EU-Streit mit AstraZenecaImpfchaos in Vollendung
Im Streit der EU mit Impfstoffhersteller AstraZeneca ist jetzt totale Transparenz notwendig, kommentiert Peter Kapern. Der Vertrag mit der Pharmafirma muss offengelegt werden, um das Impfstoffchaos zu beenden - und einen Kontrollverlust in Europa zu verhindern.
Hören Sie unsere Beiträge in der Dlf Audiothek- EU-Kommissarin Stella Kyriakides appellierte an die moralische Verantwortung der Firma AstraZeneca (picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Olivier Hoslet)
Stufenplan für Lockerungen Günther (CDU): Perspektive für Zeit nach Ostern aufzeigen
Liese (CDU) zu AstraZeneca "Was die Firma macht, ist schlecht, aber der Impfstoff ist deswegen nicht schlecht"
Streit mit AstraZeneca Es ist verständlich, dass die EU verlässliche Zusagen haben will
In Belgien steigt die Zahl der Neuinfektionen trotz Lockdown wieder. In den Niederlanden randaliert nachts ein brandschatzender Mob. Portugal bittet die Bundeswehr um Hilfe beim Aufbau von Feldlazaretten. Und die sächsischen Krematorien kommen mit dem Verbrennen der Coronatoten nicht mehr hinterher. Europa im Corona-Januar 2021.
Es ist nur noch ein kleiner Schritt bis zum kompletten Kontrollverlust. Kein Wunder also, dass mit verbissener Härte um jede Impfstoffampulle gekämpft wird. Das Ergebnis ist Impfchaos in Vollendung. Und diesmal ist der Begriff tatsächlich angebracht.
(imago images / Luis Lima Jr)EU-Verträge mit Impfstoffherstellern - Grünen-Europaabgeordnete fordert mehr Transparenz
Die Grünen-EU-Abgeordnete Jutta Paulus fordert Einsicht in die Verträge der EU mit Corona-Impfstoffherstellern. Der Fall AstraZeneca zeige, dass mehr Transparenz gegenüber dem Europaparlament dringend erforderlich sei, sagte sie im Dlf.
Auf den Impfstoff von AstraZeneca hatte die EU die größten Hoffnungen gesetzt. Ein Weltkonzern mit gigantischen Produktionsstätten, der den Impfstoff in einem vielfach erprobten Verfahren herstellt. Kein Wunder, dass die EU gleich bis zu 400 Millionen Dosen geordert hat. Dann, am vergangenen Freitag, nur eine Woche vor der erwarteten Zulassung des Impfstoffs, der Offenbarungseid des Unternehmens: Sorry, aber statt 80 Millionen bekommt ihr nur 30 Millionen Dosen bis Ende März.
Bedingte Marktzulassung und Notfallzulassung - die wichtigsten Unterschiede
Notfallzulassung: Sie wird nur vorübergehend - für die Zeit des Notfalls - erteilt. Das Medikament muss noch nicht zugelassen sein und die Qualitätsprüfung – z.B. auf welchem Stand Studien und Tests zu Sicherheit und Wirksamkeit des Medikaments sind – liegt im Ermessen des Staates. Im Fall einer Notfallzulassung haftet nicht das Unternehmen für sein Medikament, sondern der Staat, der die Notfallverordnung erlassen hat.
Bedingte Marktzulassung: Sie gilt zunächst für ein Jahr. Die Prüfung des Medikaments unterliegt den Richtlinien der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA). Es müssen noch nicht alle Studien, etwa zu Langzeitwirkungen, vorhanden sein. Die Unternehmen verpflichten sich jedoch, die fehlenden Studien zu einem bestimmten Zeitpunkt nachzureichen und ihre Forschung fortzusetzen. Die Haftung übernimmt im Fall einer bedingten Marktzulassung in der Regel das Unternehmen und nicht der Staat. Allerdings gibt es bei den Verträgen mit den Impfstoffherstellern Entschädigungsklauseln, die die Hersteller im Fall einer Klage auf Schadenersatz entlasten sollen. In einer Pressemitteilung der EU-Kommission zur Unterzeichnung der Verträge mit AstraZeneca heißt es: "Die Vorverträge mit den Unternehmen sehen aber Entschädigungsklauseln vor für den Fall, dass ein Hersteller zu Schadenersatzzahlungen verurteilt würde."
(Weitere Quelle: Fragen und Antworten zum BioNTech-Zulassungsverfahren)
Mischung aus Hybris und politischer Instinktlosigkeit
Und mit einem hanebüchenen Interview versuchte AstraZeneca-Chef Pascal Soriot, die wutentbrannten Gemüter in der EU zu beruhigen: Regt euch nicht so auf, wir haben unser Bestes getan, leider hat es nicht gereicht, aber wir arbeiten dran. So die Botschaft des Topmanagers auf den Punkt gebracht. Gestern hatte der Mann beim Weltwirtschaftsforum noch pauschal alle Regierungen dieser Welt für ihre Unfähigkeit im Management der Coronapandemie abgewatscht. Und sein Unternehmen liefert derzeit jeden Tag eine neue Begründung für die Lieferkürzungen; weil die Begründung vom Vortag fadenscheinig geworden ist.
(Deutschlandradio / Andrea Kampmann)Pascal Soriot – das ist die perfekte Mischung aus Hybris und politischer Instinktlosigkeit. You are fired! Mal sehen, wie lange es noch dauert, bis seine Aktionäre ihm diese Mitteilung machen. Aber selbst das wäre keine Lösung für das Impfchaos. Dagegen hilft nur eines: Totale Transparenz. Der Vertrag muss jetzt auf den Tisch, sofort. Damit alle sehen können, was wirklich vereinbart wurde. Die EU-Kommission hat AstraZeneca zur Aufhebung der Geheimhaltung aufgefordert. Wenn der Weltkonzern sein Ansehen nicht verlieren will, muss er das Papier jetzt veröffentlichen.
Kontrollverlust verhindern
Und falls in dem Vertrag tatsächlich, wie Brüssel behauptet, vom Pharmakonzern zugesichert wurde, die Mitgliedstaaten der Europäischen Union auch mit Impfstoff aus den britischen Werken zu versorgen, dann hat die EU-Kommission keinerlei Anlass, von der angedrohten, harten Linie abzuweichen. Und die geht bis hin zur Verhängung eines Exportverbots. Denn es gibt massive Hinweise, dass AstraZeneca in der EU produzierten Impfstoff massenhaft exportiert hat, jetzt aber den Import für unmöglich erklärt.
Besser wäre es allerdings, den Konsens mit dem Unternehmen zu suchen. Wenn Lieferkürzungen unvermeidlich sind, dann müssen die gleichermaßen zu Lasten aller Kunden gehen. Das wird AstraZeneca dann der britischen Regierung erklären müssen. Und danach muss die Produktion ausgeweitet und verlorenes Vertrauen zurückgewonnen werden. Denn in Wahrheit geht es nur um eines. Nämlich darum, den Kontrollverlust im Corona-Januar 2021 zu verhindern.
Peter Kapern (Deutschlandradio / Bettina Fürst-Fastré )Peter Kapern, geboren 1962 in Hamm, Westfalen. Studium der Politikwissenschaften, der Philosophie und der Soziologie in Münster. Volontariat beim Deutschlandfunk. Moderator der Informationssendungen des Dlf, 2007 bis 2010 Leiter der Redaktion Innenpolitik, Korrespondent in Düsseldorf, Tel Aviv und Brüssel.