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EU-Sozialgipfel in Göteborg
Politikverdruss und soziale Frage auf der Agenda

Muss Europa sozialer werden? Darüber gehen die Meinungen auseinander. Ein EU-Sozialgipfel soll nun das Kompendium "Europäische Säule sozialer Rechte" erstellen. Was dieses den Bürgern bringen soll, ist noch unklar. Denn die EU kann zwar Rechte proklamieren, aber nicht durchsetzen.

Von Peter Kapern | 17.11.2017
    Nahaufnahme der Hand einer alten Frau, die ein paar Münzen zählt.
    Auf dem EU-Sozialgipfel in Göteburg soll es um die soziale Rechte der EU-Bürger gehen (imago stock&people)
    Hat Europa ein soziales Defizit? Es kommt drauf an, wen man fragt.
    "Diese Frage kann man mit einem klaren Nein beantworten", sagt zum Beispiel Markus Beyrer, der Generaldirektor des europäischen Unternehmerverbands Business Europe. Und wenn man ihn nach Beweisen für seine Auffassung fragt, spult der Arbeitgeber-Lobbyist Zahlen herunter, die zeigen, dass in Europa der Anteil der Sozialausgaben am Bruttoinlandsprodukt 50 Prozent höher liegt als in Japan oder Kanada, beim bezahlten Urlaub liegt Europa sogar um mehr als 100 Prozent vor diesen beiden Industrieländern.
    "Wir sind Weltmeister, was den sozialen Schutz betrifft, und jetzt geht es darum, das auch für die Zukunft abzusichern."
    Wenn man dann aber Harald Wiedenhofer fragt, ob die EU ein soziales Defizit hat, fällt die Antwort ganz anders aus:
    "Mit Sicherheit! Mit Sicherheit!"
    Lohndumping, prekäre Beschäftigungsverhältnisse, Kinderarmut
    Wiedenhofer vertritt in Brüssel die Interessen der 2,6 Millionen Arbeitnehmer, die in den europäischen Gewerkschaften der Agrarwirtschaft, der Lebensmittelindustrie und des Gaststättengewerbes organisiert sind. Und auch er hat Argumente zur Hand: Sozial- und Lohndumping, prekäre Beschäftigungsverhältnisse, Kinderarmut.
    "Ich denke, dieses soziale Defizit ist auch im Wesentlichen der Grund dafür, dass viele Arbeitnehmer das Vertrauen in das europäische Projekt verloren haben. Sie erleben die europäische Union vor allem als Bedrohung und nicht als Bereicherung. Das ist eine der großen Herausforderungen, vor denen wir stehen, dass wir ein soziales Europa schaffen müssen, in dem der Mensch dann auch im Mittelpunkt steht."
    EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker liegt in dieser Frage näher beim Gewerkschafter Wiedenhofer als beim Arbeitgebervertreter Beyrer. Auch Juncker hat immer wieder den Zusammenhang von EU-Verdruss und sozialer Sicherheit betont. Der EU-Sozialgipfel ist seine Idee. Dort wird ein Katalog sozialer Rechte proklamiert werden. Eine lange Liste all jener sozialen Errungenschaften, die Armut verhindern, soziale Teilhabe ermöglichen, Beschäftigung garantieren, Gleichberechtigung herstellen und Chancen eröffnen sollen. Kurzum: Es geht um ein Kompendium aller sozialen Errungenschaften, die jemals in Europa erdacht worden sind. Getauft auf den absurden Namen "Europäische Säule sozialer Rechte". Fragt sich nur, was Arbeitnehmer in Europa mit dieser Säule anfangen können.
    EU kann diese Rechte zwar proklamieren, aber nicht durchsetzen
    Nicht so schrecklich viel, wenn man Markus Beyrer folgt. Der Industrie-Vertreter verweist darauf,
    "dass das keine unmittelbar ableitbaren Rechte sind. Das heißt: Da steht auch drinnen – und das ist uns wichtig, dass die Umsetzung dieser Rechte bei den Mitgliedstaaten liegt, und dass sie bei den Sozialpartnern liegt, auf deren Autonomie Rücksicht zu nehmen ist."
    Soll heißen: Die EU kann all diese Rechte zwar proklamieren, aber nicht durchsetzen, weil sie dafür nur in kleinen Teilbereichen zuständig ist. Die Kompetenzen liegen im Wesentlichen bei den Mitgliedsaaten, und einige von ihnen wollen kein höheres Schutzniveau für ihre Arbeitnehmer. Weil die Produktivität ihrer Wirtschaft hinter West- und Nordeuropa hinterherhinkt und höhere Sozialausgaben nicht verkraftbar wären. Und auch, weil geringere Sozialstandards durchaus Wettbewerbsvorteile bieten. Deshalb will sich Harald Wiedenhofer, so wie alle Gewerkschafter in Europa, nicht mit der Proklamation der sozialen Rechte zufrieden geben.
    "Wir brauchen einen Aktionsplan, und ich denke, das muss auch mit auf europäischer Ebene beschlossen werden, weil wir befürchten, dass sonst auf nationaler Ebene viel zu wenig passiert."
    Die EU- Mitgliedsaaten sollen also gemeinsam beschließen, die in der Resolution von Göteborg aufgelisteten Rechte auch tatsächlich umzusetzen. Und die EU-Kommission soll nach Vorstellung der Gewerkschaften darüber wachen, dass dies auch wirklich geschieht. Aber das dürfte reine Zukunftsmusik sein.