir hier anfingen 2014, war die Arbeitslosigkeit am Steigen, die Beschäftigungsquote am Sinken, die Haushaltsdefizite expandierten. All dies wurde - ich sage nicht gerne - in ihr Gegenteil verkehrt. Aber es hat noch nie so viele Europäer gegeben, die in Arbeit standen - 241 Millionen sind das. Die Arbeitslosigkeit war seit vielen Jahrzehnten nicht mehr so niedrig, 6,3 ist sie jetzt. Die Jugendarbeitslosigkeit ist nach wie vor zu hoch, obwohl sie auch abnehmende Tendenz hat. Also, was die Fundamentalfragen anbelangt, die auch das tägliche Leben der Europäer betreffen, habe ich ein eher gutes Gefühl. Was das Internationale anbelangt, habe ich ein eher ungutes Gefühl.
"Ärgere mich über Fehlinterpretation dieser Kompetenzbezeichnung"
Der scheidende EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker sitzt mit DLF-Brüssel-Korrespondentin Bettina Klein im Studio
Jean-Claude Juncker im Interview mit Brüssel-Korrespondentin Bettina Klein (EU-Kommission)
Klein: Da kommen wir gleich noch drauf. Sie übergeben in wenigen Wochen vermutlich den Staffelstab an Ihre Nachfolgerin, Ursula von der Leyen. Seit Dienstag kennen wir nicht nur die Namen der neuen Kommissarinnen und Kommissare, wir kennen auch Ressortverteilung, Ressortzuschnitt. Viele haben sich gefreut, dass sie eine paritätische Kommission zusammenstellen konnte, fast gleich viele Männer und Frauen. Sie versucht etwas Neues auch bei den Bezeichnungen für die Ressorts. Auch für die Vizepräsidenten zum Beispiel. Es gibt da im Augenblick einigen Unmut im Parlament. Frau von der Leyen wird es nächste Woche wohl klarstellen. Sie ist eingeladen nach Straßburg. Wie sehen Sie das? Ihr langjähriger Sprecher, Margaritis Schinas, bekommt als einer von acht Vizepräsidenten das Portfolio "Ein Europa, das schützt", auf Englisch "Protecting Our European Way of Life". Gleichzeitig ist er für Migration zuständig, die im Titel nicht mehr auftaucht. Sie haben sich in einem Interview kurz schon dazu geäußert. Inwiefern teilen Sie denn die Kritik, dass der Eindruck entsteht, da wird ein Gegensatz erzeugt zwischen Migration und dem europäischen Lebensstil?
Ursula von der Leyen auf einer Pressekonferenz nach ihrer Wahl zur Präsidentin der EU-Kommission
Die neue EU-Kommission - Von der Leyens Mannschaft für Europa
14 Männer und 13 Frauen sollen ab dem 1. November die Spitzenposten der EU-Kommission besetzen. Das vor dem EU-Austritt stehende Großbritannien nominierte keinen Vertreter. Wer die Kandidaten sind, welche Ressorts sie nun besetzen sollen und was sie vorher gemacht haben: hier ein Überblick.
Junker: Ich teile diese Kritik nicht voll umfänglich. Ich habe nur moniert, dass die Bezeichnung des Kompetenzbereiches von Kommissar Schinas umbenannt werden sollte, um Missverständnissen vorzubeugen. Ich lese in der deutschen Presse, ich wäre da Ursula von der Leyen in den Rücken gefallen. Das ist nicht so. Ich ärgere mich über die Fehlinterpretation, die man dieser Kompetenzbezeichnung zugebracht hat. Das ist aber nicht der Fehler von Frau von der Leyen. Aber das wird sie in den nächsten Tagen, denke ich, richtigstellen.
Schinas "hat ein Herz für die, denen es nicht gut geht"
Klein: Sie haben im Interview angedeutet, das würde sich auch nicht unbedingt decken mit den Werten von Margaritis Schinas. Also, welche Bedenken stehen dahinter, dass man sagt, das taucht nicht im Titel auf‘?
