Donnerstag, 28. März 2024

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EU-Russland-Sanktionen
"Man merkt, dass man sich selbst ins Knie geschossen hat"

Die europäische und die russische Wirtschaft sehnten einen Strategiewechsel bei den gegenseitigen Sanktionen herbei, sagte der Publizist Richard Kiessler im DLF. Es sei kein Zufall, dass Präsident Putin auf dem Wirtschaftsforum in Sankt Petersburg die EU als Schlüsselpartner bezeichnet habe. Und EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker sei demonstrativ nach Petersburg gefahren.

Richard Kiessler im Gespräch mit Jürgen Zurheide | 18.06.2016
    Blick auf ein Schaufenster des russischen Premium-Lebensmittelhändlers "Asbuka Wkussa" in Moskau.
    Die Sanktionen gegen Russland zeigen sich auf im täglichen Leben. (dpa/ picture alliance / Thomas Körbel)
    Russland befinde sich in einer Rezession und seit den 2014 durch die EU verhängten Sanktionen sei von einem dreistelligen Milliardenverlust für die russische Wirtschaft die Rede, erläuterte Kiessler. Das bedeute Einbußen beim Realeinkommen, Korruption sowie steigende Armut. Allerdings leide die russische Wirtschaft stärker unter dem Verfall der Öl- und Gaspreise als unter den Sanktionen. Aber auch die deutsche Wirtschaft musste beim Russlandgeschäft laut Kiessler Verluste von mehr als 40 Prozent einstecken.
    "Putin sucht einen Weg, vernünftiger miteinander umzugehen"
    "Man merkt jetzt, dass man mit diesen Sanktionen nicht recht weitergekommen ist, sondern sich selbst ins Knie geschossen hat", sagte der Publizist im DLF. Die Worte von Russlands Präsident Wladimir Putin auf dem Wirtschaftsforum in Sankt Petersburg deuteten darauf hin, dass es Russland nicht nur um eine Bestandsaufnahme gehe, sondern darum, dass man das Erreichte bewahren wolle. "Mein Eindruck ist, dass Putin bei allen Schwierigkeiten mit dem Westen doch einen Weg sucht, dass man wieder vernünftiger miteinander umgeht", so Kiessler.
    Und auch EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker sei demonstrativ nach Petersburg gefahren, um auf eine Normalisierung der Wirtschaftsbeziehungen hinzuarbeiten. Aber die EU sei im Hinblick auf eine Verlängerung der Sanktionen gegen Russland gespalten: Während die besonders betroffenen Südeuropäer auf eine Aufhebung drängten, seien die Osteuropäer für eine Beibehaltung der Strafen. Um eine Einigung zu erzielen, müsse Russland jedoch auch von seiner Haltung Abstand nehmen, "immer den Westen für irgendwelche Verschwörungen verantwortlich zu machen", sagte Kiessler.

    Das Interview in voller Länge:
    Jürgen Zurheide: Jetzt wollen wir über Wirtschaft und Politik reden und das im Zusammenhang mit Russland. Da hat es das Treffen in Sankt Petersburg gegeben, wo die russische Staatsspitze mit Putin an der Spitze geredet hat mit Unternehmern aus dem Westen. Und wir fragen: Wie ist denn die wirtschaftliche Lage zum Beispiel in Russland, und braucht Putin den Westen wieder mehr als der Westen möglicherweise Putin braucht? Über all das wollen wir sprechen mit Richard Kiessler, dem Publizisten und außenpolitischen Experten, den ich jetzt am Telefon begrüße, guten Morgen, Herr Kiessler!
    Richard Kiessler: Guten Morgen, Herr Zurheide!
    "Immer weniger Russen können sich etwas leisten"
    Zurheide: Herr Kiessler, zunächst einmal die wirtschaftliche Lage in Russland, wie ist die im Moment einzuschätzen? Man hört ja: Außerordentlich schwierig, die Menschen beginnen zu leiden. Ist das eine zutreffende Beschreibung?
