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"Europa besteht nicht nur aus dem Euro, sondern auch aus Demokratien"

Dass der Europäische Gerichtshof über Haushalte urteilen soll, sei aus französischer Sicht "schockierend", meint der ehemalige französische Außenminister Hubert Védrine. Das würde bedeuten, "die Verbindung zur Demokratie zu kappen".

Hubert Védrine im Gespräch mit Christoph Heinemann | 09.12.2011
    Christoph Heinemann: Vor dieser Sendung haben wir den früheren französischen Außenminister Hubert Védrine von der Sozialistischen Partei erreicht, der Nicolas Sarkozys Erklärung zur Unabhängigkeit der EZB folgendermaßen deutet.

    Hubert Védrine: Die deutsch-französischen Vorschläge zielen auf ein Element, das ausdrücklich gar nicht erwähnt wird: dass Deutschland die Europäische Zentralbank nicht daran hindern kann, eine bedeutendere Rolle zu spielen. Das versteckt sich hinter dem Begriff "Unabhängigkeit".

    Heinemann: … und ist das gut oder schlecht?

    Védrine: Es ist gut, wenn die Bank sich entschließen könnte, wie es ihr alle Experten raten, eine wichtigere Rolle zu spielen. Das kann Deutschland nicht verhindern. Denn wenn die Europäische Zentralbank wirklich unabhängig ist, dann ist sie es auch von Deutschland. Wenn es die Zentralbank für ihre Aufgabe und im Sinne der Wirtschaft in der Euro-Zone hält, etwas mehr die Rolle der Zentralbanken in den USA oder Japan zu spielen, dann soll sie dies tun. Und umso besser, wenn sie es tut. Ein anderes Element, das Frankreich akzeptiert hat, nämlich eine Änderung der Europäischen Verträge, die ich für ausgesprochen gefährlich halte, ist nur zu rechtfertigen, wenn die Zentralbank sich so entwickelt.

    Heinemann: Wieso ist eine Vertragsänderung gefährlich?

    Védrine: Sie ist gefährlich, weil es innerhalb der 17 oder der 27 eine institutionelle und politische Auseinandersetzung wiederzubeleben droht, in der sich unterschiedliche Auffassungen und unterschiedliche Länder gegenüberstehen. Das wird sehr lange dauern. Es ist absolut unmöglich, dass es so schnell gehen wird, wie uns gesagt wird. Das ist so klar, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass die Verantwortlichen in Deutschland das nicht wissen. Ich glaube, sie müssen das aus innenpolitischen Gründen fordern.

    Heinemann: Inwiefern?

    Védrine: Weil es in der deutschen Öffentlichkeit eine große Zurückhaltung gibt: Deutschland möchte nicht bedingungslos für die anderen zahlen. Das verstehe ich natürlich. Der Bundestag überwacht das, der wiederum vom Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe überwacht wird. Es soll sich kein Mechanismus herausbilden, der die Wirtschaft in Ländern subventioniert, die schlecht geführt werden.

    Heinemann: Sollte die Schuldenbremse, also eine Rückkehr zu einer ausgeglichenen Haushaltspolitik, in den Verfassungen festgeschrieben werden?

    Védrine: Das ist eine ernst zu nehmende Frage. Da diese allerdings überall, vor allem in Frankreich, nur mit Blick auf den Wahlkampf diskutiert wird, mit politischen Hintergedanken also, ist es zumindest in Frankreich unmöglich, darüber Einvernehmen herzustellen.

    Heinemann: "Informationen am Morgen" im Deutschlandfunk, ein Gespräch mit dem früheren französischen Außenminister Hubert Védrine von der Sozialistischen Partei. - Arnaud Montebourg, Abgeordneter der Sozialistischen Partei, prangert an, Otto von Bismarck sei in die deutsche Politik zurückgekehrt. Sein Fraktionskollege Jean-Marie Le Guen hat Nicolas Sarkozy mit Edouard Dalladier vergleichen, der mit anderen das Münchner Abkommen von 1938 unterzeichnet hat. Wie sind diese Entgleisungen zu erklären?

    Védrine: Das ist grotesk. Das sind groteske Herabwürdigungen, die in dem einen Fall beeindruckende historische Unkenntnisse offenbaren, im anderen Fall ist es schlicht schockierend und absurd. Es hat nichts mit den Fragen zu tun, um die es heute geht. Diese Leute reden nicht historisch begründet. Das sind politische und vollkommen übertriebene Anschuldigungen, die allerdings zeigen, wie entnervt ein Teil der Öffentlichkeit inzwischen ist, angesichts deutscher Forderungen, die als übermäßig wahrgenommen werden. Leider nimmt inzwischen ein nicht geringer Teil der Presse in mehreren europäischen Ländern eine aggressive Haltung gegenüber den deutschen Forderungen ein.

    Heinemann: Können Sie ein Beispiel geben für übermäßige, exzessive Forderungen aus Deutschland oder von Frau Merkel?

    Védrine: Nicht von Frau Merkel, sondern aus Deutschland. Frau Merkel muss auf die öffentliche Meinung, ihre Koalition, den Bundestag, das Verfassungsgericht und die Zentralbank Rücksicht nehmen. Aus französischer Sicht ist die Forderung nach einer Einbeziehung des Europäischen Gerichtshofs schockierend. Die Vorstellung, der Europäische Gerichtshof könne über einen Haushalt urteilen, bedeutet, die Verbindung zur Demokratie zu kappen. Die Grundlage eines demokratischen Aufbaus ist das Parlament, das gewählt wurde und über eine demokratische und politische Legitimität verfügt. Dieses Parlament sagt Ja oder Nein zu bestimmten Steuern. So sind die Demokratien in Europa entstanden. Europa besteht nicht nur aus dem Euro, sondern auch aus Demokratien.

    Heinemann: Besteht in Frankreich das Gefühl, Nicolas Sarkozy habe vor Angela Merkel kapituliert?

    Védrine: In der Opposition wahrscheinlich ja. In einem Teil der Öffentlichkeit herrscht der Eindruck vor, dass sich Nicolas Sarkozy zu Beginn seiner Amtszeit Frau Merkel gegenüber sehr ungeschickt verhalten hat. Er hat sich ihr in allen Fragen widersetzt und häufig zu Unrecht. Und es gibt das Gefühl, dass er sich nun genau andersherum verhält.

    Heinemann: Wie erklären Sie dieses Misstrauen in Frankreich? Man hat hier manchmal den Eindruck, Frankreich fühle sich von Pickelhauben umzingelt.

    Védrine: Es gibt diese beiden Äußerungen, die nun ständig zitiert werden. Das ist wie gesagt historischer Unfug. Jeder weiß doch, dass es hier nicht um ein deutsche Hegemonie oder was auch immer geht. Da Deutschland im Rahmen des Euro zu mehr Solidarität mit Ländern verpflichtet ist, die von den Märkten angegriffen werden, stellt Deutschland Bedingungen. Und über diese Bedingungen kann man diskutieren. Man sollte allerdings auch über Wachstum sprechen, und das ist im deutsch-französischen Vorschlag nicht enthalten. Viele Menschen in Frankreich verstehen nicht, dass die Deutschen auf einer vollständigen Haushaltsdisziplin beharren. Denn das bedeutet Null-Wachstum in der Euro-Zone. In der deutsch-französischen Debatte fehlt deshalb ein Kompromiss zwischen einer notwendigen Gesundung der öffentlichen Finanzen – die fordert Deutschland zu Recht – und einer Politik für Wachstum in Europa, ohne die wir aus der Verschuldung nicht herauskommen werden.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.