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EU-Zusagen an Türkei
"Wir brauchen keine Almosen"

Die Türkei wartet weiterhin auf die zugesagten Gelder der EU in der Flüchtlingskrise: Man habe noch "keinen Cent bekommen", sagte der türkische Botschafter in Deutschland, Hüseyin Avni Karslioglu, im DLF. Man brauche aber das Geld, um den Flüchtlingen im Land zu helfen.

Hüseyin Avni Karslioglu im Gespräch mit Christiane Kaess | 19.02.2016
    Der türkische Botschafter in Deutschland, Hüseyin Avni Karslioglu
    Der türkische Botschafter in Deutschland, Hüseyin Avni Karslioglu (picture alliance / dpa / Tim Brakemeier)
    Man habe bereits mehr 2,5 Millionen Flüchtlinge nur aus Syrien und Hunderttausende auf dem Irak aufgenommen, so Karslioglu. Um zu verhindern, dass Menschen in Europa "auf illegale Weise eindringen", sei aber "gegenseitige Unterstützung" erforderlich. Die Europäische Union habe bereits seit Monaten drei Milliarden Euro zugesagt, "keine Almosen", betonte der Diplomat, sondern konkrete Hilfe für die Flüchtlinge. "Mit Worten kann man schön umgehen, aber es braucht Taten."
    Kritik an der schnellen Identifizierung der Ankara-Attentäter wies Karslioglu zurück. Die Türkei erfasse alle Einwanderer mit Bildern und Bio-Daten, der Abgleich dieser Daten habe das schnelle Ergebnis ermöglicht. Die türkische Regierung beschuldigt die kurdische Miliz YPG, das Attentat verübt zu haben, und hat bereits Verdächtige festgenommen.
    Man gehe nicht gegen "die Kurden" vor, sagte Karslioglu, Kurden seien "unsere Brüder und Schwestern". Man bekämpfe Terroristen - auch im Syrien-Konflikt, in dem die YPG "Hand in Hand" mit Russland, dem Iran und dem Assad-Regime arbeite. Nun müsse man die "USA überzeugen, wer da der Terrorist ist und wer nicht".

    Das Interview in voller Länge:
    Christiane Kaess: Wieder einmal ist die Türkei von einem schweren Anschlag erschüttert worden. Mitten im Berufsverkehr explodierte am Mittwoch in Ankara eine Autobombe. Sie riss mindestens 28 Menschen in den Tod. Hinter dem Anschlag sollen die syrische Kurdenmiliz YPG und die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK stehen. Das sagt zumindest die türkische Regierung.
    Der türkische Ministerpräsident Davutoglu sagte vor diesem Hintergrund seinen Besuch in Brüssel ab, wo die Staats- und Regierungschefs zum EU-Gipfel zusammengekommen sind. Für Bundeskanzlerin Angela Merkel ist die Türkei ja nach wie vor der entscheidende Partner bei einer europäischen Lösung der Flüchtlingskrise.
    Über all dies sprechen möchte ich mit dem türkischen Botschafter in Deutschland, Hüseyin Avni Karslioglu. Guten Morgen.
    Hüseyin Avni Karslioglu: Guten Morgen, Frau Kaess.
    Kaess: Herr Botschafter, die Kurden weisen die Verantwortung für den Anschlag in Ankara zurück. Warum ist für die türkische Regierung dennoch klar, dass sie dahinter stecken?
    Karslioglu: Na ja. Wenn man bedenkt, dass die Flüchtlinge, die in die Türkei kommen, im Gegensatz zu vielen anderen EU-Ländern erfasst werden. Wenn sie in die Türkei kommen, werden sie registriert und mit Biodaten erfasst, Bilder, Fingerabdrücke, alles elektronisch erfasst. Und wenn man diese Bilder und diese Fingerabdrücke mit dem, was man am Tatort gefunden hat, wo sie den Terrorakt begangen haben, in Ankara vergleicht, dann kommen die gleichen Daten raus. So einfach ist das. Kriminaltechnische Auswertungen haben das ergeben.
    "Wir gehen nicht härter gegen die Kurden vor"
    Kaess: Die Kritiker auf der anderen Seite, die Kritiker der Regierung, die sagen, das ist jetzt das Argument für die türkische Regierung, um härter gegen die Kurden vorzugehen.
    Karslioglu: Wir gehen nicht härter gegen die Kurden vor. Die Kurden sind unsere Brüder, unsere Geschwister. Man muss da unterscheiden. Wenn man in Deutschland gegen die Rote Armee Fraktion vorging, war das gegen die Deutschen?
    Nein, das war gegen die Terrororganisation. Das Gleiche entspricht auch hier: Die PKK, was eine Terrororganisation ist, und die Ableger von PKK ist die YPG. Die sind in der gleichen Art und Weise, wie sie agieren. Und wenn man bedenkt, dass diese Terrorgruppe unterstützt wird von Machthaber Assad in Syrien, wenn die zusammen Hand in Hand arbeiten, dann zeigt das, wer sie sind.
