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EU-Türkei-Beitrittsverhandlungen
"Das Einfrieren könnte eine Möglichkeit sein"

Er verstehe die Entrüstung über Erdogan, sagte der Außenminister von Luxemburg, Jean Asselborn, im Dlf. Kein anderes Land in der Europäischen Union werde derart von der Türkei provoziert wie Deutschland. Aus formalen Gründen hält er aber nur ein Einfrieren der Beitrittsverhandlungen für realistisch.

Jean Asselborn im Gespräch mit Jasper Barenberg | 05.09.2017
    Luxemburgischer Außenminister Jean Asselborn.
    Luxemburgischer Außenminister Jean Asselborn. (imago/Müller-Stauffenberg)
    Jasper Barenberg: Zu den wenigen Überraschungen im Duell zwischen Martin Schulz und Angela Merkel gehörte am Sonntagabend ja der Augenblick, als der SPD-Spitzenkandidat ankündigte, sich als Kanzler für den offiziellen Abbruch der EU-Beitrittsgespräche mit der Türkei einzusetzen. Und als die Kanzlerin nach einem Augenblick des Zögerns ankündigte, genau darüber mit den Partnern im Europäischen Rat bald zu sprechen. Haben wir Zuschauer in diesem Moment miterlebt, wie die Bundesregierung gerade ihren Kurs in der Türkei-Politik entscheidend ändert? Wie gehen die europäischen Partner mit dem um, was die Kanzlerin und was der Kandidat öffentlich gesagt haben?
    – Wir können darüber in den nächsten Minuten mit Luxemburgs Außenminister sprechen. Einen schönen guten Morgen, Herr Asselborn.
    Jean Asselborn: Guten Morgen, Herr Barenberg.
    Barenberg: Herr Asselborn, Sie haben die Debatte zwischen der Kanzlerin und Martin Schulz ja selbst in Berlin vor Ort verfolgen können. Haben Sie das auch so erlebt, dass der Kandidat die Kanzlerin dazu gebracht hat, ihren Kurs zu ändern?
    Asselborn: Das wird man sehen müssen, glaube ich. Aber zuerst will ich sagen, dass ich Verständnis habe für die Aussage von Martin Schulz. Die Entrüstung über Erdogan ist, glaube ich, zu verstehen. Kein anderes Land in der Europäischen Union wird derart provoziert wie Deutschland. Bürger der Türkei, aber auch deutsche Staatsbürger ohne erkennbaren Grund, ohne Rechtsstand, ohne konsularische Hilfe einfach wegsperren und keiner weiß wie lange, ist unerträglich, empörend, ist im Grunde genommen ein Akt von Staatsterror. Und ich bin absolut nicht einverstanden mit Stimmen aus Brüssel, die sagen, wir haben zwar in einigen Punkten Divergenzen mit der Türkei, aber wir müssen am Ball bleiben. Das stimmt, aber hier geht es ums Ganze. Es geht um Freiheit, es geht um elementarste Rechtsstaatlichkeit, es geht um Würde. Man spielt nicht mit Freiheitsentzug der Menschen als Staat und das ist nicht irgendein Problem; es ist ein kapitales Problem der demokratischen Gesellschaftsordnung. Darum verstehe ich, dass im Wahlkampf auch diese, sagen wir mal, Entrüstung auch konkretisiert wird.
    Barenberg: Sie sagen, das ist unerträglich, und Sie haben beschrieben, was für Sie in Ihren Augen legitim unerträglich ist. Ist es klug gewesen von Martin Schulz, daraus die Schlussfolgerung zu ziehen, genug ist genug und das ist jetzt wirklich Grund genug, die Beitrittsgespräche endgültig zu beenden?