    Kiessler: Das ist eine zutreffende Beschreibung und es ist kein Zufall, dass die gegenwärtigen Weißen Nächte in Sankt Petersburg ein besonders angenehmes Ambiente boten, das Putin genutzt hat, um zu werben für eine verbesserte wirtschaftliche Zusammenarbeit. Denn Russland befindet sich in einer Rezession und seit den Sanktionen aus dem Jahre 2014 wird von einem dreistelligen Milliardenverlust für die russische Wirtschaft gesprochen. Wir haben es mit Einbußen beim Realeinkommen zu tun, wir haben es mit Korruption zu tun, wir haben es mit steigender Armut zu tun, immer weniger Russen können sich etwas leisten.
    Und symptomatisch dafür war kürzlich in diesen Tagen ein Auftritt von Ministerpräsident Medwedew auf der Krim, dort hat er zu einer Rentnerin gesagt, die sagte, warum erhöht ihr die Renten nicht, da hat er schlicht gesagt: Wir haben kein Geld, haltet durch. Und das ist natürlich ein Offenbarungseid für die russische Wirtschaft, die übrigens stärker von dem Verfall der Öl- und Gaspreise betroffen ist als von den Sanktionen. Aber immerhin, im Verhältnis zur EU ist der Handel um 120 Milliarden Euro in den letzten zwei Jahren zurückgegangen und allein die deutsche Wirtschaft hat Verluste von über 40 Prozent einstecken müssen. Das bedeutet, dieses Wirtschaftsforum jetzt, das ein Pendant ist zum Weltwirtschaftsforum in Davos, also eine Art Alternativveranstaltung. Der Vorsitzende des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft, Wolfgang Büchele, der spricht von einem Strategiewechsel gegenüber Russland. Dieser wird von der Wirtschaft nicht nur in Deutschland, sondern in weiten Teilen Europas und auch Russlands herbeigesehnt.
    Zurheide: Da kommt die Frage: Was hat dann so ein Wirtschaftsforum gebracht, oder hat es entsprechend etwas gebracht? Die Wirtschaft, Sie haben es gerade gesagt, will es, die Russen auch natürlich aus eigenen Interessen. Wiederum ganz laut sagen die Wirtschaftsführer das nicht. Ich sage auch offen: Wir haben versucht, mit dem einen oder anderen hier in dieser Sendung zu reden, da hält man sich dann immer vornehm zurück. Wie ordnen Sie das ein?
    "Kein Zufall, dass Jean-Claude Juncker gekommen ist"
    Kiessler: Ja, die Wirtschaft möchte natürlich schon, weil sie sagt, die Sanktionen können eigentlich kein Selbstzweck sein, sondern immer nur ein Mittel. Und man merkt jetzt, dass man doch mit diesen Sanktionen eigentlich nicht recht weitergekommen ist, sondern sich selbst ins Knie geschossen habe, wenn ich allein an den Einbruch bei den deutschen Agrarexporten denke. Die sind inzwischen substituiert worden, ersetzt worden durch vielerlei russische Produkte und das ist ein Markt, der wahrscheinlich längerfristig verloren ist. Das heißt also, die Worte, die Putin auch jetzt in Sankt Petersburg gefunden hat, die deuten darauf hin, dass man nicht nur eine Bestandsaufnahme machen will, sondern dass man das Erreichte auf jeden Fall bewahren will. Und es ist kein Zufall, dass Putin von dem Schlüsselpartner Europäische Union gesprochen hat und dass demonstrativ Jean-Claude Juncker nach Petersburg gefahren ist, um sozusagen in Richtung, sage ich mal vorsichtig, einer Normalisierung der Wirtschaftsbeziehungen hinzuarbeiten.
    Zurheide: Funktioniert das alte Spiel, Wandel durch Handel, eigentlich nicht mehr? Die Frage steht ja im Raum, denn zu allen Zeiten hat es Konflikte mit Russland gegeben und auch die Ostpolitik – wir alle erinnern uns – war hoch umstritten. Damals hat es allerdings Wirtschaftsführer gegeben, die dann bewusst gesagt haben, ja, gerade weil die Lage schwierig ist, müssen wir das machen. Ich habe den Eindruck, die Wirtschaft committet sich da heute nicht mehr gerne so laut, wie das vielleicht mal war. Oder ist meine Beobachtung falsch?