Juncker: Margaritis Schinas war mein Chefpressesprecher während fünf Jahren. Ich kenne auch so die Verästelungen seiner Gedankenführung. Er ist nicht jemand, der unglückliche Menschen davon abhalten möchte, nach Europa zu kommen, sondern er hat ein Herz für die, denen es nicht gut geht. Und deshalb wäre es gut, wenn das alles klargestellt wird. In der Denke von Ursula von der Leyen ist das ähnlich. Sie ist ja nicht jemand, die alles, was fremd wäre, ablehnen würde. Das ist überhaupt nicht diese Frau.
"Wir möchten ein offener Kontinent bleiben"
Klein: Man könnte ja auch argumentieren – so hat sie es ja auch getan –, dass die Frage sich schon stellt, ob wir nicht tatsächlich den "European Way of Life" schützen müssen, so wie er in Artikel 2 des Lissabon-Vertrages dargestellt ist. Also hat es auch etwas Gutes, sozusagen, auf diejenigen zuzugehen, die möglicherweise da viele Sorgen haben?
Juncker: Ja, diese Sorgen gibt es. Aber diese Sorgen muss man nicht haben, denn zum Europäischen "Way of Life" – um bei der Bezeichnung zu bleiben – gehört ja auch, dass wir keine Festung Europa bauen, sondern ein offener Kontinent bleiben möchten. Wer verfolgt wird, aus religiösen oder anderen Gründen, rassistische Gründe, hat einen Platz in Europa, wenn er denn die Bedingungen für das Asyl erfüllt.
Staaten streiten um das Umverteilungssystem
Klein: Dennoch, beim Thema Migration tut sich seit Jahren relativ wenig. Die europäischen Staaten haben in vielen Fragen keine Fortschritte erzielen können dabei. Glauben Sie, dass die Kommission an diesem Punkt hätte etwas anders machen können oder denken Sie, es ist einfach die Verantwortung der Mitgliedsstaaten, dass wir nicht sehr viel weitergekommen sind?
Juncker: Ich glaube, das dezidiert nicht. Die Kommission hat schon im Mai 2015 vorgeschlagen, dass wir ein Umverteilungssystem in Aufstellung bringen sollten. Der Rat der Innenminister hat das auch so entschieden, aber es gibt einige – Ungarn, et cetera – die sich damit nicht abfinden. Und das wird jetzt so fehlinterpretiert, als ob die Staaten, die das nicht möchten mit der Kommission querliegen würden. Sie liegen aber quer mit den Staaten, die damit einverstanden waren.
"Mindestens unbegleitete Kinder aufnehmen"
Klein: Haben Sie einen Rat an Ursula von der Leyen, wie sie das jetzt sozusagen angehen kann, um bei diesem Thema, um dabei noch mal kurz zu bleiben, jetzt weiterzukommen?
Juncker: Ich habe da alles versucht. Ich hatte die Visegrád-Staaten öfter bei mir. Ich habe denen vorgeschlagen, dass es kein obligatorisches Umverteilungssystem geben müsste, wenn sie denn bereit wären, Flüchtlinge aufzunehmen. Das sind sie erkennbar nicht. Ich habe allen vorgeschlagen, dass sie mindestens unbegleitete Kinder auf ihrem Territorium aufnehmen möchten. Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, dass es in Polen zu Massendemonstrationen käme, wenn Polen 100 oder 200 unbegleitete Kinder aufnimmt. An den Gesprächen muss man weiterarbeiten. Und was eben nicht geht ist, dass von vornherein gesagt wird: "Wir nehmen keine Moslems bei uns auf, wir nehmen keine Andersfarbigen bei uns auf." Das widerspricht dem europäischen Weg.
Kinder, Frauen und Männer in Rettungswesten auf einem Schlauchboot. 
Europäische Flüchtlingspolitik - "Wir müssen uns um die Fluchtursachen kümmern"
Das Geld aus dem EU-Türkei-Abkommen zur Bewältigung der Flüchtlingskrise sei weitgehend aufgebraucht, sagte der CDU-Europaabgeordnete Daniel Caspary im Dlf. Um der Türkei weiter zu helfen, müsse es eine Anschlussfinanzierung geben. Vor allem aber müsse man die Fluchtursachen in den Griff kriegen.