    "Vorgesehen ist die Suspendierung"
    Asselborn: Herr Barenberg, wir müssen zum Prozedere etwas sagen. Den Abbruch der Verhandlungen, was den Beitritt angeht, gibt es nicht. Es gibt keinen Abbruch, der vorgesehen ist in den Texten, weder im Lissaboner Vertrag. Hier geht es nur darum, dass Einstimmigkeit bestehen muss, wenn ein Land aufgenommen wird, ein Staat aufgenommen wird. Abbruch ist nicht vorgesehen. Auch nicht in dem Verhandlungsrahmen von 2005 für die Türkei. Das heißt, sagen wir mal politisch gesehen, dass es Einstimmigkeit geben muss. Einstimmig kann natürlich Europa auch über die Verträge hinweg eine Entscheidung treffen. Vorgesehen ist, das müssen wir sehen, die Suspendierung. Das ist, glaube ich, Punkt fünf, wo ganz klar gesagt wird, dass die Kommission einen Vorschlag machen kann. Sie muss ihn machen, wenn ein Drittel der Staaten das beantragt. Mit qualifizierter Mehrheit, das heißt auf Deutsch zwei Drittel der Mitgliedsstaaten können dann suspendieren. Auf Französisch suspendre, auf Deutsch, glaube ich, heißt das auch suspendieren, vorübergehend aussetzen.
    Barenberg: Jetzt hat die Kanzlerin ja in ihrer Antwort an Martin Schulz gesagt, sie war noch nie dafür, dass die Türkei am Ende Mitglied der EU wird. Und sie wird mit ihren europäischen Partnern darüber jetzt beraten. Was erwarten Sie denn, was jetzt die Position der Bundesregierung sein wird? Und welchen Vorschlag wird Angela Merkel dann unter den Bedingungen, die Sie beschrieben haben, machen?
    Asselborn: Ich bin ja nicht in der Bundesregierung, nur im kleinen Luxemburg. Aber ich versuche, auf Ihre Frage zu antworten. Politisch – damit müssen wir ja anfangen – war es immer so in der Substanz, dass wir gesagt haben im Rat - und das war große, große Mehrheit, praktisch Einstimmigkeit, bis auf ein Land -, dass wir uns nicht provozieren lassen von Erdogan, dass wir an die Demokratie glauben in der Türkei, dass wir nicht abbrechen aus Respekt vor allem vor den vielen Menschen, Millionen Menschen in der Türkei, die die Europäische Union als einzige Hoffnung sehen. Jetzt haben wir ein neues Element, selbstverständlich, das größte Land der Europäischen Union. Wenn dieser Vorschlag gemacht wird, wird eine Debatte entstehen. Was ich zuerst sagen will ist, dass wir verhindern müssen, dass hier noch ein tief greifender Disput entsteht, in der Europäischen Union sich einschleicht. Und dass der türkische Präsident es fertigbringt, uns zu spalten. Das Risiko besteht, Herr Barenberg. Das darf man nicht unterschätzen.
    Barenberg: Das Risiko, Herr Asselborn, der Disput oder die Sorge einer Spaltung existiert, weil Sie keine Mehrheit, auch keine qualifizierte sehen für diesen Kurs in der EU?
    "Hier sind zwei Drittel der Staaten gefragt"
    Asselborn: Ja. Ich wollte gerade sagen, dass im real existierenden Gefüge zurzeit der Europäischen Union, wie ich es einschätze, Einstimmigkeit ziemlich illusorisch ist. Das Einfrieren, das Suspendieren könnte eine Möglichkeit sein, selbstverständlich. Hier sind zwei Drittel der Staaten gefragt. Wir müssen sehen, wie die Debatte dann sich entwickelt. Einfrieren auf Zeit würde heißen, dass nicht alles kaputt geschlagen wird. Das ist auch in den Texten, wie ich gesagt habe, vorgesehen. Aber diese Debatte wird erst gestartet werden. Ich glaube, vielleicht schon am nächsten Donnerstag oder Freitag, wenn wir als Außenminister in Tallin zusammen sind. Ich sage noch einmal: Ich habe Verständnis für die Position oder für das neue Element aus Deutschland. Das unterstreiche ich. Natürlich müssen wir die Konsequenzen sehen für die Zivilgesellschaft in der Türkei und den Riss, der durch die Europäische Union in dieser Frage gehen kann. Wir dürfen die Europäische Union nicht jetzt einteilen in Erdogan-Gegner und Erdogan-Versteher, wie das ja mit anderen Bildern auch schon gemacht wurde. Das wäre ein falsches Bild, ein schlechtes Bild für die Europäische Union.
