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EuGH-Urteile zur Flüchtlingspolitik
"Herrschaft des Unrechts gab es definitiv nicht"

Deutschland dürfe Asylantragsverfahren an sich ziehen, sagte Daniel Thym von der Universität Konstanz im Dlf zu den EuGH-Urteilen zum Flüchtlingsrecht. Es sei nun geklärt, dass das Dubliner Abkommen auch in Krisenzeiten gelte - die Politik der Bundesregierung im Spätsommer 2015 sei rechtmäßig gewesen.

Daniel Thym im Gespräch mit Silvia Engel | 26.07.2017
    Ein Polizist an einem Grenzzaun.
    Kontrolle an einer Grenze: Dublin II galt auch im Spätsommer 2015. (Robert Ghement, dpa picture-alliance)
    Silvia Engel: Am Telefon mitgehört hat Professor Daniel Thym. Er hat an der Universität Konstanz den Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Europarecht und Völkerrecht inne, und er beschäftigt sich intensiv mit deutschem und europäischem Migrationsrecht. Guten Tag, Herr Professor Thym!
    Daniel Thym: Guten Tag, Frau Engels!
    Engel: Wir müssen ja die zwei Themen auseinanderhalten. Schauen wir also erst auf die Flüchtlingsquote, über die Ralf Sina gerade berichtete. Der Generalanwalt ist jemand, dem der EuGH meist folgt, und der findet es korrekt, dass Ungarn und Slowakei 2015 per Mehrheitsbeschluss im Europäischen Ministerrat dazu verpflichtet worden sind, einen Teil der Menschen aufzunehmen, die nach Europa geflüchtet sind. Das ist noch kein Urteil, aber wenn das Urteil dieser Linie folgt, was heißt das dann für Ungarn und die Slowakei?
    Thym: Wenn der EuGH dem Generalanwalt folgt, dann müssen die beiden Staaten Flüchtlinge übernehmen, jedenfalls aus Sicht des Rechts.
    Engel: Und das bedeutet dann wiederum, man kann die beiden Staaten auch zwingen?
    Thym: In der Tat. Die Kommission hat bereits Vertragsverletzungsverfahren gegen die beiden Staaten eingeleitet. Und wenn diese dann in einem Urteil des EuGH münden, dass die Staaten das europäische Recht verletzt haben, dann kann der EuGH in einem weiteren Verfahren ein sogenanntes Bußgeld, ein Zwangsgeld aussprechen.
    Engel: Das wäre ein harter Schritt. Nun haben Ungarn und Slowakei ja immer angekündigt, dass dennoch nicht zu tun. Wird es so weit kommen?
    Thym: Das kann sehr gut sein. Und dann wird die Europäische Union auf dem Bußgeld bestehen müssen, und sie hat zum Glück auch ein Instrument, mit dem sie das Bußgeld zwangsweise eintreiben kann. Die EU kann ein solches Bußgeld, welches der EuGH verhängt hat, nämlich einfach mit Geldern verrechnen, die ein Staat ohnehin aus dem EU-Haushalt bekommt.
    Engel: Da werden wir bis zur Urteilsverkündung und den folgenden Schritt noch ein wenig warten müssen. Schauen wir nun auf das, was wirklich geurteilt worden ist beim Europäischen Gerichtshof. Das hat auch mit Flüchtlingen zu tun, berührt aber das europäische Asylrecht generell. Die Richter haben das Prinzip des Dublin-Verfahrens bestätigt, dass ein Asylbewerber in dem EU-Staat seinen Antrag stellen muss, den er als ersten betreten hat. Nun hatten wir ja die Sondersituation 2015/2016. Haben also damals Österreich, Ungarn, Slowenien, Kroatien gegen EU-Recht verstoßen, indem sie Flüchtlinge zeitweise einfach durchgeleitet hat?
