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Europäische Union
ÖVP-Politiker fordert Abstimmung über Flüchtlingsverteilung

Reine Appelle an andere EU-Mitgliedsstaaten hinsichtlich der Aufnahme von Flüchtlingen würden nicht helfen, sagte der ehemalige EU-Agrarkommissar und österreichische ÖVP-Politiker Franz Fischler im DLF. Über die Verteilung von Flüchtlingen müsse in der EU abgestimmt werden, sagte der Politiker. Sollten sich einige Staaten dann immer noch weigern, Flüchtlinge aufzunehmen, sollten auch Hilfsfonds umgeleitet werden.

Franz Fischler im Gespräch mit Sandra Schulz | 18.09.2015
    Franz Fischler, ehemaliger EU-Agrarkommissar, während einer Pressekonferenz in Brüssel 2015
    Franz Fischler, ehemaliger EU-Agrarkommissar, während einer Pressekonferenz in Brüssel 2015 (dpa / picture alliance / Julien Warnand)
    Der österreichische ÖVP-Politiker Franz Fischler hofft, dass es wieder gelinge, "eine minimale Solidarität" unter den EU-Mitgliedstaaten herzustellen. Dazu gehöre eine bessere Verteilung der Flüchtlinge unter den europäischen Ländern. Das müsse zwar nicht über eine strikte Quote sein geschehen. Es sei aber inakzeptabel, dass die Mehrzahl der Mitgliedsstaaten den wenigen, die Flüchtlinge aufnähmen, nur zuschaue. Das wiederspreche auch den Grundwerten der EU, betonte Fischler.
    Für Mittwoch ist ein EU-Sondergipfel zur Flüchtlingsproblematik geplant.

    Das Interview in voller Länge:
    Sandra Schulz: "Wir schaffen das!" Das ist die Antwort von Bundeskanzlerin Angela Merkel auf die europäische Flüchtlingsfrage. Viele Menschen dürften hierzulande allerdings ein Fragezeichen hinter den Satz machen, auch mit Blick auf die Situation in Süd- und Osteuropa. Ungarn macht seine Grenzen dicht und setzt auf Abschreckung von Flüchtlingen. Jetzt nehmen Tausende oder sogar Zehntausende den Weg durch Kroatien, aber auch das Land schränkt jetzt den Grenzverkehr ein. Kroatien sah sich zuletzt an der Grenze seiner Kapazitäten. Im Grenzort Tovarnik stauten sich die Flüchtlinge, die auf die Züge in die Hauptstadt Zagreb warteten.
    Am Telefon begrüße ich jetzt den früheren EU-Kommissar, den österreichischen ÖVP-Politiker Franz Fischler, heute Präsident des Europäischen Forums Alpbach, bei dem einmal im Jahr Vertreter aus Wirtschaft, Wissenschaft und Politik aus aller Welt Fragen zur Zeit diskutieren. Guten Morgen, Franz Fischler!
    Franz Fischler: Ja, guten Morgen!
    Schulz: Wir schaffen das, sagt die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel. Ist Europa jetzt nicht schon heillos überfordert?
    Fischler: Eines muss man, glaube ich zugestehen, nämlich einen solchen Zustrom an Flüchtlingen in kürzester Zeit, das hat eigentlich niemand so erwartet. Und daher ist es schon so, dass einzelne Mitgliedsstaaten wie momentan zuletzt Kroatien ziemlich überfordert sind, weil sie auf so eine Situation nicht vorbereitet sind. Aber auf der anderen Seite glaube ich: Den Menschen Hoffnung zu geben, indem man sagt, wir schaffen das, ist, glaube ich, eindeutig die richtige Botschaft, denn wir können diese Kriegsflüchtlinge nicht einfach abweisen. Abgesehen davon: Wenn man das vergleicht mit dem, was andere Staaten an Flüchtlingen aufnehmen, mit der Türkei zum Beispiel, wo allein zwei Millionen Flüchtlinge sind, dann muss man bei diesem Vergleich doch auch sagen, ja wenn die Türkei das schafft, dann werden wir in Europa als ganz Europa das wohl auch schaffen können.
