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EU-Rechtsstaatsmechanismus
Die zerbrechliche Werteunion namens EU

Jahrelang haben Ungarn und Polen beim Thema Rechtsstaatlichkeit taktiert. Durch den Rechtsstaatsmechanismus soll ein Verstoß gegen bestimmte Werte der EU finanziell geahndet werden. Doch nun nutzen die beiden Länder das Corona-Hilfspaket der EU als Druckmittel. Wie konnte es so weit kommen?

Von Peter Kapern | 19.11.2020
Mateusz Morawiecki (r), Premierminister von Polen, trägt einen Mundschutz und begrüßt Viktor Orban, Premierminister von Ungarn, ebenfalls mit Mundschutz.
Polen und Ungarn gaben sich bei der Demontage des Rechtsstaats einfach gegenseitig Rückendeckung (AP/Czarek Sokolowski)
Eigentlich sollten der EU-Haushalt und das milliardenschwere Corona-Hilfspaket schon unter Dach und Fach sein. Doch Polen und Ungarn haben das Verfahren aus Protest blockiert. Betroffen ist neben den geplanten Corona-Wiederaufbauhilfen im Umfang von bis zu 750 Milliarden Euro auch der langfristige EU-Haushalt. Die beiden Länder lehnen die geplante Einführung des sogenannten Rechtsstaatsmechanismus ab. Kritiker sehen darin eine Abkehr von den in den Verträgen fixierten und von allen Mitgliedsländern akzeptierten Grundwerten der EU und fordern eine harte Haltung der EU. Auch innerhalb der Länder wird die Haltung nicht nur befürwortet.
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Der lange Weg zur Werteunion

Als die europäischen Verträge unterzeichnet wurden, war keine Rede davon, dass der Staatenbund eine Werteunion sein sollte. Ganz offen wurde beispielsweise erörtert, das vom Faschisten Franco regierte Spanien aufzunehmen – aus wirtschaftlichen Gründen. Erst langsam, vor allem gestützt auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshof, entwickelte sich die Union zu einem Bündnis, das sich auf jene gemeinsamen Werte beruft, die heute in Artikel 2 des EU-Vertrags aufgelistet sind. Demokratie, Meinungsfreiheit, Minderheitenschutz und eben auch die Rechtsstaatlichkeit, die vor allem durch eine von der Politik unabhängige Justiz definiert ist. Als 2004 die große Erweiterung nach Osten und Süden kam, mussten alle Neumitglieder diesen Wertekanon akzeptieren und in ihr nationales Recht einbauen.
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Dauerstörer: Ungarn und Polen

Eines aber hatte Niemand in der EU nicht auf dem Radar: Nämlich, dass ein Mitgliedstaat Demokratie und Rechtsstaatlichkeit nach seinem Beitritt wieder demontieren könnte. Ungarn begann damit 2010, als Victor Orban zum zweiten Mal Ministerpräsident wurde. Polen etwas später, als die PiS-Regierung an die Macht kam. Es folgten Angriffe auf die Unabhängigkeit der Justiz, auf die Unabhängigkeit der Medien, auf die Unabhängigkeit der Wissenschaft, auf die Arbeit von NGOs. Die Kommission zog immer wieder vor den EuGH, bekam Recht, meistens ruderten die Verurteilen zurück, manchmal ignorierten sie die Urteile aus Luxemburg einfach.
Daran änderten auch die Artikel-7-Verfahren nichts, die 2017 und 2018 gegen die beiden Länder gestartet wurden. Sie können theoretisch zum Entzug des Stimmrechts führen, was einem politischen Rauswurf gleichkäme. Aber eben nur theoretisch. Einstimmigkeit ist dafür nämlich notwendig. Und Polen und Ungarn gaben sich bei der Demontage des Rechtsstaats einfach gegenseitig Rückendeckung.

Letzter Ausweg Rechtsstaatsmechanismus

Als 2018 dann Haushaltskommissar Günther Oettinger den ersten Entwurf für den jetzt blockierten Sieben-Jahres-Haushalt vorlegte, da präsentierte die Kommission gleichzeitig die Idee für einen Rechtsstaatsmechanismus: Geld aus dem Brüsseler Haushalt soll nur noch fließen, so Günther Oettinger damals, wenn das Empfängerland über einen funktionierenden Rechtsstaat verfügt: "Wenn Korruption im Spiel war, Betrug und Untreue im Spiel sein soll, wenn also Mittel des europäischen Haushalts zurückzufordern wären, müssen wir auf die Unbestechlichkeit und Unabhängigkeit der dritten Gewalt bauen können."
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Das klang gut, reichte aber vielen EU-Politikern nicht aus. Sie suchten nach einem Mittel, mit dem sich auch wirksam verhindern lässt, dass die Regierung eines Mitgliedstaates die Medien gängelt, Minderheitenrechte aushöhlt oder versucht, Theater und Universitäten an die politische Leine zu legen. Eine Idee, die Günther Oettinger zurückwies, weil er fürchtete, dass der EU ein soweit gefasster Rechtsstaatsmechanismus vor dem EuGH um die Ohren fliegen könnte: "Es gab Stimmen, die sagen, alle europäischen Werte sollten eine Grundvoraussetzung für Mittelbewilligung sein. Wir beschränken uns auf Rechtsstaatlichkeit, weil alles andere vertragsrechtlich vermutlich die europäischen Regeln übersteigen würde."

Wie geht es jetzt weiter mit dem Rechtsstaatsmechanismus?

Endgültig beigelegt wurde der Streit um die Spannweite des Rechtsstaatsmechanismus erst vor wenigen Wochen bei den Verhandlungen zwischen Rat, Kommission und Parlament. Vor allem die Europaabgeordneten verlangten eine weite Auslegung, mussten am Ende aber klein beigeben. Vereinbart wurde schließlich, dass Ländern die Mittel aus Brüssel gekürzt oder gestrichen werden können, wenn sie gegen die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit verstoßen und dadurch eine Gefahr für das Budget der EU entsteht.
Ungarn und Polen lehnen den vereinbarten Rechtsstaats-Kompromiss ab. Und das Europaparlament ist nicht bereit, den Kompromiss noch einmal aufzuschnüren. Katharina Barley: "Der Mechanismus ist schon schwächer als wir es gerne gehabt hätten. Für mich der wichtigste Knackpunkt ist, diese Rechtsstaatsverstöße nur geahndet werden können, wenn sie eine Auswirkung auf das EU-Budget haben. Das finde ich schon eine deutliche Aufweichung. Zum Beispiel bei Freiheit der Medien oder unabhängiger Kultur wird das schwierig sein. Aber diesen jetzt aufgeweichten Mechanismus, von Rat aufgeweichte Mechanismus, der muss mindestens so stehen. Fürs Europäische Parlament ist das sehr wichtig."
Zur Lösung des Konflikts mit Ungarn und Polen will das Europaparlament also keine weiteren Abstriche am Rechtsstaatsmechanismus mehr akzeptieren. So, wie auch eine ganze Reihe von Mitgliedstaaten, angeführt von Holland. Keine leichte Aufgabe also, die jetzt vor allem Angela Merkel zu lösen hat.
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