Erhöhte Geldleistungen als Solidaritätsbeweis
Klein: Glauben Sie, dass es ihr gelingen wird, da eher Brücken nach Ost-Mitteleuropa zu bauen und eine Verständigung zu erzielen?
Juncker: Also sie muss das versuchen. Ich habe in mehreren Reden zur Lage der Europäischen Union deutlich gemacht, dass ich mir auch vorstellen kann, dass es andere Solidaritätsbeweise gibt als nur die Aufnahme von Flüchtlingen, beispielsweise erhöhte Geldleistungen. Alles liegt auf dem Tisch.
Hinterzimmer-Arrangements bei der Kommissionspräsidentenwahl
Klein: Schauen wir noch mal ein bisschen zurück, zwei, drei Monate. Sie selbst sind und waren ja ein Verfechter des Spitzenkandidatenprinzips und -prozesses und Ihre Nominierung war eigentlich auch natürlich ein Ergebnis dessen. Haben Sie sich inzwischen komplett damit ausgesöhnt, dass dieses Prinzip am Ende keine Anwendung fand?
Juncker: Nein, aber das ist Sache von Frau von der Leyen und des Europäischen Parlamentes, Wege freizulegen, die es erlauben, dass man zu diesem System, das weitaus demokratischer ist als alle anderen, zurückfinden kann. Ich bin sehr einverstanden, dass Frau von der Leyen Kommissionspräsidentin wird. Ich kenne sie seit vielen Jahren und fühle mich auch in Harmonie mit ihr selbst, wenn es um grundsätzliche politische Fragen geht. Aber dass wir da wieder zu Hinterzimmer-Arrangements gekommen sind, habe ich nicht genossen.
Listen mit transnationalen Spitzenkandidaten
Klein: Was wäre der nächste Schritt sozusagen, um zu diesem Prinzip wieder zurückzukehren?
Juncker: Ja, man muss die Regierungen davon überzeugen. Es gibt mehrere Regierungen, die sich dem in den Weg stellen, die haben aber nicht sehr viel Besseres anzubieten. Die reden von transnationalen Listen mit einem dann transnationalen Spitzenkandidat. Das klingt gut, lässt aber außer Betracht, dass dies eine Vertragsänderung bedingt und lässt auch außer Betracht, dass dann die Distanz zwischen Bürgern, sprich Wählern und den Gewählten und dann benannten Kommissionschefs größer wird. Nicht kleiner, größer.
Einmischung des Rats bei der Vizepräsidentenwahl
Klein: Man hat ja auch sogar befürchtet, eine institutionelle Krise der Europäischen Union dann nach den Wahlen, weil es eben keine Einigung gab. Die ist, soweit ich erkennen kann, nicht eingetreten, oder doch? Sehen Sie gravierende Entwicklungen, die sich jetzt daraus ergeben haben?
Juncker: Nein. Die Europäische Union in all ihren Komponenten wird ja von vernunftbegabten Menschen geführt. Die Lage ist die, dass Frau von der Leyen - das ist keine schlechte Wahl - Kommissionspräsidentin wird, ohne Spitzenkandidatin gewesen zu sein. Und als deutlich wurde, dass die ins Auge gefassten Spitzenkandidaten keine Chance im Europäischen Rat hatten, sich durchzusetzen, war dies eine naheliegende Wahl. Und deshalb, weil es einstimmig beschlossen wurde, hat es zu keiner institutionellen Verwerfung geführt, obwohl ich mit Unruhe bemerke, dass der Europäische Rat nicht nur die Kommissionspräsidentin be- und ernannt hat, sondern gleichzeitig auch zwei Vizepräsidenten der Europäischen Kommission sich um die Wahl des Präsidenten des Parlamentes gekümmert hat. Das geht den Europäischen Rat eigentlich nichts an, denn die Kommissionspräsidentin wählt ihre Vizepräsidenten aus und nicht der Europäische Rat.
