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Europa
Britischer Lord plädiert für deutsche Führungsrolle

Deutschland besitzt eine historisch geprägte Scheu, sich für eine internationale Führungsrolle anzudienen. Und gerade das, so ist der britische Politiker Stephen Green überzeugt, qualifiziert die Deutschen für eine solche Aufgabe. Die kritische Auseinandersetzung mit einer grausamen Vergangenheit und eine pragmatische Sicht auf die Dinge.

Von Peter Carstens | 18.12.2017
    Das Buchcover "Dear Germany. Liebeserklärung an ein Land mit Vergangenheit" von Stephen Green. Im Hintergrund: Blick über das Wesergebirge bei Porta Westfalica im Herbst bei leichtem Nebel
    Kein Land hat aus Greens Sicht mehr zur Geschichte der Ideen und der menschlichen Schöpferkraft beigetragen. Kein Land ist tiefer in den Abgrund gestürzt. Und kein Land habe, so der Autor, eine bemerkenswertere Vergebung erlangt und Erneuerung erlebt. (Buchcover: Theiss Verlag /Hintergrund: imago/blickwinkel)
    Wenn ein englischer Lord eine Liebeserklärung an Deutschland verfasst, dann scheint auf den ersten Blick Vorsicht geboten. Hat der Mann einen Spleen? "Dear Germany" heißt sein Buch und Stephen Green ist keineswegs ein Träumer: Als Chef der Großbank HSBC hat er in den neunziger Jahren Milliarden erwirtschaftet. Als Handelsminister im Kabinett Cameron sah er mit an, wie der Premierminister sein Land in die unselige Brexit-Abstimmung führte. Aber Green hat auch deutsche und französische Literatur studiert, natürlich in Oxford. Und er liebt Brahms, Beethoven und Wagner.
    Mit dieser Melange aus realpolitischer Erfahrung und romantischer Zuneigung kommt Green zu dem Schluss, dass Deutschland gefordert und geeignet sei, den Kontinent zu einen. Er schreibt:
    "Es ist die Führerschaft eines Landes, das fest in die Europäische Union von Nationen eingebettet ist und diese Rolle ihm hauptsächlich durch die Wirtschaft auferlegt ist und nicht durch irgendein Bewusstsein historischer Bestimmung. Diese zögernde Führerschaft ist meilenweit entfernt von jener Vorherrschaft, die Kaiserreich und 'Drittes Reich' im Europa der Jahrzehnte bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs anstrebten."
    Europa sei, so glaubt er, Deutschlands "neue historische Bestimmung". Green ist sich dessen sicher und er begründet in seinem Buch ausführlich, wie ein Land und seine Menschen so wunderbar und dann wiederum so entsetzlich sein können.
    Von Sprache und Geschichte
    Schönheit und Schrecken wohnten schon Greens ersten Begegnungen mit der deutschen Sprache inne, die er als Schüler hatte. Denn sein Interesse an Deutschland erwuchs aus dem Klang von Wörtern, die ins Englische eingegangen sind:
    "Apfelstrudel, Blitzkrieg, Edelweiß, Einsatzgruppe, Singspiel, Untermensch, Volkswagen, Wanderlust, Wirtschaftswunder - und noch viele andere. Die Mischung aus dem Guten, dem Tiefen, dem Harmlosen und dem Bedrohlichen in dieser Sprache […] schlug mich in ihren Bann. Ich spürte, dass darin viel von der Kultur zum Vorschein kam, aus der die Wörter stammten."
    Kein Land hat aus Greens Sicht mehr zur Geschichte der Ideen und der menschlichen Schöpferkraft beigetragen. Kein Land ist tiefer in den Abgrund gestürzt. Und kein Land habe, so der Autor, eine bemerkenswertere Vergebung erlangt und Erneuerung erlebt.
    Um deutschen, vor allem aber wohl britischen Lesern zu erklären, wie es zu diesen Wendungen und Wandlungen kam, holt der Autor sehr weit aus. Lord Green führt seine Leser auf eine kurze, intensive Reise durch tausend Jahre deutscher Geschichte. Er besucht Karl den Großen, begleitet ein Stück des Wegs nach Canossa und beschreibt Luthers prägenden Einfluss. Natürlich kommen auch Kant, Goethe und Hegel vor.
    "Diese verdammte Pflicht"
    Diese Rundfahrt könnte dem deutschen Leser rasch etwas länglich werden, auch wenn Green sich um äußerste Konzentration bemüht. Doch zwei besondere Merkmale kommen ihm dabei typisch deutsch vor, und er widmet ihnen jeweils ein interessantes Kapitel: Das Pflichtgefühl, Zitat: "diese verdammte Pflicht" und der früher weit verbreitete Eindruck, immerzu Opfer böser Nachbarn zu sein.
