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EU-Parlamentspräsident wettert gegen "angebliche Wunderwaffe" Fiskalpakt

EU-Parlamentspräsident Martin Schulz hat unter anderem Angela Merkel und Nicolas Sarkozy wegen des geplanten Fiskalpakts scharf kritisiert. Keine Wirtschaft könne sich erholen, wenn immer nur die Haushalte gekürzt würden. In Brüssel lägen Milliarden an ungenutzten Mitteln, um beispielsweise Beschäftigungsprogramme zu starten.

Das Gespräch führte Silvia Engels | 25.04.2012
    Silvia Engels: Spanien, Italien, Griechenland oder Portugal, überall dort haben die Regierungen in letzter Zeit gewechselt und überall dort ging das nur im Zusammenhang mit einer handfesten Krise rund um den Haushalt vonstatten. Die Schuldenkrise beginnt auch sehr stark die einzelnen Nationalregierungen zu betreffen. – Am Telefon begrüße ich Martin Schulz, Präsident des Europäischen Parlaments. Guten Morgen!

    Martin Schulz: Guten Morgen, Frau Engels.

    Engels: Herr Schulz, macht die Schuldenkrise Europa nach und nach unregierbar?

    Schulz: Nicht nur nach und nach. Ich vertrete seit längerer Zeit die Auffassung, dass der Euro ein sehr, sehr großes Problem hat, das weder ein währungspolitisches, noch ein ökonomisches, sondern ein regierungssystemisches Problem ist, nämlich die Schwäche derjenigen, die reklamieren, sie seien die Regierung Europas, nämlich die Regierungschefs der Euro-Zone, die ja sich zur Wirtschaftsregierung Europas autonom erklärt haben und auf diesem Weg alle anderen Institutionen, insbesondere die Gemeinschaftsinstitutionen der EU, das Parlament und die Kommission, an den Rand gedrängt haben, und genau diese Regierungen und Regierungschefs sind seit geraumer Zeit fast alle in einer schweren innenpolitischen Krise mit schwachen Regierungen, und das in der Tat belastet den Euro seit langer Zeit.

    Engels: Was würden Sie daraus ableiten als Empfehlung oder Forderung?

    Schulz: Das, was wir ja alle schon seit geraumer Zeit diskutieren, dass wir die Gemeinschaftsinstitutionen stärken. Wir brauchen eine starke Rolle der Kommission, wir brauchen eine parlamentarische Kontrolle von deren Aktionen in Euro-Fragen durch das Europäische Parlament. Das wird ja seit geraumer Zeit geradezu systematisch verweigert mit der Begründung, da sind die nationalen Regierungen und die nationalen Parlamente für zuständig. Und diese Stärkung der Gemeinschaftsinstitutionen nennen wir im Allgemeinen die politische Union. Das ist exakt das, was seit geraumer Zeit fehlt.

    Engels: Aber glauben Sie im Ernst, dass in Europa weniger Menschen gegen die Haushaltskürzungen protestieren würden, wenn jetzt die EU-Kommission eine europäische Regierung wäre?

    Schulz: Das glaube ich nicht. Wir würden sicher nicht die Maßnahmen haben, die wir heute haben. Die Menschen protestieren nicht gegen die Maßnahmen, die die Gemeinschaftsinstitutionen der EU, also wir im Europaparlament oder die Kommission, vorgeschlagen hat. Nehmen wir doch mal Ihr niederländisches Beispiel, das Sie eben in der Collage angeführt haben. Das Haushaltsdefizit der Niederlande, dass dort plötzlich acht Prozent Defizit im Haushalt auftauchen, ist doch nicht in Brüssel entschieden worden, sondern das ist in Den Haag entschieden worden.

    Engels: Aber wäre es in Brüssel entschieden worden, weil die Kommission die Macht hätte, dann hätte man jetzt in Brüssel die Proteste.