"Bei vielen Parlamentariern ist da was hängen geblieben"
Klein: Hat das jetzt noch bleibende Nachwirkungen, dass der Rat sich, wie Sie sagen, da eingemischt hat?
Juncker: Nicht unbedingt sofort, aber auf Dauer schon.
Klein: Inwiefern?
Juncker: Ja, weil es viele auch im Europäischen Parlament gibt, die mit der Art und Weise, wie da entschieden wurde - weniger noch, was die Personalie Ursula von der Leyen anbelangt als die anderen vom Europäischen Rat zu Unrecht angesprochenen Personalien anbelangt. Bei vielen Parlamentariern ist da was hängen geblieben.
Klein: Sie hat es - möglicherweise - versucht, auszugleichen, indem sie einen dritten exekutiven Vizepräsidenten ernannt hat, Valdis Dombrovskis, aus ihrer Parteienfamilie, aus der EVP auch, ein lettischer Politiker. Eine gute Entscheidung?
Juncker: Ja, ich hatte dem Kollegen Dombrovskis eine Vizepräsidentschaft in meiner Kommission angeboten, mit sehr erheblichen und bedeutenden Kompetenzzuordnung. Ich bin nicht traurig darüber, dass die drei exekutiven Vizepräsidenten Mitglieder meiner Kommission waren.
"Ich halte den Austritt Großbritanniens für ahistorisch"
Klein: Sie hören das Interview der Woche im Deutschlandfunk, heute mit Jean-Claude Juncker, dem scheidenden Präsidenten der Europäischen Kommission. Herr Juncker, schauen wir in den nächsten Minuten auf das Szenario, das uns seit mehr als drei Jahren beschäftig und das mit jedem Tag - so scheint es - schwieriger, wenn nicht auswegloser erscheint: Großbritanniens Austritt aus der Europäischen Union. Wenn Sie im Augenblick den Zustand beschreiben müssten, in dem wir uns jetzt am Ende dieser Woche befinden, auf welchen Nenner würden Sie es bringen?
Juncker: Wir befinden uns noch immer auf dem Höhepunkt einer kontinentalen Tragödie, auch wenn eine Insel betroffen ist. Ich halte den Austritt Großbritanniens für ahistorisch, für die Problemlage, die es in Europa zu bewältigen gilt, nicht angemessen. Aber es ist halt die Entscheidung der Briten, und die gilt es zu respektieren. Ich werde Premierminister Johnson in den nächsten Tagen treffen. Ich habe mehrfach mit ihm telefoniert. Es kann nicht so sein, dass der Austrittsvertrag wieder aufgemacht wird, das wird nicht möglich sein. Wir müssen uns überlegen, welche in die Zukunft hineinreichenden Vereinbarungen denkbar sind, die nicht mit dem Austrittsvertrag inhaltlich und substanziell zusammenhängen. Ich bin der Meinung, dass wir mit Großbritannien ein ordentliches Verhältnis behalten müssen und bin eigentlich nicht optimistisch, wenn es darum geht, alternative Vereinbarungen zu finden, die es uns erlauben, das Thema Backstop in Irland einzugrenzen.
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"Wir wissen nicht, was die Briten detailliert wollen"
Klein: Viele verstehen irgendwie auch gar nicht mehr, was passiert. Sie verstehen den Premierminister nicht mehr. Wir hören aus Großbritannien, viele Leute verfolgen es auch gar nicht mehr, weil sie es nicht mehr ertragen oder nicht mehr verstehen. Können Sie uns weiterhelfen? Sie sind im direkten Kontakt mit Boris Johnson. Was ist sein Ziel und können Sie sozusagen erklären, was er jetzt eigentlich vorhat?
Juncker: Also, ich verstehe schon meine eigene Psychologie nur in Maßen – ich maße mir also nicht an, die Psychologie anderer zu verstehen. Und im Falle Boris Johnson wäre dies ja auch eine langwierige Aufgabe. Wir wissen nicht, was die Briten detailliert, präzise und genau wollen und wir warten immer noch auf alternative Vorschläge. Und ich hoffe, dass wir die kriegen, aber die Zeit wird knapp.
