Dienstag, 19. März 2024

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EU-Politiker Lagodinsky (Grüne)
"Nawalny ist in ein Folterlager verlegt worden"

Der Grünen-Europaabgeordnete Sergey Lagodinsky kritisiert den Umgang der russischen Regierung mit dem Oppositionellen Alexej Nawalny scharf. Dessen Verhaftung sei von Anfang an völkerrechtswidrig gewesen, sagte er im Dlf. Von der EU forderte er eine Neubewertung der Geschäftsbeziehungen mit Russland.

Sergey Lagodinsky im Gespräch mit Stefan Heinlein | 21.04.2021
Demonstration für die Freilassung von Kremlkritiker Nawalny mit einem Banner "Free Nawalny"
Kremlkritiker haben schon im Januar gegen die Verhaftung Nawalnyjs protestiert und seine Freilassung gefordert (picture alliance/dpa | Fabian Sommer)
Der Begriff Gulag steht bis heute in Russland für ein Netz aus Straf- und Arbeitslagern. In den dunklen Sowjet-Zeiten von Diktator Stalin waren Millionen Menschen in den Lagern inhaftiert, lebten und arbeiteten unter grausamen Bedingungen. Als Alexej Nawalny Anfang des Jahres freiwillig in seine Heimat zurückkehrte, wusste er, dass ihm möglicherweise Lagerhaft drohte. Das Urteil gegen den Oppositionellen kam deshalb nicht unerwartet.
Alexej Nawalny steht in einem Gerichtssaal in einem Glaskasten und lächelt.
Urteil gegen Nawalny: "Unheimlich problematisch und unerträglich"
Das Urteil gegen Kreml-Gegner Alexej Nawalny stellt Deutschland vor das Problem, sich für eine Haltung zu Russland entscheiden zu müssen. "Wir eiern hin und her", kritisiert Martina Weyrauch von der Landeszentrale für politische Bildung in Brandenburg.
Seit über zwei Wochen nun ist Alexej Nawalny im Hungerstreik. Sein Gesundheitszustand gilt als bedrohlich. Seine Anhänger haben am Mittwoch (21.04.2021) zu neuen Protesten aufgerufen, doch Präsident Putin wird wohl bei seiner jährlichen Rede zur Lage der Nation kaum auf die Forderungen der Opposition eingehen.
Der Grünen-Europaabgeordnete Sergey Lagodinsky wirft der russischen Regierung vor, Nawalny - egal mit welchen Mitteln - ausschalten zu wollen. "Denen würde auch passen, wenn er mit so einem Grad der Behinderung versehen wird, dass er keine aktive Gefahr mehr ist", so der Grünen-Politiker im Dlf. Die Verhaftung sei von Anfang an wegen der Lebensgefahr als rechtswidrig eingestuft worden. "Die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und völkerrechtliche Normen werden mit Füßen getreten", sagte Lagodinsky und forderte Hilfe von der EU: "Eine Neuaufnahme der strategischen Verträge und Geschäftsbeziehungen mit der russischen Föderation muss auf die Tagesordnung. Zum Beispiel Nord Stream 2".
Oliver Krischer, stellvertretender Vorsitzender der Bundestagsfraktion der Grünen, auf dem Bundesparteitag im November 2018. Dabei wurden die KandidatInnen für die Europawahl im Mai 2019 gewählt.
"Nibelungentreue zu Nord Stream 2 aufgeben"
In der Diskussion über die umstrittene Ostsee-Gaspipeline Nord Stream 2 hat Oliver Krischer (Grüne) im Dlf erneut die Einstellung des Projekts gefordert. Ein Festhalten an fossilen Energien widerspreche den Klimazielen der Bundesregierung.

Das Interview in voller Länge:
Stefan Heinlein: Sie kennen Alexej Nawalny persönlich seit vielen Jahren. Sie haben Kontakt zu seinen Unterstützern. Was hören Sie über seinen Gesundheitszustand? Wie geht es Alexej Nawalny?
Sergey Lagodinsky: Es geht ihm immer schlechter und die Verlegung in das sogenannte Krankenhaus ist der größte Witz, der jetzt gerade sich erlaubt wurde seitens der russischen Regierung. Wir müssen das auch klar aussprechen. Das ist ein Folterlager, wo er hin verlegt worden ist, und das ist ein Krankenhaus, was – die russischen Behörden haben es selbst gesagt – für die Behandlung solcher Art von Patienten verwendet wird.