    Schulz: Nein, nein, Frau Engels. Sie können ja nicht sagen, wäre und wenn. Bleiben wir mal bei den Realitäten, nehmen wir mal den Zynismus dieses Herrn Wilders. Herr Wilders ist eine Regierungspartei, die Regierungspartei der Niederlande. Keine Regierung hat hier in Brüssel, außer der Bundesregierung, mehr auf Austeritätspolitik gedrängt und bestanden als die Regierung der Niederlande, gestützt durch Herrn Wilders. Ich wiederhole das noch mal. Die ganzen Kürzungen, die Griechenland aufgezwungen worden sind, die ganzen Kürzungen, die übrigens auch von den Niederlanden selbst verlangt werden, sind von Herrn Rutte, dem Premierminister, unterstützt von Herrn Wilders, hier mit Radikalität, gegen den Willen der Kommission, gegen den Willen des Parlaments, gefordert worden und durchgedrückt worden, mit Hilfe von Frau Merkel. Und dann geht anschließend dieser Herr Wilders hin und sagt, das ist ein Diktat aus Brüssel. Das stimmt nicht! Das ist ein Beschluss aus Den Haag. Und die Leute, die demonstrieren gegen einen Beschluss ihrer eigenen Regierung, aber es gelingt dieser Regierung, so zu tun, als sei das irgendwo eine anonyme Macht in Europa. Das ist Frau Merkel, das ist Herr Sarkozy, das ist Herr Rutte, man kann die Leute, die dafür verantwortlich sind, mit dem Namen benennen.
    Das große Problem des Euro ist, dass der Erfolgsfall der Politik reklamiert wird als der Erfolgsfall von Angela Merkel oder Mark Rutte. Der Misserfolgsfall wird pauschalisiert als europäisches Problem dargestellt, und das ist etwas, was den Euro und die Wirtschaft in der Euro-Zone und die Politik in der Euro-Zone zerstört.

    Engels: Sie verlangen also eine Stärkung der europäischen Institutionen.

    Schulz: Vor allen Dingen der Demokratie in Europa, vor allen Dingen des Europäischen Parlaments. Es muss da schon so sein, dass die frei gewählten Abgeordneten der Völker in Europa entscheiden über diese Kürzungen. Das tun sie aber nicht. Entscheiden darüber tun Angela Merkel, Herr Rutte, Herr Sarkozy, der nicht mehr lange, aber andere Regierungschefs, die entscheiden in der Euro-Zone, im Euro-Raum, in der Euro-Gruppe, Jean-Claude Juncker, Premierminister von Luxemburg. Das sind die Leute, die entscheiden.
    Ich stelle mal umgekehrt die Frage: Wie ist es eigentlich möglich, dass nationale Regierungen erklären, wir sind die Regierung Europas, und anschließend, wenn sie zuhause dafür an den Ohren gezogen werden, sagen, wir können nichts dafür. Wie lange können wir uns das eigentlich noch gefallen lassen?

    Engels: Versuchen wir es konkreter zu machen. Eine Entscheidung, die ja auch stark über die nationalen Regierungen lief, aber nicht alleine, ist der Fiskalpakt beispielsweise. 25 der 27 EU-Staaten haben es hier festgeschrieben, mehr Haushaltsdisziplin. Der französische Präsidentschaftskandidat Hollande, ein Parteifreund von Ihnen, verlangt, dass hier noch mal nachverhandelt wird. Sehen Sie das auch so?

    Schulz: Zunächst einmal: Der Fiskalpakt ist ausschließlich von Regierungschefs verhandelt worden. Da muss ich Ihnen widersprechen.

    Engels: Aber er wird doch mitgetragen jetzt auch mittlerweile vom Europäischen Parlament.