    Kiessler: Nein, ich glaube, die Wirtschaft committet sich schon, zumal es ja interessante Großinvestitionsprojekte in Russland gibt. Ich denke etwa an den Plan Nord Stream 2, also die Pipeline durch die Ostsee zu bauen und eine Eisenbahnverbindung von Moskau nach Kazan in Tatarstan zu errichten. Das sind natürlich Projekte, die hoch interessant sind für ausländische Investoren. Und wenn man recht sieht, was diese Sanktionen der EU und der USA bewirkt haben, so bezieht es sich natürlich in erster Linie auf die Reisemöglichkeiten und die Kontosperrungen von prominenten Russen und in zweiter Linie eigentlich erst auf das reale wirtschaftliche Geschehen, hier ist ja einiges weitergelaufen. Aber natürlich, durch die atmosphärischen Störungen und durch die Art der Kompensation, wie Putin Großmachtpolitik betreiben wollte, sind natürlich auch die Investitionen, wie schon geschildert, zurückgegangen.
    Zurück auf den Pfad der Vernunft
    Zurheide: Jetzt wird natürlich Olympia – wir haben es in dem Beitrag vorher von Hermann Krause gehört – auch ein Stück weit instrumentalisiert im Sinne von: Das ist die westliche Verschwörung gegen uns. Wie lange glaubt die eigene Bevölkerung das Putin noch? Denn soweit ich das jedenfalls beurteilen kann, sind die Fakten doch einigermaßen klar, oder?
    Kiessler: Ja, es ist so, dass nach seriösen Umfragen in Russland dennoch 80 Prozent der Bevölkerung hinter Putin stehen. Das ist schwer einzuschätzen, wie lange solche Unterstützung dauert. Bisher hat er das wie gesagt kompensiert durch dieses Großmachtgehabe, aber der von ihm beauftragte frühere Finanzminister Alexej Kudrin, der ein Wirtschaftsprogramm ausarbeiten soll, der hat interessanterweise als ersten Rat Putin gesagt, man möge doch unbedingt die geopolitischen Spannungen mit dem Westen abbauen. Das ist ein sehr interessanter Hinweis, man muss gucken, ob die Kremlspitze wirksam darauf reagiert. Aber mein Eindruck ist, dass Putin bei allen Schwierigkeiten mit dem Westen doch einen Weg sucht, dass man wieder vernünftiger miteinander umgeht.
    Zurheide: Die Frage ist, ob das der Westen dann akzeptiert, solange der Status quo bei der Krim bleibt. Oder sagen Sie, na ja, das hat der Westen eigentlich längst akzeptiert?
    Kiessler: Nein, das hat er noch nicht akzeptiert. Denn es wird nächste Woche sicherlich eine Verlängerung von Sanktionen geben. Natürlich ist die EU auch hier gespalten, insbesondere die Südeuropäer drängen eigentlich auf eine Aufhebung der Sanktionen, weil sie schwer betroffen sind. Und die Osteuropäer, die auch militärisch gerne mit dem Säbel rasseln in diesen Tagen – und das wird sich beim NATO-Gipfel am 1. Juli noch zeigen –, die sind für eine Beibehaltung. Also, es wird nach wie vor zum Beispiel so sein, dass Fahrgastschiffe die Krim nicht anlaufen dürfen. Gut, damit kann man wahrscheinlich leben. Aber Russland muss natürlich auch von seiner Haltung Abstand nehmen, immer den Westen für irgendwelche Verschwörungen wie auch jetzt bei der Leichtathletik verantwortlich zu machen. Ich meine, das merken dann auch die Menschen, dass dieses Argument wohl nicht zieht.
    Zurheide: Richard Kiessler war das, Publizist aus Essen, Herr Kiessler, ich bedanke mich für dieses Gespräch um 6:57 Uhr, danke schön!
    Kiessler: Bitte schön!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.