    Denn die Geschichte der deutschen Lande ist auch eine von Besetzung, Unterdrückung und Verwüstung. Spätestens seit dem Dreißigjährigen Krieg erwuchs daraus eine Mischung aus Groll und Selbstbehauptungswillen. Die Deutschen dachten folgendermaßen, so Green:
    "Was geschehen ist, kann wieder geschehen, denn es ist nicht vergessen. Die Ordnung ist ein Wert an sich, und die Deutschen haben in der Geschichte die Alternative erfahren. Eben deshalb ist Pflichterfüllung ein existentieller Imperativ."
    Lord Stephen K. Green, Mitglied des Britischen House of Lords und Buchautor, stellt sein neues Buch "Dear Germany" in Berlin am 12.09.2017 vor.
    Stephen Green: "Liebeserklärung an ein Land mit Vergangenheit" (imago/Jens Schicke)
    Wohin dieser Weg führte, ist bekannt. Green nennt es zusammenfassend das "Todesschattental". Seiner Überblicksdarstellung deutscher Geschichte stockt in diesen Passagen noch immer der Atem. Auch über die schreckliche Entschlossenheit, mit welcher die Juden getötet wurden und mit der die Wehrmacht bis zum Ende kämpfte.
    Bei aller Historisierung und allem Erklären bleibt auch bei dem zugewandten Betrachter Green Fassungslosigkeit. Der Autor widmet sich den Gräuel der Nazizeit dennoch intensiv. Vielleicht tut er dies auch, um belegen zu können, dass eine Liebeserklärung nicht bedeuten muss, blind zu sein für die dunklen Seiten des Verehrten.
    Die Vergangenheitsbewältigung
    Dann kommt der Wiederaufstieg, das neuerliche Erstarken der deutschen Wirtschaft, die Entstehung einer stabilen Verfassung in Westdeutschland und schließlich die Überwindung des künstlichen sozialistischen Projekts in der DDR. Dort sei, so Green in recht kühner Formulierung, der soziale Korporatismus der Nazis noch eine Weile am Leben gehalten worden.
    Das Herausragende an der Nachkriegsentwicklung bleibt aus seiner Sicht der deutsche Umgang mit der Vergangenheit, die "Vergangenheitsbewältigung". In angestrengt grüblerischem Nachdenken über die Bedeutung der Dinge und in wachsendem Bewusstsein der eigenen Schande habe das Land sich grundlegend verändert. Green schreibt:
    "Deutschland hat seit der Stunde Null einen weiten Weg zurück gelegt und musste unterwegs außerordentliche Herausforderungen bewältigen: den Wiederaufbau aus Ruinen, das Trauma der Vertreibung aus den Ostgebieten, die Schmerzen der Teilung. All dies hätte leicht dazu führen können, das altvertraute Opfergefühl wachzurütteln und für neue Ressentiments zu sorgen. Aber das tat es nicht."
    Green findet diesen Weg bemerkenswert. Und wenn da nicht die "german angst" wäre, die aus seiner Sicht noch immer besteht, seine Bewunderung hätte kaum noch Grenzen. Andererseits ist es gerade die zurückhaltende Größe, die Scheu vor kultureller Dominanz, die Deutschland heute prädestiniert, Europa zu führen. Der alte Männlichkeitswahn ist verflogen. Und so schreibt Lord Green gegen Ende seines Buchs "Dear Germany":
    "Das neue Deutschland ist verändert und kann sich, als wäre es vom Tageslicht geblendet, häufig nicht eingestehen, wie radikal die Veränderung ist. Wenn es ein gewisses Maß an Reife und Ganzheit erreicht hat, dann zum Teil auch deswegen, weil es aus dem furchtbaren Trauma mit deutlich mehr von jenen Eigenschaften hervorgegangen ist - darunter auch Ausgewogenheit - die Goethe dem Weiblichen zuschrieb."
    Diese Worte liest man gerne. Auch wenn beim Blick in die Tageszeitung doch klar wird: So gereift und ausgewogen wie sie dem britischen Freund aus der Distanz des Oberhauses scheinen, liegen die Dinge in Deutschland ja keineswegs. Dennoch macht es Freude, seinen Gedanken zu folgen.
    Denn Greens Liebeserklärung an unser Land ist das Werk eines Realisten mit Idealen. Er will die Nachbarn verstehen, ermuntern und seinen Landsleuten erklären. Solche Leute und solche Bücher braucht Europa.
    Stephen Green: "Dear Germany. Liebeserklärung an ein Land mit Vergangenheit"
    Theiss Verlag, 312 Seiten, 19,95 Euro