"Es gibt Berichte, dass dort immer wieder gefoltert wird"

Heinlein: Liegt der deutsche Außenminister Heiko Maas falsch, wenn er sagt, die Nachricht von der Verlegung Nawalnys sei eine gute Nachricht?
Lagodinsky: Ja! - Schlecht informiert!
Ein Demonstrant hält am 27.02.2021 in Nürnberg ein Foto des inhaftierten Kremlkritikers Alexei Nawalny in der Hand
Amnesty International kritisiert Haftbedingungen
Der Gesundheitszustand des inhaftierten Kremlkritikers Alexei Nawalny hat sich nach Angaben seiner Anwältin weiter verschlechtert. Sein Schicksal ist vor allem im Westen ein Groß-Thema – aber bisher nicht dort, wo es am wichtigsten wäre: bei den Menschen in Russland, kommentiert Frederik Rother.
Heinlein: Sie haben bessere Informationen?
Lagodinsky: Wir haben Informationen von allen, die mit diesem Lager und mit diesem Krankenhaus zu tun hatten in der Vergangenheit. Alexej hat selber geschrieben – es gab eine Nachricht, die er herausschmuggeln ließ, gerade vor ein paar Stunden, wo geschrieben wurde, wie er umgezogen wurde. Er wurde auch durchsucht. Er wurde trotz seinem Zustand ausgezogen oder wie auch immer durchsucht. Das war einfach eine Verlegung aus einem Lager in ein anderes Lager. Er liegt da jetzt mit blauen Flecken, weil die nicht mal fähig waren, ihm die lebensnotwendige Infusion zu verabreichen, ohne ihn zu verletzen. Es gibt Berichte, dass dort immer wieder gefoltert wird.

"Urteile des Europäischen Menschenrechtsgerichts mit Füßen getreten"

Heinlein: Ein Grund für den schlechten Gesundheitszustand von Nawalny ist ja sein Hungerstreik seit mehr als zwei Wochen; drei Wochen sind es fast schon. Warum verweigert er die Nahrungsaufnahme?
Lagodinsky: Er will das, was eine Selbstverständlichkeit ist. Er ist jemand, der einen Giftanschlag gerade noch überlebt hat, und zwar mit Einsatz hochmoderner Medizin hier in der Charité in Berlin. Jetzt kann er nicht mal einen Arzt, einen zivilen normalen Arzt bekommen, der seinen sehr schwierigen Gesundheitszustand untersuchen darf. Abgesehen davon: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat ganz klar gesagt, dieses Urteil und diese Verhaftung und dieser Lageraufenthalt sind von Anfang an rechtswidrig wegen der Lebensgefahr. Wir wussten alle von Anfang an, dass dieser Zustand und dieses Risiko droht, und trotzdem hat die russische Regierung das gemacht und haben die russischen Behörden das gemacht, was sie entgegen der völkerrechtlichen Verpflichtungen jetzt gemacht haben.
Heinlein: Nun sagen vielleicht Angehörige anderer Strafgefangener, anderer Häftlinge in russischen Straflagern, Alexej Nawalny hat kein Anrecht auf die Behandlung durch Privatärzte, wir haben das auch nicht.
Lagodinsky: Die haben das auch nicht, selbstverständlich. Aber sie wurden auch nicht wie Alexej Nawalny jahrelang verfolgt und wo mehrmals ein Versuch stattgefunden hat, ihn zu ermorden, so wie es im Fall von Alexej Nawalny war, nur weil er die größte Gefahr für die russische Regierung ist. Wir haben hier eine Situation, wo die Urteile des Europäischen Menschenrechtsgerichts mit Füßen getreten werden und viele anderen völkerrechtlichen Normen auch. Selbstverständlich müssen wir über die katastrophalen Zustände im russischen Gefängnissystem reden. Wir sollen nicht die Augen schließen auf die Situation insgesamt. Das ist klar.
Aber hier haben wir eine Situation mit dem führenden Oppositionellen in Russland, mit jemandem, den wir hier in Deutschland zusammengeflickt haben, aus dem Reich der Toten zurückgeholt haben, und der gezielt und systematisch seit Jahren an den Rand der Existenz buchstäblich vom russischen Staat gebracht wird. Das ist völkerrechtswidrig! Es geht nicht mal um die Einmischung in die inneren Angelegenheiten. Das ist ein Verstoß gegen zahlreiche völkerrechtlichen Verpflichtungen der Russischen Föderation.

"Sie wollen ihn ausschalten, egal mit welchen Mitteln"

Heinlein: Was plant der Kreml aus Ihrer Sicht? Will man, will Putin Nawalny zum Schweigen bringen? Will er, dass er stirbt? Das ist die Einschätzung Ihrer Parteichefin Annalena Baerbock. Oder will er verhindern, dass Nawalny zum Märtyrer der Opposition wird?
Lagodinsky: Sie wollen ihn ausschalten, egal mit welchen Mitteln. Denen würde auch passen, wenn er mit einem solchen Grad der Behinderung versehen wird, dass er keine aktive Gefahr mehr ist. Und es ist ja nicht nur Nawalny, der jetzt auf der Abschusslinie buchstäblich ist, sondern auch das Netzwerk der oppositionellen Einheiten und die Stiftung, die er aufgebaut hat. Sie wird jetzt diese Tage zu einer extremistischen Organisation. Eine Anti-Korruptionsstiftung wird zu einer extremistischen Organisation erklärt, um damit alle, die mit dieser Stiftung auch nur etwas zu tun haben, vielleicht da mal angestellt wurden, einen Aushilfsvertrag hatten, denen droht ab sechs Jahre Haft. Hier wird die letzte fähige Oppositionskraft – den Begriff muss man sagen – ausgemerzt.

