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Europa und die Flüchtlinge
"Solidarität muss verpflichtend sein"

Die Aufnahme von minderjährigen Flüchtlingen sei in diesen besonders schwierigen Zeiten ein Zeichen der Solidarität, sagte EU-Kommissarin Ylva Johansson im Dlf. Europa brauche aber neue Regelungen dafür. Vorschläge für einen "neuen Deal für Migration und Asyl" werde sie bald vorlegen.

Ylva Johansson im Gespräch mit Jürgen Zurheide | 18.04.2020
Die EU-Kommissarin für Innere Angelegenheiten, Ylva Johansson
Die EU-Kommissarin für Innere Angelegenheiten, Ylva Johansson (picture alliance/TT NEWS AGENCY / Maja Suslin)
Die Lage auf den griechischen Inseln ist für die dortigen Flüchtlinge katastrophal. Dazu und zur europäischen Reaktion äußert sich die zuständige EU-Kommissarin für Innere Angelegenheiten, Ylva Johansson.
Jürgen Zurheide: Kommen wir zunächst zur aktuellen Lage der Flüchtlinge auf den griechischen Inseln, besonders vor allen Dingen auf Lesbos. Das ist eine Katastrophe – stimmen Sie mir bei dieser Bewertung zu?
Ylva Johansson: Ja, für viele, die dort leben, sind es inakzeptable Verhältnisse. Deshalb ist es auch so wichtig, dass wir Leute aus diesem Camp herausholen können, aber auch, dass wir für sie neue Einrichtungen finden.
Zurheide: Zuerst sind ja in dieser Woche zunächst zwölf Kinder nach Luxemburg gekommen, und dann heute kommen noch mal 53 nach Deutschland. Stimmen Sie mir auch da zu, dass das nur ein erster Schritt sein könnte?
"Ein neuer Deal für Migration und Asyl"
Johansson: Ja, aber wir haben die Zusicherung unserer Mitgliedsstaaten für die Aufnahme von mindestens 1.600 unbegleiteten Minderjährigen. Das ist ziemlich viel. Es sind mehr oder weniger alle unbegleiteten Minderjährigen, die in den Camps auf dieser Insel waren oder sind. Aber wir brauchen auch die Umsiedlung von anderen Migranten auf dieser Insel, doch das ist ein großer Schritt.
Zurheide: Welche Staaten beteiligen sich denn bis jetzt an der europäischen Solidarität?
Johansson: Wir beginnen zunächst mit acht Mitgliedsstaaten – Frankreich, Deutschland, Luxemburg, Kroatien, Litauen, Irland, Portugal –, aber wir sehen dann auch das Eintreten von weiteren: Bislang Slowenien, Belgien und auch die Schweiz zeigen Interesse, sich zu beteiligen. Die Dinge entwickeln sich also noch.
Zurheide: Was geschieht mit all jenen Ländern, die bisher nicht mitmachen, und das sind ja einige. Welche Druckmittel haben Sie da, vielleicht auch Geld?
Johansson: Ich denke, dass die Solidarität, die wir gerade sehen, die tätige Solidarität in diesen besonders schwierigen Zeiten, die wir wegen des Coronavirus erleben, dass sie wirklich ein sehr gutes Zeichen der Solidarität darstellt. Was wir aber brauchen, ist eine neue Regulierung. Deswegen arbeite ich an neuen Vorschlägen, einem neuen Deal für Migration und Asyl, und das wird bald vorliegen.
Zurheide: Um was für Vorschläge wird es dabei gehen?
"Solidarität muss verpflichtend sein"
Johansson: Sie werden sehr umfangreich sein, viele Aspekte zu Migration und Asyl beinhalten, sowohl natürlich das Managen der Migration als auch die Beziehungen mit Drittstaaten, die Rückkehr und die Solidaritätsmechanismen und Integration.
Zurheide: Das heißt aber doch eigentlich, dass alle Staaten mitmachen sollten, oder dass sie mitmachen müssten.
Johansson: Aus meiner Sicht muss Solidarität verpflichtend sein, ja.
Zurheide: Was kann die Europäische Union eigentlich für die griechischen Behörden tun, um die Situation auf Lesbos und den anderen Inseln zu verbessern, wo Sie ja schon gesagt haben, dass das mehr als schwierig ist, die Lage dort?
