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EU muss den "Schritt zu einer europäischen Wirtschaftsunion gehen"

Der finanzpolitische Sprecher der Europa-Grünen, Sven Giegold, fordert eine europäische Wirtschaftspolitik. Wer eine gemeinsame Währung habe, müsse auch eine Wirtschaftsunion haben, statt nationale Interessen zu verfolgen.

Sven Giegold im Gespräch mit Dirk Müller | 12.07.2011
    Dirk Müller: Das darf doch alles nicht wahr sein. Nicht nur viele Finanzpolitiker schütteln mit dem Kopf. Die Euro-Krise ist ein Fass ohne Boden, eben genau so, wie es einige seit Monaten behaupten, aber kein Gehör gefunden haben. Diesmal umfasst der nächste Krisenherd eine völlig neue Dimension. Es geht nicht um Portugal, es geht nicht um Irland, es geht nicht um Griechenland, ökonomische Zwerge, die trotz ihrer bescheidenen Größe viel, viel Geld von der Europäischen Union brauchen, um zu überleben. Jetzt kommt Italien, die drittgrößte Wirtschaft in der Europäischen Union. Auch dort liegt vieles im Argen. Die Finanzmärkte reagieren nervös. Auch Rom könnte vor der Pleite stehen. Zu hoch die Schulden, zu gering die Kreditwürdigkeit. Die europäischen Finanzminister arbeiten in Brüssel mit Hochtouren am nächsten Krisenfall.
    Seit Monaten wird beraten, wird diskutiert, wird versucht, einen Weg zu finden, doch immer sind noch viele Details offen. Und jetzt kommt auch noch das italienische Problem dazu. Darüber sprechen wollen wir mit Sven Giegold, finanzpolitischer Sprecher der Grünen-Fraktion im Europäischen Parlament, dort auch zuständig für die Euro-Zone. Guten Tag!

    Sven Giegold: Ja, guten Tag.

    Müller: Herr Giegold, wann wird den Europäern über ihre Währung die Wahrheit gesagt?

    Giegold: Die Wahrheit wird längst gesagt. Man sieht ja an den Reaktionen der Märkte, dass das Vertrauen fehlt. Wir haben es mit einer Vertrauenskrise zu tun. Und ansonsten gibt es wie häufig nicht nur eine Auffassung, und das ist auch in dem Bereich normal. Insofern ist die Forderung nach der Wahrheit das große Problem.
    Was aber offensichtlich ist, ist: Eine gemeinsame Währung funktioniert nicht ohne eine echte gemeinsame Wirtschaftspolitik. Nach wie vor verfolgen alle Einzelstaaten inklusive der deutschen Bundesregierung für Deutschland ihre Einzelinteressen, statt die gemeinsame Wirtschaftspolitik zur Stabilisierung des Euros wirklich in Marsch zu setzen. Und solange wir immer nur den Finanzmärkten hinterherlaufen, werden wir aus dieser Krise nicht herauskommen. Das ist, glaube ich, der Kernpunkt und da muss man klar sagen, wer eine gemeinsame Währung will (und das wollen wir) und wer den Euro stabilisieren will (und das müssen und wollen wir), muss jetzt auch den Schritt zu einer europäischen Wirtschaftsunion gehen.

    Müller: Herr Giegold, da kann einem ja Angst und Bange werden. Dann haben wir demnächst einen portugiesischen Finanzminister und einen italienischen Wirtschaftsminister. Dann können wir in Deutschland auch gleich einpacken.

    Giegold: Nein, das haben wir nicht. Wir brauchen nicht einen gemeinsamen Minister, der alles entscheidet, sondern Europa, genau wie übrigens auch wir in Deutschland – wir haben ja selber auch ein föderales System -, haben sehr gute Erfahrungen damit gemacht, dass bestimmte Dinge dezentral und andere Dinge zentral entschieden werden. Was wir derzeit aber haben ist, auf europäischer Ebene werden die relevanten Dinge eben nicht entschieden. Wir haben Steueroasen mit 0 Prozent Steuern, wir haben andere Länder mit 40 Prozent Steuern im Bereich der Kapitaleinkommen, wir haben keine effektive Koordinierung im Bereich der Lohnpolitik. Einige Länder, auch Deutschland, haben ihre Löhne systematisch gesenkt. Andere Länder machen massiv Schulden. Das geht eben nicht mehr, und dafür brauchen wir entscheidende Regeln und starke europäische Rahmensetzungen. Das können wir machen, ohne dass wir gleich unseren Finanzminister nach Brüssel umziehen lassen müssen.