    "Im Libanon gibt es nichts mehr zu essen"
    Schulz: Aber gerade mit Blick in die Region, warum kommt die Entwicklung denn jetzt so überraschend für Europa?
    Fischler: Na ja, überraschend, glaube ich, ist nicht die Tatsache, dass mehr Flüchtlinge kommen. Überraschend war, dass die quasi Einladung, die ausgesprochen wurde, dazu geführt hat, dass die Zahl explodiert ist binnen weniger Tage. Das ist, glaube ich, das Überraschende.
    Schulz: Was meinen Sie mit Einladung? Die Entscheidung der Bundesregierung, die Flüchtlinge, die in prekärsten Umständen in Ungarn waren, nach Deutschland zu holen?
    Fischler: Na ja, dafür Beschlüsse auszusetzen. Das hat sicher dabei eine Rolle gespielt, wobei, glaube ich, aber auf der anderen Seite auch zwei andere Dinge eine große Rolle spielen, über die weniger diskutiert wird, nämlich erstens, es ist nicht mehr allzu lange hin, bis der Winter kommt, und auch in der Türkei, im Libanon ist es im Winter kalt und die Flüchtlingslager dort sind eigentlich nicht winterfest. Und zweitens: Teilweise gibt es in den Lagern vor allem im Libanon nichts mehr zu essen. Was haben dann die Leute für Alternativen, als sich auf den Weg zu machen?
    Schulz: Jetzt reist der deutsche Außenminister Steinmeier ja heute in die Türkei. Weil an dem Land jetzt eben in der Diskussion auch kein Weg vorbeiführt?
    Fischler: Ja. Das ist, glaube ich, notwendig, dass man mit den Herkunftsländern spricht, weil ich glaube, man kann nicht einfach den Flüchtlingsstrom, der sich in Bewegung gesetzt hat, aufhalten. Das funktioniert nicht. Es funktioniert ja nicht einmal das Umleiten, was man derzeit versucht, vor allem vonseiten Ungarns oder auch anderer Länder. Das einzige, was funktionieren wird, ist, da man Klarheit schafft, was muss getan werden, dass sich weniger Leute auf den Weg machen.
    "Ungarn: Das ist keine Flüchtlingspolitik, das ist Egoismus"
    Schulz: Welche Perspektive sehen Sie denn da?
    Fischler: Ja, da sehe ich erstens die Perspektive ganz, ganz kurzfristig, dass man endlich das macht - und da sind auch die Amerikaner dazu herzlich eingeladen -, dass man die Food Aid Programme, die es gibt, also die Lebensmittel-Hilfsprogramme, die international eingeführt sind und eigentlich unter amerikanischer Führung stehen, dass man die aufstockt, weil es ist an sich wirklich unmöglich, was da passiert ist, dass man heuer die Mittel, die dafür zur Verfügung gestellt werden, halbiert hat. Das ist der Hauptauslöser dafür, dass in einzelnen Lagern im Libanon nichts mehr zu essen da ist.
    Schulz: Wenn der Ansatzpunkt ist, so habe ich Sie gerade verstanden - Sie haben gesagt, wir müssen wirklich dafür sorgen, dass die Leute da bleiben, wo sie sind, und dass sie nicht zu uns kommen -, dann ist doch wirklich Ungarn mit seinem Zaun, mit seiner Abschottung im Moment das ehrlichste Mitgliedsland der Europäischen Union.
    Fischler: Das würde ich jetzt nicht bestätigen wollen, denn man muss unterscheiden wie gesagt zwischen jenen Leuten, die schon unterwegs sind, und wenn man sich dann anschaut, wie die Ungarn diese Leute behandeln, das kann wohl keine Flüchtlingspolitik sein, sondern das ist purer Egoismus und das ist reiner Nationalismus, wie sich Ungarn zurzeit verhält.
    Militärisches Eingreifen wäre nötig
    Schulz: Aber was ist denn der Unterschied? In beiden Konstellationen sehe ich "Bitte bleibt weg!" als Mentalität.