    "Dublin-Verordnung hat auch während der Krise gegolten"
    Thym: Die Politik des Durchwinkens, die damals herrschte, war sicher nicht im Sinn des Europarechts, und der EuGH hat heute bestätigt, dass, wenn die Flüchtlinge irregulär weiterreisen in andere Mitgliedsstaaten, dass dann Deutschland oder auch Österreich sie in der Tat zurückschicken können. Das heißt, die Dublin-Verordnung hat auch während der Krise gegolten.
    Engel: Was heißt das denn in der Praxis? Heißt das nun, dass Flüchtlinge, die damals über diese Route nach Deutschland gekommen sind, später in Deutschland einen Asylantrag stellten, nun zurückgeschickt werden?
    Thym: Sie sprechen einen entscheidenden Punkt an, weil der EuGH hat in einem weiteren Urteil klargestellt, dass es nach der Dublin-Verordnung auch eine strenge Dreimonatspflicht gibt, und die ist in der Tat streng zu handhaben. Drei Monate hat Deutschland Zeit, nachdem Leute registriert wurden, um ein Dublin-Ersuchen etwa an Kroatien oder Ungarn zu stellen. Und wenn die drei Monate um sind, ist dann auch Deutschland zuständig. Das heißt, alle, die bis Anfang dieses Jahres eingereist sind, kriegen jetzt auch ein Verfahren in Deutschland. Deutschland kann nicht nach mehr als drei Monaten sagen, jetzt müsst ihr zurück in einen anderen Mitgliedsstaat.
    Engel: Das ist also eine Sowohl-als-auch-Regelung. Müssen denn Österreich, Ungarn und Slowenien noch rückwirkend mit irgendwelchen Spätfolgen rechnen, oder ist das ein- für allemal abgeschlossen?
    Thym: Nach der Dublin-Verordnung ist die damalige Krise beendet. Deutschland und auch Österreich können die Personen, die damals einreisten, nicht mehr in die Grenzstaaten zurückschicken, weil die drei Monate um sind. Was anderes gilt nur, wenn man schon ein Übernahmeersuchen gestellt hat. Das ist aber nur in wenigen Fällen der Fall, sodass in der Tat die damalige Krise rechtlich beendet ist.
    Engel: Jetzt beobachten wir ja wieder, dass die Flüchtlingszahlen generell an den europäischen Außengrenzen wieder steigen, auch wenn derzeit nicht so stark über die Westbalkanroute. Aber jetzt ist ja Recht gesetzt, die Dublin-Regelungen gelten. Was heißt das denn für diesen Sommer, wo vielleicht die Flüchtlingszahlen wieder anschwellen werden?
    "Für aktuell einreisende Personen ist Italien zuständig"
    Thym: Das heißt, dass für die aktuell einreisenden Personen Italien zuständig ist. Und wenn jemand irregulär nach Deutschland weiterreist, kann Deutschland binnen drei Monaten die Person nach Italien zurückschicken. Der EuGH hat aber auch klargestellt, und das hatten Sie ja in dem Beitrag auch vollkommen zu Recht erwähnt, dass natürlich es Ausgleichsmechanismen gibt. Deutschland kann freiwillig ein Verfahren an sich ziehen, wie die Bundesregierung das im Herbst 2015 gemacht hatte. Und es gibt die sogenannten Umsiedlungsbeschlüsse – man nimmt also Italien Flüchtlinge ab.
    Engel: Man nimmt Italien Flüchtlinge ab, aber da geht es ja wieder um eine Verteilung, die nach wie vor umstritten ist. Jetzt versuchen wir es einmal durchzuspielen: Die Rechtslage heißt, die Dublin-Verordnung gilt. Aber Italien hat möglicherweise Last mit zu vielen Flüchtlingen. Hätten dann auch aufgrund dieser Basis andere EU-Staaten das Recht, ihre Grenzen gegenüber Italien dicht zu machen, wie das Österreich ja beispielsweise androht?