    "Im Kampf gegen Terror arbeitet man nicht mit Terroristen zusammen"
    Kaess: Sie haben gerade über das Vorgehen gesprochen. Präsident Erdogan hat ja ganz offen mit Vergeltung gedroht und das türkische Militär hat Angriffe auch auf Kurden-Stellungen geflogen.
    Wir haben ja bisher gesehen, dass Gewalt eigentlich immer nur zu Gegengewalt geführt hat. Ist es nicht an der Zeit, den Friedensprozess mit den Kurden wieder zu aktivieren?
    Karslioglu: Ich glaube, Sie verwechseln etwas. Wir sind nicht gegen die Kurden, gegen die YPG und die PKK. Das ist was Anderes. Gegen Terrororganisationen wie auch gegen Daesch. Das heißt das, dass wir gegen Daesch nicht kämpfen sollen oder dürfen, weil sie einen Anschlag in Paris gemacht haben?
    Ganz im Gegenteil! Man muss sie bekämpfen, um sie auszulöschen, um sie zu unterbinden. Und eines muss ich noch sagen: Diejenigen in Syrien, die Kurden, die YPG ist ja nicht deren einziger Vertreter. Es gibt noch 15 andere kurdische Parteien, die von der YPG auch verdrängt werden, ermordet werden. Die Führer der 15 anderen Parteien wurden von dieser Terrorgruppe, Terrormiliz angegriffen, und im Kampf gegen Terror arbeitet man nicht mit Terroristen. Das muss auch klargestellt werden.
    Kaess: Das heißt, die YPG und die PKK stehen für die Türkei auf der gleichen Stufe wie der Islamische Staat.
    Karslioglu: Genau!
    Kaess: Sind Sie für die Türkei vielleicht sogar schlimmer als der islamische Staat?
    Karslioglu: Die sind alle gleich schlimm. Terror ist Terror. Man muss da keinen Unterschied machen. Wenn Terroristen auf unschuldige Menschen Angriffe machen, bomben in die Luft jagen und das Volk terrorisieren, wie wir es auch in Paris erlebt haben, in anderen Orten auch erlebt haben, das muss äußerst streng bekämpft werden und da brauchen wir natürlich gegenseitige Unterstützung. Man weiß nie, wann wo was geschieht.
    Kaess: Jetzt hat der türkische Ministerpräsident Davutoglu an die Staaten appelliert, die die YPG nicht als Terrororganisation ansehen wollen. Die USA sehen die YPG ja als Verbündeten im Kampf gegen den Islamischen Staat. Was erwartet sich denn die Türkei vom Westen?
    Karslioglu: Dass sie einsehen, wer mit wem kämpft. Assad, der Machthaber in Syrien, der eigentlich der Sumpf ist von dem, was wir alles hier erleben, in Deutschland, in Europa, in der Türkei, die Flüchtlingswelle, Abermillionen Menschen, die vertrieben sind, ermordet sind, die arbeiten mit Assad zusammen. YPG, Russland, Iran und das Assad-Regime, alle sind Hand in Hand, und das heißt nicht, dass man, wenn man den Daesch bekämpft, sich auf YPG verlassen darf. Natürlich müssen alle bekämpft werden.
    "Wir sind unserer eigenen Sicherheit verpflichtet"
    Kaess: Herr Karslioglu, was wird denn die Türkei machen, wenn sich die USA nicht eindeutig positionieren? Denn danach sieht es ja im Moment nicht aus.
    Karslioglu: Man muss sie überzeugen. Man muss sagen, was geschieht. Den Fehler haben sie auch in Irak begangen, wie sie die Machthaber dort unterstützt haben.
    Nachträglich haben sie ihren Fehler eingesehen. Wir müssen eine Überzeugungsarbeit leisten, wer da der Terrorist ist und wer nicht. Wenn sie es auch nicht am Anfang einsehen, werden sie es später einsehen. Aber wir auf unserer Seite, wir sind für unsere eigene Sicherheit verpflichtet, und wir machen, was richtig ist.
    Kaess: Und beim türkischen Vorgehen gegen die YPG und die PKK ist der Einsatz von Bodentruppen durchaus möglich?
    Karslioglu: Das kann ich nicht beantworten. Das ist mehr eine politische Frage.
    Kaess: Wird die Türkei die Grenze zu Syrien nach diesen Anschlägen noch besser sichern und eventuell für Flüchtlinge kein Durchkommen mehr möglich sein? Wir kennen die Situation an der türkisch-syrischen Grenze, wo viele Menschen Schutz suchen.
    Karslioglu: Die Grenze ist leider sehr lang, Tausende Kilometer. Wir wünschen uns, dass wir sie kontrollieren könnten, aber es ist so: Das Terrain, die geografische Lage ist sehr schwer.