    Fischler: Ja! Der Unterschied ist das "Bitte". Das was Deutschland jetzt macht: Wenn der Minister Steinmeier in die Türkei fährt und dort darüber redet, was man tun kann, damit nicht mehr so viele kommen, dann ist das ein "Bitte". Das was die Ungarn machen, da fehlt ganz eindeutig dieses "Bitte", sondern da geht es einfach um Brutalität. Es werden ganz brutal die Leute mit Kerker bedroht, es werden Leute zurückgeschickt, sie werden schlecht behandelt et cetera. Das ist der Unterschied.
    Schulz: Muss sich Europa das nicht eingestehen, wenn wirklich die Zahlen von Flüchtlingen wieder sinken sollen, dass das nicht anders geht als mit Gewalt?
    Fischler: Das glaube ich eben nicht. Es kann schon sein, dass man mehr Ordnungskräfte auch einsetzen muss, aber eben um Ordnung zu schaffen und nicht einfach um Gewalt auszuüben. Und zum zweiten glaube ich: Es ist viel, viel wichtiger und nur so, glaube ich, kann man den Flüchtlingsstrom verdünnen, wenn man den Leuten dort, wo sie herkommen, hilft, dass man dort Maßnahmen setzt, nicht in Form von Grenzzäunen, sondern in Form von Entwicklungszusammenarbeit, in Form von Möglichkeiten, dass diese Leute eher Beschäftigung finden. In einem Punkt allerdings, da wird es früher oder später eine sehr harte Entscheidung geben müssen, nämlich im Zusammenhang mit der Frage, kann man eigentlich diesen Leuten, die dort Bürgerkriege organisieren, einfach dabei zuschauen und kann man diese sich selber überlassen, oder ist hier nicht eigentlich der Punkt, wo die internationale Gemeinschaft eingreifen muss.
    Schulz: Sie meinen militärisch?
    Fischler: Ja.
    "Die Minderheit muss sich dann der Mehrheit fügen"
    Schulz: Wenn wir jetzt noch mal auf die Situation in Europa schauen. Es gibt den nächsten Sondergipfel am kommenden Mittwoch. Die Fronten bleiben so, wie jetzt eigentlich schon seit Wochen und Monaten. Es gibt Länder, die sagen, wir nehmen viele Flüchtlinge, es gibt Länder, die sagen, wir nehmen so gut wie keine oder gar keine Flüchtlinge. Was kann an dieser Ausgangskonstellation denn jetzt der nächste Gipfel ändern?
    Fischler: Ich hoffe, dass es doch gelingt, eine minimale Solidarität unter den EU-Mitgliedsstaaten wiederherzustellen. Dazu gehört auf der einen Seite, dass man doch besser die Flüchtlinge über die europäischen Länder verteilt. Das muss nicht unbedingt eine strikte Quote sein, aber dass die Mehrzahl der Mitgliedsstaaten den wenigen, die die Flüchtlinge aufnehmen wollen, dabei nur zuschauen und nichts tun, das ist unakzeptabel und das widerspricht auch ganz eindeutig den Grundwerten der Europäischen Union.
    Schulz: Aber die Appelle, die sind jetzt ja schon ein bisschen älter, sind bisher aber noch nicht auf Gehör gestoßen. Was soll sich daran ändern?
    Fischler: Die Appelle werden möglicherweise nicht helfen, ja! Daher würde ich glauben, erstens: Man muss aufhören damit zu warten, bis auch der letzte Mitgliedsstaat sich entschließt, bei einer Regelung mitzutun. Es geht hier ja im Prinzip darum, dass Beschlüsse mit qualifizierter Mehrheit gefasst werden könnten, aber das tut man bisher nicht. Ich bin hier der Meinung, da muss man dann auch abstimmen und die Minderheit muss sich dann der Mehrheit fügen. Anders wird man hier auf Dauer nicht zurande kommen.
    Und das Zweite: Wenn sich dann einzelne Staaten immer noch weigern, dann, glaube ich, muss man auch in puncto Finanzierung einer gemeinsamen Flüchtlingspolitik neue Maßnahmen setzen. Man kann ja dann gewisse Fonds von denen, die sich weigern, umleiten zu jenen, die sich nicht verweigern.
    Schulz: Der frühere EU-Kommissar Franz Fischler heute hier im Interview in den "Informationen am Morgen" im Deutschlandfunk. Danke Ihnen.
    Fischler: Ja bitte!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.