    Müller: Herr Giegold, das wird in Deutschland aber nicht so gut ankommen, denn die Deutschen haben alles einigermaßen im Griff. Wir setzen das in Anführungszeichen: Auch wir haben unsere Schuldenkrise, unsere Schuldenprobleme, im Vergleich zu vielen anderen ist das aber politisch produktiv und zu lösen, wie es im Moment der Fall scheint. Die europäischen Interessen lagen, auch die europäischen Auffassungen in der Finanz- und Wirtschaftspolitik gehen doch so weit auseinander, dass Ihr Vorschlag – das sagen die Kritiker – sehr naiv klingt.

    Giegold: Ehrlich gesagt ist mein Eindruck der deutschen Bevölkerung ein ganz anderer. Wenn ich mit den Bürgern rede, findet ihr vernünftig, dass es Steueroasen gibt, findet ihr vernünftig, dass wir eine gemeinsame Währung haben, andere Länder sich massiv verschulden, findet ihr vernünftig, dass wir einen gemeinsamen Finanzmarkt haben, aber in einigen Ländern die Banken nicht ordentlich beaufsichtigt werden, die Leute finden das überhaupt nicht vernünftig. Die Umfragen sagen immer wieder ganz klar, Europa soll sich um die Wirtschaft kümmern, und Europa hat deshalb auch den richtigen Schritt zu einer Gemeinschaftswährung gemacht. Wir haben aber eine Bundesregierung, die nach wie vor, wenn es um deutsche Sonderinteressen geht, die nicht legitim sind, wie zum Beispiel systematisch den Exportüberschuss zu steigern, da macht man hier in Deutschland Politik, wenn es um den Finanzplatz geht in London, wenn es um Schulden machen geht in Italien und anderswo. Diese Art von Politik macht Europa kaputt und es nützt auch nichts, immer nur einseitig auf die anderen zu schimpfen über faule Griechen, übermäßig ausgebende Italiener, sondern man muss dann auch im eigenen Bereich schauen, wo man eben mit doppelten Maßstäben handelt.

    Müller: Haben Sie schon mit den Vorstandschefs von BMW und Daimler gesprochen, dass die Produkte zu gut sind, weil sie dann Exportüberschüsse erzielen?

    Giegold: Überhaupt nicht. Das Problem ist nicht, dass die Produkte zu gut sind, sondern das Problem ist, dass die Menschen nicht mehr die Erträge dafür bekommen. Das heißt, es geht nicht, dass ist ein völlig falscher Diskurs zu behaupten, wir müssten weniger wettbewerbsfähig werden. Im Gegenteil: es ist gut, dass Deutschland wettbewerbsfähig ist. Was aber nicht gut ist, ist, dass die Arbeitnehmer in Deutschland 25 Prozent inzwischen im Niedriglohnsektor arbeiten. Würden die ordentlich bezahlt, hätten wir einen gesetzlichen Mindestlohn und würden in die Bildung investieren. Dann würden wir auch wieder mehr importieren und die anderen Länder würden nicht darunter leiden, dass wir gut sind, sondern hätten eben auch was davon.

    Müller: Also geht es nicht um die Exporte, es geht um die Importe?

    Giegold: Natürlich! Es geht darum, dass wir das, was wir erwirtschaften, nicht mehr anderen Ländern leihen, wie wir es derzeit machen - unsere Exportüberschüsse werden ja nicht verbraucht, sondern anderen Ländern ausgeliehen mit der Frage, kriegen wir das jemals zurück -, sondern dass wir das verbrauchen für sinnvolle Investitionen und sinnvolle Ausgaben.

    Müller: Herr Giegold, das müssen wir noch mal konkretisieren. Wir haben das Beispiel Daimler und BMW genannt. Das sind im Moment wieder Vorzeigeunternehmen. Wenn man die Zahlen richtig deutet, dann sind die Arbeitnehmer, die dort beschäftigt sind, diejenigen, die am meisten verdienen in Europa in der Metallindustrie?

    Giegold: Das ist auch gut so und gleichzeitig hängen die an Zulieferindustrien und an Dienstleistungen, die nicht ordentlich bezahlt werden. Um es konkret zu machen: der Daimler-Arbeiter geht zum Friseur, der Friseur bekommt einen lausigen Lohn, und würde der vernünftig bezahlt, hätten wir auch insgesamt wieder Familien, die könnten sich den Griechenland-Urlaub leisten und auf die Weise hätten dann auch die Griechen was davon, dass Daimler wettbewerbsfähig ist. Und das ist genau der Punkt. Es geht nicht darum, dass Daimler weniger wettbewerbsfähig werden soll. Die sollten ökologischere Autos bauen. Das ist ein anderes Thema, darum kümmert sich jetzt Herr Kretschmann und hoffentlich auch Daimler selber. Aber es geht darum, dass die Erträge aus den Exporten, dass die wirklich wieder fair und vernünftig verteilt werden, und das kann man sicherstellen.