"Sie haben Menschen eingeschüchtert auf der ganzen Linie"

Heinlein: Dennoch: Die Opposition versucht ja heute, die Menschen auf die Straße zu bringen. Man hat landesweite Proteste angekündigt. Herr Lagodinsky, was erwarten Sie? Wie breit ist die Unterstützung für die Opposition in Russland? Wie viele Menschen werden sich trauen, heute auf die Straße zu gehen? Denn die Regierung, der Kreml hat ja angekündigt, äußert hart vorzugehen.
Lagodinsky: Ich glaube, das sind zwei Fragen. Wie breit die Unterstützung ist? – Die Unterstützung ist breit, ist viel breiter, als es mal war. Das haben wir ja schon gesehen bei den Demonstrationen im Januar. Aber wir haben auch gesehen, dass die russische Regierung sich entschieden hat. Sie haben sich entschieden für eine totalitäre Entwicklung, für ein totalitäres Szenario. Sie haben Menschen eingeschüchtert auf der ganzen Linie. Deswegen: Wenn ich ehrlich bin, ich hoffe sehr, dass viele Menschen sich zeigen. Aber ich habe auch volles Verständnis, dass sehr viele es sich nicht trauen werden. Desto wichtiger ist es, dass wir weltweit unsere Unterstützung artikulieren.
Eine große Menge an Demonstraten auf den Straßen Moskaus.
Demonstrantin in Russland: Solidarität mit Nawalny trotz Kritik an seinen Positionen
Der große Zulauf der Proteste in Russland habe sie überrascht, sagte die Demonstrantin Evgeniya im Dlf. Sie selbst sei kein Nawalny-Fan, es sei ihr aber um ein Zeichen der Solidarität gegen die Ungerechtigkeit gegangen, die dem Kreml-Kritiker widerfahren sei.

"Es muss zu einem klaren Signal kommen"

Heinlein: Die USA haben jetzt harte Konsequenzen angekündigt, sollte Nawalny sterben. Joe Biden hat sich da geäußert. Vermissen Sie ähnlich deutliche Ansagen von Seiten des Europäischen Parlaments, von Seiten der Europäischen Union und auch der deutschen Bundesregierung?
Lagodinsky: Das Europäische Parlament ist da eigentlich ziemlich klar. Wir sind am aktivsten und am klarsten bei der Unterstützung der Opposition in Russland oder überhaupt der Demokratie in Russland. Der Rat, die 27 Mitglieder, die haben sich ja relativ schnell am Wochenende geeinigt auf eine klare, für ihre Verhältnisse ziemlich scharfe Stellungnahme. Aber solche Äußerungen wie von Heiko Maas sind etwas enttäuschend, weil sie zeugen davon, dass hier doch zögerlich reagiert wird. Es muss ja nicht zu einem Bruch der Beziehungen kommen, aber es muss zu einem klaren Signal kommen. Vergessen wir nicht: Deutschland spielt bis Ende Mai eine führende Rolle im Europarat, im Ministerialrat, wo es auch zu Gegenreaktionen auf die Nichteinhaltung dieses Urteils, was ich ja schon erwähnt habe, kommen müsste. Da kann Deutschland eine führende klare Rolle spielen. Bisher vermissen wir das.
Heinlein: Kurzer Satz noch. Sanktionen – wäre das das richtige Mittel, um Putin zum Einlenken zu bewegen?
Lagodinsky: Sanktionen, wie wir sie bisher gesehen haben, wo noch zwei Namen auf die Liste kommen, sind aus meiner Sicht nicht mehr das richtige Mittel. Wenn Sanktionen, dann klare, wie die USA das gemacht haben, zum Beispiel in Richtung Verbot vom Handel der staatlichen Leihpapiere seitens Russlands. Soweit sind wir noch nicht. Aber eine neue Bestandsaufnahme der strategischen Beziehungen, strategischen Verträge und Geschäftsbeziehungen mit der Russischen Föderation, das muss auf die Tagesordnung, zum Beispiel Nord Stream 2, aber auch viele andere Geschäfte, um zu zeigen, wir werden nicht mit einem Regime handeln, das in die eigene Tasche mit uns Geschäfte macht, und was Menschenrechte mit Russland betrifft.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.