"Ein No-Deal würde ein heilloses Chaos werden"
Klein: Gehen Sie davon aus, dass vieles, von dem was wir hören, auch eine Art Bluff ist oder ist es ernst gemeint, dass die Briten ein No-Deal-Scenario, wenn nicht anstreben, so doch auf jeden Fall in Kauf nehmen würden?
Juncker: Es gibt viele in Großbritannien, die einem No-Deal positiv gegenüber stehen, ohne zu bedenken, was dann die Auswirkungen - sowohl auf den Inseln als auch auf dem Kontinent - wären. Es würde ein heilloses Chaos werden und wir werden Jahre brauchen, um die Dinge wieder in Ordnung zu bringen. Wer sein Land liebt – ich gehe doch davon aus, dass es in Großbritannien noch Patrioten gibt –, der möchte seinem Land ein derartiges Schicksal nicht wünschen.
"Bislang steht die Front der 27 nahtlos"
Klein: Das meiste, was passiert, hängt im Augenblick weiterhin von London ab und den im Augenblick wenig absehbaren Ereignissen dort. Dennoch, sehen Sie oder befürworten Sie irgendeine Art der Änderung der Strategie der Europäischen Union im Vergleich zu dem, was wir bisher drei Jahre lang beobachten konnten?
Juncker: Wir haben uns drei Jahre lang bemüht, a) auf Großbritannien zuzugehen und b) die Einheit der 27 verbleibenden Mitglieder sicherzustellen. Das war kein einfaches Unterfangen, wie Sie sich vorstellen können. Denn es gibt immer wieder die Versuchung, in diesem Land oder jenem Land, so einen Mini-Deal mit Großbritannien abzuschließen, um dem Schlimmsten zu entgehen. Aber bislang steht die Front der 27 nahtlos. Und ich hätte gerne, dass das auch so bleibt.
Keine Lösung auf Kosten Irlands
Klein: Das wollte ich Sie gerade fragen. Sie haben, als wir zuletzt in diesem Format ein Interview führen konnten mit Ihnen, genau von dieser Sorge gesprochen, dass es den Briten sehr schnell gelingen wird, die 27 auseinander zu dividieren. Heute sagt man, in dieser Frage ist Europa 27 so geschlossen, wie bei kaum einem anderen Thema. Waren Sie zu pessimistisch – es war eine Sorge, die viele umgetrieben hat –oder ist diese Gefahr noch gar nicht gebannt?
Juncker: Nein, ich war nicht zu pessimistisch, aber hatte brennende Sorge, dass es den Briten gelingen würde, wegen autobiographischer Schwäche einiger Mitgliedsstaaten, Sonderdeals abzuschließen. Das ist nicht passiert, weil auch ich selbst, Barnier als Chefverhandler, alle Mitgliedsstaaten mehrfach die Woche getroffen hat, um sie genau über das zu informieren, was Verhandlungsmasse war. So viel Verhandlungsmasse gab es im Übrigen nicht, weil wir verzweifelt versuchen zu eruieren, welches denn die Endposition der Briten in den betroffenen Fragen wäre. Aber die 27 stehen zusammen und sie stehen auch zusammen, weil es ja nicht geht, dass wir jetzt eine Lösung auf Kosten Irlands finden. Irland ist ein kleines Land in einer besonderen, auch geografischen Lage, und hier gilt das Solidaritätsprinzip der 26 anderen mit Irland.
"Schon jetzt erkennbar mehr Unruhen in der nordirischen Provinz"
Klein: Wenn es nicht zu einem Austrittsabkommen kommen sollte und zu einem No-Deal-Scenario, dann wegen des Backstop, der eigentlich da drin ist, um sozusagen eine harte Grenze auf der irischen Insel zu vermeiden. Wenn es zum No-Deal-Scenario kommt, dann wird es irgendeine Art von Grenzkontrollen ja vermutlich geben. Vielleicht nicht eine harte Grenze, aber etwas Ähnliches. Ist das nicht eigentlich ein Widerspruch?