    Aber was wir machen ist: Wir versuchen unser Bestes, sie zu kontrollieren. Und mit den Flüchtlingen tun wir unser Bestes. Wir haben auf der syrischen Seite der Grenze ein Flüchtlingslager aufgeschlagen für die Flüchtlinge, die jetzt aus Aleppo kommen, wegen der russischen Angriffe auf Schulen, auf Krankenhäuser. Sogar Kinderkrankenhäuser wurden angegriffen und Bäckereien, wo die Menschen das tägliche Brot, was sie noch haben können, erhalten.
    Für diese Menschen, für diese Flüchtlinge haben wir auf der syrischen Seite von der Grenze Flüchtlingslager aufgebaut, Zelte, Einrichtungen und natürlich die Verpflegung. Das machen wir. Im Falle einer Krankheit oder einer Geburt oder einer Verletzung lassen wir sie natürlich auf der türkischen Seite in den Krankenhäusern pflegen und heilen.
    Kaess: Dann schauen wir zum Schluss noch auf die geografisch andere Seite. Es kommen immer noch Tausende Flüchtlinge von der Türkei auf den griechischen Inseln an. Der Vorwurf an die Türkei ist, die bisherige Grenzsicherung genügt nicht. Kann die Türkei die Grenze nicht sichern, oder will sie nicht?
    "Wir brauchen gegenseitige Unterstützung"
    Karslioglu: Wir tun unser Bestes in Zusammenarbeit mit unseren europäischen Partnern, aber es ist nicht so leicht. Wenn man diese Menschen aus Verzweiflung sieht, weil sie keine Perspektive haben. Wir haben jetzt über 2,5 Millionen Flüchtlinge nur aus Syrien und noch dazu viel mehr, ein paar Hunderttausend - das sind Menschen, das sind nicht Zahlen - aus dem Irak, die in die Türkei auf illegale Weise eindringen und dann weiter nach Europa ziehen möchten.
    Wir möchten es auch unterbinden. Das ist auch für uns eine Sicherheitsfrage. Wir möchten uns auch da einigen. Aber es ist sehr schwer, es zu kontrollieren. Jetzt haben wir den Zehn-Punkte-Plan mit der Bundeskanzlerin in Ankara ausgehandelt.
    Kaess: Mit dem NATO-Einsatz.
    Karslioglu: Mit dem NATO-Einsatz, mit Frontex, aller Zusammenarbeit. Aber dafür brauchen wir eine gegenseitige Unterstützung, das "burden sharing", die gegenseitige Unterstützung, diesen Menschen wenigstens klar zu machen, dass sie nahe ihrer Heimat bleiben sollen. Dafür brauchen wir Unterstützung.
    "Niemand hat uns zugehört, wenn wir gefleht haben, helft diesen Menschen"
    Kaess: Die haben Sie ja bereits bekommen. Sie haben ja Hilfsgelder zugesagt bekommen.
    Karslioglu: Ja, zugesagt seit Monaten. Aber nichts, kein Cent ist gekommen und die Menschen verhungern. Die verhungern nicht in der Türkei. Wir leisten alles. Aber wenn die keine Perspektive mehr haben? Mit Worten kann man schön umgehen, aber das muss in Taten umgesetzt werden. Sehen Sie, wir haben über 2,5 Millionen Syrer, 2,5 Millionen. Ganz Europa hat noch nicht mal die Hälfte davon, was wir seit Jahren haben. Niemand hat uns zugehört, wenn wir gefleht haben, helft diesen Menschen. Wir brauchen das nicht für unser Budget. Wir möchten das auch gar nicht.
    Unsere Wirtschaft ist intakt. Aber diesen Menschen müssen wir helfen. Stellen Sie sich vor: 900.000 jugendliche Menschen, die hilfsbedürftig sind, und 700.000 von diesen im Schulalter sind, wir haben 300.000 in türkischen Schulen oder in verschiedenen Camps von diesen jungen Menschen Schulung gegeben, aber 400.000 Menschen, jungen Menschen fehlt die Grundschulung.
    Dafür brauchen wir Hilfe, um Schulen zu bauen, um Camps aufzuschlagen für diese Menschen, damit sie wenigstens schreiben und lesen können, wenn sie übermorgen in ihre Heimat zurückkehren, dass sie wenigstens schreiben und lesen können, um ihr Land aufzubauen. Dafür brauchen wir Hilfe, nicht, dass wir Almosen brauchen. Aber es wird immer wieder gesagt, zwei Milliarden, drei Milliarden; nichts ist da rausgekommen. Für diese Menschen brauchen wir Hilfe.
    Kaess: ... sagt der türkische Botschafter in Deutschland, Hüseyin Avni Karslioglu. Danke schön für das Gespräch.
    Karslioglu: Gerne!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.