    Müller: Herr Giegold, wir haben vor einigen Monaten bereits begonnen mit der Euro-Krise. Im Grunde ist das ja schon seit über einem Jahr so. Da haben wir begonnen mit Irland, dann kam Portugal dazu, kommt Griechenland dazu. Dann hat man irgendwann gesagt, wir müssen das jetzt machen, wir brauchen den Rettungsschirm, 750 Milliarden Euro, gestern tauchten andere Zahlen auf, bis 1,5 Billionen wurde da gefordert, offenbar von Seiten der Europäischen Zentralbank. Es ist ein Fass ohne Boden, so stellt sich das im Moment dar, und es gibt offenbar keine politische Lösung. Wann wird ein klarer Schnitt gemacht?

    Giegold: Ich glaube, die Forderung nach einem klaren Schnitt führt ins Desaster. Das muss man ganz klar sagen. Denn was sieht man jetzt am Beispiel Italien? All die, die in Deutschland, die Sinns und die anderen, die gesagt haben, soll doch Griechenland aus der Euro-Zone ausscheiden, was dann passiert ist die Ansteckung auf andere Länder, und die sind so groß, wenn jetzt andere Länder dort zahlungsunfähig werden, die deutlich größer sind als Portugal, Irland oder Griechenland, dann wird die ganze Sache unmanagbar und das werden Summen, die sind nicht mehr bezahlbar.

    Müller: Also Sie wollen die Transferunion?

    Giegold: Deshalb gibt es die Option, dass man einfach Länder aus dem Euro herausschneidet, was Sie jetzt sagen, mit klarem Schnitt, die gibt es nicht. Die führt in ein Desaster. Was jetzt aber passieren muss ist – und das ist das Fatale von gestern Nacht , und das hat Herr Finthammer ja in dem Beitrag auch sehr gut herausgearbeitet -, wenn man in einer solchen Situation, wo die Finanzmärkte unsicher sind, was ist mit Italien, sich nicht mal einigen kann auf klare Maßnahmen wie Zinsreduktion, wie, dass wir einen Teil der Forderungen auf den Finanzmärkten mit Preisabschlägen zurückkaufen können – dafür gibt es ja eine Gläubigerbeteiligung -, wenn man das nicht schafft, ...

    Müller: Entschuldigung, wenn ich Sie unterbreche. Wie oft sollen wir das denn machen? Wir können das doch nicht demnächst für 15 Länder machen. Wir haben das schon für drei getan.

    Giegold: Nein, nein! Sie haben mich falsch verstanden. Der Punkt ist, im Moment hat ja die Europäische Zentralbank, was ja eigentlich mal nicht so vorgesehen war, auf den Sekundärmärkten Griechenland-, Irland- und Portugal-Anleihen gekauft mit Preisabschlag. Dieser Preisabschlag ist ja nichts anderes wie die gerechte Gläubigerbeteiligung, die immer eingefordert wird. Was aber unter anderem auf deutsches Betreiben dem Rettungsschirm nicht erlaubt wurde, ist, genau das zu tun, und aus meiner Sicht ist das einzig richtige, dass man jetzt sagt, die Marktpreise sind derzeit reduziert. Man kauft auf den Finanzmärkten die Anleihen mit Preisabschlag ein. Dadurch gibt es eine Gläubigerbeteiligung und auf die Weise ist es eben nicht der Staat, der dort alleine die Last trägt, wie es bisher war, sondern wir sorgen dafür, dass die Privatanleger, die ihre Griechenland- und Portugal- und so weiter –Anleihen los werden wollen, dass die einen heftigen Preisabschlag hinnehmen müssen. Das ist aber eben in gewisser Weise sogar noch freiwillig und muss deshalb kein Credit Default sein, also kein Kreditversagen und Kreditausfall.

    Müller: Herr Giegold, wir haben noch 15 Sekunden. Ich möchte Ihnen die Frage stellen: Wird Italien ein Griechenland?

    Giegold: Das glaube ich nicht. Italien ist fähig und Italien ist stark, wirtschaftlich stark, und die Krise in Italien kann vermieden werden, wenn europäisch gemeinsam gehandelt wird und wenn wir dafür sorgen, dass wir allen Ländern in der Euro-Zone Zugang zu günstigem Kredit offenhalten. Das müssen die Finanzminister jetzt liefern. Und wir brauchen dafür eine gemeinsame Wirtschaftspolitik in Europa. Das ist der Weg vorwärts und das ist nicht naiv oder utopisch, sondern das ist das Ende dieser europäischen Kakophonie, den Finanzmärkten mit verschiedensten Meinungen hinterherzulaufen.

    Müller: Bei uns heute Mittag im Deutschlandfunk Sven Giegold, Finanzpolitischer Sprecher der Grünen-Fraktion im Europäischen Parlament. Vielen Dank für das Gespräch und auf Wiederhören!

    Giegold: Vielen Dank, Herr Müller!

    Deutschlandradio aktuell vom 11. Juli 2011: EU-Finanzminister beschließen neuen Rettungsschirm

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