Johansson: Eine Menge. Wir arbeiten eng mit den griechischen Behörden zusammen, ebenso mit den Vereinten Nationen. Zusammen mit den griechischen Behörden haben wir einen Notfallplan aufgestellt und eine Menge Geld hineingesteckt. Jetzt siedeln wir diejenigen um, die am gefährdetsten sind, also jene aus den Risikogruppen – alte Leute, kranke Leute –, die bringen wir aus den überfüllten Lagern heraus in Wohnungen und Hotelzimmer. Bisher sind es mehr als 1000, und es dauert an. Wir versorgen mit Gesundheitsmitteln und medizinischen Helfern. Wir haben weitere Hilfen bereitgestellt, um die Verhältnisse im Camp zu verbessern. Natürlich ist es sehr wichtig, die Quarantäne weiter einzuhalten und die strengen Beschränkungen für alle, die in das Camp hinein wollen. Bislang ist das Virus nicht in das Camp gelangt, hoffen wir, dass das noch möglichst lange so bleibt.
Zurheide: Und was ist eigentlich mit dem Status für die Flüchtlinge? Die griechischen Behörden hatten ja zunächst die legalen Asylverfahren eingestellt, was nicht mit Recht übereinstimmt und inakzeptabel ist. Was können die Behörden tun oder was erwarten Sie davon?
"Werden wieder zu einer freien und offenen Europäischen Union zurückkommen"
Johansson: Selbstverständlich ist das inakzeptabel, aber deshalb bin ich auch glücklich, dass sie ihre Haltung geändert haben. Sie haben die Bearbeitungen wieder aufgenommen, damit die Leute wieder ihren Asylantrag stellen können. Es ist ein fundamentales Recht und wichtig, dass es funktioniert.
Zurheide: Was ist eigentlich mit der Lage an den europäischen Grenzen? Nicht wenige Leute befürchten, dass die Freiheiten und die offenen Grenzen so bald nicht wiederhergestellt werden. Bestehen diese Befürchtungen zu Recht oder was wollen Sie unternehmen?
Johansson: Diese Befürchtungen teile ich nicht. Ich bin davon überzeugt, dass wir zu einer freien und offenen Europäischen Union zurückkommen. Was ich beobachtet habe, war, dass eine Menge Staaten ihre Grenzen geschlossen haben, um sich selbst zu schützen, und ich habe etliche gesehen, die in Geschäfte gerannt sind, um sich mit Toilettenpapier und Nudeln zu versorgen und sich dann eingeschlossen haben. Doch schon bald bemerkt man, dass man seine Nachbarn braucht, Kooperation braucht. Jetzt klappt die Zusammenarbeit ganz gut, auch wenn die Grenzen noch nicht wieder geöffnet sind. Der Güterverkehr läuft frei und gut. Ausländische Beschäftigte können an ihre Arbeitsstellen reisen. Ich denke, wir sehen, dass Schritt für Schritt die Mitgliedsstaaten zur Normalität zurückkehren oder zu einer neuen Normalität, weil es wegen des Coronavirus einige besondere Maßnahmen geben wird. Ich bin davon überzeugt, dass wir zu einer funktionierenden Bewegungsfreiheit zurückkehren werden.
Zurheide: Diese Länder hatten Europa allerdings nicht gefragt. Wir haben gestern ja Jean-Claude Juncker, den früheren Kommissionspräsidenten, im Programm gehabt, und er war sehr verärgert über die Rolle Europas. Sind Sie da nicht viel zu spät gewesen?
"Schneller gehandelt, als man es von uns erwartet hätte"
Johansson: Das denke ich nicht. Meiner Meinung nach hat die Europäische Union viel, viel stärker und viel, viel schneller gehandelt, als es irgendjemand von uns erwartet hätte. Viele der Gebiete liegen nicht in der Kompetenz der EU, wie Gesundheitsvorsorge und vorbeugende Maßnahmen gegen die Virusausbreitung und dergleichen, aber dennoch haben uns Mitgliedsstaaten gebeten, eine führende Rolle in der Koordination zu übernehmen. Wir haben da eine Menge Geld hineingesteckt. Wir haben zum Beispiel sehr schnell Maßnahmen zur Staatshilfe ergriffen, eine gemeinsame Aktion zur öffentlichen Versorgung mit medizinischen Hilfsmitteln, haben sehr schnell gehandelt, um Probleme an den Grenzen zu lösen, aber auch um die Exportbeschränkungen einiger Länder, die es anfangs gab. Ich denke, wir haben schneller und stärker gehandelt, als man es von uns erwartet hätte.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.