Juncker: Wir müssen versuchen, die operativ wirksame Grenzziehung zwischen Nordirland und Irland so klein wie möglich organisatorisch in den Griff zu kriegen. Da gibt es einige Überlegungen, aber keine ist zielführend. Drohnenkontrolle und Ähnliches sind keine zielführenden Vorschläge. Und man unterschätzt, denke ich, auch bei uns auf dem Kontinent die Endwirkung einer neuen Grenze zwischen Nordirland und Irland. Es gibt jetzt schon erkennbar mehr Unruhen in der nordirischen Provinz als in den letzten Jahren. Und dieser Good-Friday-Deal/Karfreitagsabkommen, ist eine schöne Geschichte europäischer Innendiplomatie. Und wir dürfen das nicht kaputtmachen.
"Wir müssen auch den Binnenmarkt schützen"
Klein: Aber am Ende, wenn es zu einem No-Deal kommt, wird die Europäische Union ja dafür sorgen wollen, dass der Binnenmarkt eben auch nach außen geschützt ist, also man wird um Grenzen nicht herumkommen?
Juncker: Ja, es gibt die Krieg- und Friedensfrage, es gibt aber auch das Thema Weiterführung, siehe Schutz des Binnenmarktes. All dies muss man im Kopf behalten. Und weil dies so viele Themen sind - allein das Thema Binnenmarkt, das sind ja hunderte Fragen - ist es so schwierig, den Menschen vorzuführen, worum es eigentlich geht. Und Binnenmarkt, das sind tausende von Fragen. Wir müssen auch den Binnenmarkt schützen. Man darf nicht einfach – wie Nordirland – Produkte, Waren, Tiere – lebendige und tote – nach Europa importieren können, die unseren Binnenmarktregeln und -anforderungen nicht entsprechen.
"Es braucht eine Begründung mit Aussicht auf Einigung"
Klein: Wird es eine Verlängerung geben, wenn Großbritannien eine einigermaßen vernünftige Begründung dafür liefert?
Juncker: Es braucht eine Begründung. Eine Begründung mit Aussicht auf Einigung. Einfach so, wegen der Probleme im Britischen Parlament und wegen der Befindlichkeiten hier und dort, den Austritt noch einmal auszusetzen, reicht als Begründung nicht.
"Die denken immer noch, wir wären die Herren der Welt"
Klein: Sie, Herr Juncker, haben relativ bald nach dem Brexit-Referendum von einer Art Wake-up Call gesprochen, auch für Europa. Es gab einen weiteren Wake-up Call, das war die Wahl von Donald Trump, die auch zu einem Umdenken in der Europäischen Union, nach meiner Wahrnehmung, geführt hat. Nicht nur: Wie verändern wir uns im Inneren? sondern: Wie stellen wir uns außen auf? Sie haben, glaube ich, mit Blick auf Deutschland davon gesprochen, das Land müsse weltpolitikfähig werden. Was muss Europa jetzt tun, damit Europa weltpolitikfähig ist?
Juncker: Die eigentliche Frage ist ja, wie weltpolitikfähig – das kann man in keine andere Sprache übersetzen im Übrigen, ich lese da die tollsten Erfindungen – … Diese Weltpolitikfähigkeit drängt sich auf. Wir sind der kleinste Kontinent. Wissen die Europäer eigentlich, dass Europa der kleinste Kontinent ist? Ich glaube nicht. Die denken immer noch, wir wären die Herren der Welt. Sind wir nicht. Brauchen wir auch nicht zu sein. Das relative ökonomische Gewicht Europas nimmt ab. Wir stellen heute 25 Prozent der globalen Wirtschaft, und das wird sich auf 15, 16, 17 Prozent absenken. Und demografisch sind wir so aufgestellt, dass wir eigentlich nicht mehr aufgestellt sind. Am Anfang des 20. Jahrhunderts hatten 25 Prozent der Weltbevölkerung einen europäischen Pass, jetzt sind es noch 7 Prozent, am Ende dieses Jahrhunderts werden es noch vier Prozent sein. Daraus ergibt sich, dass jetzt die Stunde gekommen ist, wo die Europäer näher zusammenstehen müssen und sich nicht wieder in nationale Rubriken und Ligen dislozieren. Und deshalb gilt nach wie vor der Auftrag, den die Europäer sich selbst gegeben haben, dass wir zusammenstehen. Ich rede nicht von einer immer enger werdenden Union, das ist eine Vokabel, die inzwischen in Verruf geraten ist. Aber jede Abwärtsbewegung vom Zentrum – wobei ich nicht zentralisierter Politik das Wort rede, weil ich auch dafür bin, dass man die Nationen respektiert – ist mit erheblichen Gefahren im Moment verbunden.