    Thym: Das lässt das Europarecht auch nicht so einfach zu. Man kann Grenzkontrollen in begrenztem Umfang machen, aber das befreit nicht von den Pflichten der Dublin-Verordnung. Auch, wenn man Grenzkontrollen hat, muss man den Leuten erlauben, einen Asylantrag zu stellen. Wenn Österreich einfach die Grenzen schlösse und niemanden mehr über den Brenner ins Land ließe, um einen Asylantrag zu stellen, so geht auch das nicht. Es wäre europarechtswidrig.
    Engel: Sehen Sie denn jetzt die italienische Politik in irgendeiner Form gestärkt durch dieses Urteil? Denn Italien beklagt ja schon lange, dass es von den anderen EU-Staaten im Stich gelassen wird.
    Thym: Für die Italiener ist das natürlich eine zweischneidige Sache. Einerseits hat der EuGH entschieden, dass die Dublin-Verordnung gilt, auch in Krisensituationen. Das heißt, Italien ist prinzipiell zuständig. Zugleich hat der EuGH aber klargestellt, dass die Mitgliedsstaaten solidarische Ausgleichsmaßnahmen ergreifen können. Und darauf wird Italien jetzt natürlich setzen, dass die anderen Mitgliedsstaaten auch bereit sind, Leute zu übernehmen. Was sich aber, wie wir alle wissen, in der Praxis sehr schwierig darstellt, weil das sehr lange dauert und nicht gut funktioniert.
    Engel: Wenn wir noch mal zurückschauen auf diese Sonderzeit 2015/2016, war ja auch die Kritik damals an Bundeskanzlerin Merkel stark. Das ist jetzt doch auch ein Spruch gegen ihre unbürokratische Entscheidung, die Grenzen zu öffnen. Sie hat doch eigentlich letztlich mit diesem Urteil auch eine Kritik abbekommen.
    "Deutschland darf Asylverfahren an sich ziehen"
    Thym: Das würde ich nicht so sehen. Der EuGH hat ja explizit gesagt, dass die Dublin-Verordnung gilt, dass aber die Dublin-Verordnung zugleich die sogenannte Selbsteintrittsklausel enthält, dass also jeder Mitgliedsstaat, also auch Deutschland, ein Asylverfahren an sich ziehen kann. Und damit hat der EuGH eigentlich klargestellt, dass eine Aufnahmepolitik, so wie sie die Bundesrepublik damals verfolgte, rechtmäßig war. Die Dublin-Verordnung erzwingt das nicht, aber sie lässt es zu, dass Deutschland die Verfahren an sich nimmt. Eine Herrschaft des Unrechts, das wissen wir seit heute, gab es definitiv nicht.
    Engel: Wenn wir jetzt diese eine Urteilsbegründung heranziehen und diesen Ausblick, den wir vielleicht mit Blick auf die Flüchtlingsquote sehen, im Herbst, wenn ja dann das Urteil wahrscheinlich fällt, haben wir jetzt geregelte Standards, was die Asylanträge und die Flüchtlingspolitik angeht?
    Thym: Geregelte Standards haben wir, allerdings nur im Gesetzbuch, im Gesetzestext. Sehr viel schwieriger ist es, diesen Standards auch in der Praxis zum Durchbruch zu verhelfen. Sie haben ja die Quote angesprochen, die Verteilung von insgesamt 160.000 Personen. Das steht im Gesetzbuch, aber es in der Praxis sehr schwer umzusetzen. Man kann einen Staat wie Ungarn letztlich nicht dazu zwingen, Leute auch tatsächlich zu übernehmen. Und auch andere Mitgliedsstaaten, die freiwillig Leute übernehmen, machen das nicht in dem Umfang, wie es notwendig wäre.
    Engel: Das heißt, das Ringen um Flüchtlinge wird auch unabsehbar weitergehen?
    Thym: Absolut.
    Engel: Vielen Dank! Das war Daniel Thym. Er ist an der Universität Konstanz und hat dort den Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Europarecht und Völkerrecht inne. Ich bedanke mich für Ihre Zeit heute Mittag!
    Thym: Vielen Dank, Frau Engels!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.