    Schulz: Das Europäische Parlament hat beim Fiskalpakt verlangt, ich insbesondere, dass wir am Tisch sitzen. Ich habe vielleicht, wenn Sie sich daran erinnern, gesagt, der Fiskalpakt ist nicht demokratisch legitimiert auf der europäischen Ebene. Deshalb verlangt das Europaparlament, am Tisch zu sitzen. Die Antwort – übrigens auch aus der Bundesrepublik – war, auf keinen Fall, da sitzt der Präsident des Europäischen Parlaments nicht mit am Tisch. Deshalb tut mir leid: Für das Zustandekommen des Fiskalpakts kann ich keine Mitverantwortung übernehmen. Und er ist zurzeit ein Pakt, der auf der Kippe steht, und zwar nicht nur, weil Francois Hollande sagt, wir müssen ihn ergänzen. Da, finde ich, hat er recht und das ist auch die Position der Mehrheit des Europäischen Parlaments. Aber zunächst mal muss der Fiskalpakt ratifiziert werden in einem Referendum in Irland. In Estland hat der Generalstaatsanwalt – der ist dort dafür zuständig – den Fiskalpakt an den Obersten Gerichtshof verwiesen zur Überprüfung, ob man ein Referendum braucht. In den Niederlanden wird der Fiskalpakt sicher nicht vor dem Ende des Jahres ratifiziert werden können, weil die haben jetzt nur noch eine amtierende Regierung, das Parlament wird aufgelöst werden. In Frankreich müssen wir davon ausgehen, dass der Fiskalpakt nicht vor Ende des Jahres ratifiziert werden wird. Also wir müssen mal feststellen: Diese angebliche Wunderwaffe Fiskalpakt, also die einseitige Haushaltsdisziplin als Wundermittel zur Rettung der Ökonomie in Europa, da müssen wir mindestens bis zum Ende des Jahres warten, bis das geschieht.

    Engels: Europaparlament oder Nationalregierung beim Fiskalpakt und anderen Entscheidungen. Da kann man sich streiten, wer jetzt mehr entscheiden soll. Aber geht das nicht auch am Kern des Problems vorbei, denn überzeugende Maßnahmen von wem auch immer müssen ja die Investoren und diejenigen, die Europa neues Geld leihen, überzeugen, denn sonst wird auf den Börsen und bei den Finanzmärkten noch ganz anders entschieden über die Stabilität des Euro-Raums.

    Schulz: Ja, da teile ich Ihre Auffassung absolut. Wir brauchen zielführende Maßnahmen. Uns ist ja gesagt worden, nur der Fiskalpakt, das heißt, die Haushaltsdisziplin, wird dazu führen, dass Vertrauen in die Staaten der Euro-Zone zurückgewonnen wird. Und da teile ich die Auffassung derjenigen, die das sagen, natürlich: eine seriöse Haushaltspolitik als Begrenzung der Verschuldung. Das ist nebenbei bemerkt auch eine Frage der Generationengerechtigkeit. Wir können nicht heute als Generation unseren Lebensstandard finanzieren zulasten unserer Kinder und Kindeskinder. Aber es ist ein einseitiges Vorgehen und es fehlt eine entscheidende Komponente. Keine Wirtschaft wird sich auf Dauer erholen, wenn immer nur die Haushalte gekürzt werden. Sie brauchen auch Investitionen in Wachstum und Beschäftigung. Und da gibt es ein bisschen eine ungleiche Wahrnehmung. Die Bundesrepublik Deutschland ist zurzeit ein prosperierendes Land. Andere Länder sind keine prosperierenden Länder, die haben kein Wirtschaftswachstum wie Deutschland. Und die entscheidende Frage ist: Wie können wir in diesen Ländern Wirtschaftswachstum herstellen. Und da ist unsere These im Europaparlament sicher nicht, indem wir immer nur einseitig die Haushalte kürzen, sondern indem in diesen Ländern auch investiert wird, zum Beispiel über den Haushalt der Europäischen Union, über die Kohäsionsfonds-Mittel, über die Regionalpolitik. Wir haben hier in Brüssel Milliarden ungenutzte Mittel liegen, die man freigeben könnte, um zum Beispiel Beschäftigungsprogramme auch für Länder zu starten, in denen mehr als 50 Prozent der jungen Menschen arbeitslos sind. Das sind Länder, in die die Bundesrepublik Deutschland – wir sind das stärkste Exportland der EU – gerne auch auf Dauer Güter exportieren würde. Wir müssen schauen, dass diese Länder ein Wirtschaftswachstum haben, denn das ist auch die Basis unserer Exportwirtschaft. Also die Einseitigkeit, die der Fiskalpakt bei ausschließlicher Kürzungsstrategie hat, das ist das Problem der Euro-Zone. Wir brauchen auch Investitionen in Wachstum und in Beschäftigung.

    Engels: Martin Schulz, Präsident des Europäischen Parlaments, er gehört der SPD an. Vielen Dank für das Gespräch.

    Schulz: Ich danke Ihnen, Frau Engels.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.


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