    Barenberg: Sie haben ja selber das Gegenargument gegen einen Abbruch genannt. Die Europäische Union sollte es nicht sein, die der Türkei die Tür vor der Nase zuschlägt, weil sich dann Erdogan in seinen Feindbildern bestätigt fühlen kann. Wenn es nun eine Lösung geben könnte, wie Sie sie angedeutet haben, dass man diese Gespräche auf Dauer einfriert, offiziell einfriert, hätte das auch für die Türkei finanzielle Folgen, beispielsweise wenn es um diese Vorbeitrittshilfen geht?
    Asselborn: Ja. Bei den Vorbeitrittshilfen, um konkret zu sein, für das Jahr 2014 bis 2020, sind 4,45 Milliarden vorgesehen, wenn ich das richtig im Kopf habe. Und es sind erst 180, 186 Millionen ausbezahlt worden. Hier wird auch nichts weiteres ausbezahlt. Natürlich kann man die nicht total einfrieren, wenn nicht suspendiert wird. Das ist das eine. Aber wenn wir von finanziellen Aspekten reden: Ich glaube, es gibt zwei Sachen, die man Herrn Erdogan wirklich wiederholen muss. Das erste ist der Wirtschaftsbereich. 144 Milliarden war der Wirtschaftsaustausch 2016 zwischen der Europäischen Union und der Türkei. Die Türkei ist fünfter Partner der Europäischen Union, aber vor allem ist die Europäische Union der erste Partner der Türkei. Und zwei Drittel aller Investitionen aus dem Ausland kommen aus der EU. Das zweite Element ist: Wissen Sie, in Luxemburg haben wir die Investitionsbank. Diese Bank hat zurzeit für 20 Milliarden Kredite gewährt. Mit diesem Geld, was die Türkei nicht anderswo bekäme, wird der Bosporus-Tunnel gebaut, die Schnellbahn zwischen Istanbul und Ankara, es werden Krankenhäuser gebaut, es wird Erdbebensicherung gemacht und so weiter und so weiter. Ohne diesen Träger, ohne die Europäische Investitionsbank wäre der Aufschwung der Türkei wirtschaftlich gesehen, sozial gesehen nicht möglich gewesen. Man muss Herrn Erdogan sagen, dass die Europäische Union, eigentlich der Einbruch der Wirtschaftsbeziehungen zwischen der Türkei und der Europäischen Union, das wäre ein kapitaler Schlag gegen jegliche Interessen der Türkei. Das ist ein Punkt, glaube ich, der über die Beitrittsfrage hinausgeht, über die Zollunion hinausgeht, über die Visa-Liberalisierung hinausgeht. Das ist Sache und das muss man manchmal, glaube ich, als Politiker auch Herrn Erdogan unter die Nase reiben.
    "Ich hoffe, dass die Türkei trotz allem ein Embryo von Demokratie behält"
    Barenberg: Sie hoffen auf die Einsicht des türkischen Präsidenten in die Bedeutung der beispielsweise wirtschaftlichen Beziehungen?
    Asselborn: Da muss man sehr optimistisch sein, um hier noch Hoffnung zu haben. Ich hoffe, dass die Türkei trotz allem ein Embryo von Demokratie behält und dass dieses Potenzial, was ja fast die Hälfte der türkischen Menschen trotzdem bewiesen haben beim Referendum, dass das noch Gewicht hat. Und ich hoffe auch wirklich das. Ich weiß nicht, ob Herr Erdogan eines Tages umdenken wird, aber die Evolution von diesem Mann ist ja fantastisch gewesen. Ich habe ihn zuerst gesehen 2004 und wenn ich ihn heute sehe, das ist ein anderer. Das ist eine andere Auffassung von elementarster Politik.
    Barenberg: Der Außenminister Luxemburgs hier live im Deutschlandfunk, Jean Asselborn. Vielen Dank für das Gespräch heute Morgen.
    Asselborn: Bitte, Herr Barenberg.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.