"Sehr oft können wir uns international nicht kohärent äußern"
Klein: Aber sagen Sie uns einen Schritt, wie man von einer Zersplitterung, auch beim Thema Außenpolitik zum Beispiel, wegkommt. Wir haben de facto 28 oder bald 27 Außenpolitiken?
Juncker: Ja, das ist kein neues Phänomen, aber ich habe vor Jahresfrist oder vor zwei Jahren – ich weiß das nicht mehr genau – vorgeschlagen, dass wir in einigen außenpolitisch relevanten Fragen mit qualifizierter Mehrheit entscheiden sollen, statt uns in die Fesseln der Einstimmigkeit zu begeben. Und sehr oft können wir uns international nicht global und kohärent äußern, weil ein, zwei Mitgliedsstaaten das nicht mitmachen. Das muss geändert werden. Außenpolitik braucht Überlegung und eine Verbesserung der Entscheidungsfähigkeit.
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Mit Trump hat die Nachfrage nach Europa zugenommen
Klein: Der Name Donald Trump fiel gerade schon. Sie gelten als jemand, der ein gutes Verhältnis hat zu ihm, vielleicht auch persönlich. Ihre Sprecherin hat das neulich noch mal betont. Wie haben Sie das gemacht?
Juncker: Ach, ich weiß das nicht. Ich habe mit Donald Trump so geredet, wie ich mit allen Menschen rede, nämlich von der Lunge auf die Zunge. Und das sind die Großen dieser Welt nicht unbedingt gewöhnt.
Klein: Was ist Ihr Rat da an Ihre Nachfolgerin? Wir gehen jetzt sozusagen zu den Handelsfragen ja über. Sie braucht sicherlich mehr als ein persönlich gutes Verhältnis, was ist Ihr Rat?
Juncker: Ja, man braucht ein gutes Verhältnis, sonst geht mit dem Mann im Weißen Haus nichts. Man darf ihn nicht beschimpfen, man muss ihn ernst nehmen, man muss zuhören, was er sagt. Was dann auch zur Folge hat, dass er auch zuhört, was man selbst sagt. Wir haben während meiner Dauer als Kommissionspräsident 14 internationale Handelsverträge abgeschlossen. Kanada, Japan, jetzt Mercosur, das sind vier weitere. Ich stelle fest, nach dem Erscheinen von Donald Trump auf der internationalen Bühne, dass die Nachfrage nach Europa sprunghaft zugenommen hat. Wir konnten jetzt Handelsverträge abschließen, wo wir uns über 20 Jahre in Verhandlungen befanden. Europa wird seit der Abkehr von Donald Trump vom Multilateralismus immer mehr zu einem gern gesehenen Gast.
Klein: Abschließende Frage an Sie, Herr Juncker, gehen Sie davon aus, dass Sie am 1. November Ihren wohlverdienten Ruhestand werden antreten können oder dauert es noch ein bisschen?
Juncker: Ob der wohlverdient ist, weiß ich nicht, aber ich freue mich darauf. Und laut Vertrag ist es so, dass die neue Kommission am 1. November anfängt, wenn sie denn komplett installiert ist.
Klein: Herr Juncker, vielen Dank für das Gespräch.
Juncker: Ich bedanke mich, Frau Klein.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.