Freitag, 29. März 2024

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Europäisches Handgepäck (5/7)
Rot-Weiße Fahnen und haltbare Zäune

Der Zaun im Fürsorgemuseum in Svendborg erinnert an die Zeit, als "würdige" und "unwürdige" Arme streng getrennt wurden, als die Gesellschaft keinen verhungern lassen, aber sich auch gegen Ansteckung durch Asoziale schützen wollte.

Von Mathias Greffrath | 20.05.2018
    Man sieht dänische Polizisten am Grenzübergang Harrislee in Schleswig-Holstein.
    Dänemark kontrolliert wieder die Einreisenden aus Deutschland. (picture-alliance / dpa / Benjamin Nolte)
    Auf den ersten Blick ist Dänemark auch für Mathias Greffrath eine ungetrübte Erfolgsgeschichte: Alles ist sauber, die Menschen zufrieden und der Welt zugewandt. Doch er sieht auch die Kehrseite dieses Saubermann-Images: Er besichtigt eine Einrichtung, in der in früheren Jahrzehnten aus armen Taugenichtsen "wertvolle" Mitglieder der Gesellschaft werden sollten - mit Kasernierung und striktem Regiment. Mittlerweile ist das Haus Museum, seine Geschichte wird aufgearbeitet. Mathias Greffrath erfährt, dass Dänen zu ihrem Sozialstaat ein anderes Verhältnis haben, als es in Deutschland der Fall ist: In Dänemark ist er nicht Dienstleister, sondern die Grundlager aller bürgerschaftlicher Betätigung. So gibt es überall Bibliotheken und gut ausgestattete Altenpflege. Doch das System baut darauf auf, dass so gut wie alle Einwohner arbeiten - da stören Zuwanderer ohne Jobs die Statistik und die Standfestigkeit der Versorgung. Wie in anderen europäischen Ländern auch wird der Ton Einwanderern gegenüber auch in Dänemark schärfer. Der Schriftsteller Kasper Colling Nielsen beschreibt es Greffrath als Folge einer zu Ende geführten Säkularisierung: Die menschliche Fähigkeit zu Neugier und Liebe sei abgestorben. Mathias Greffrath sieht resigniert ein Land in Angst, das sich nur zu gerne in die eigenen vier Wände zurückzieht.
    Das dänische Gefühl fängt gleich hinter der Grenze an. Mehr Platz für die Knie und die Ellbogen im Eisenbahnwaggon. Kleine schwarze Plastiktüten unter dem Sitz, mit dem Merkspruch: "Müll in die Tüte, Tüte in die Hand. Hand aufs Herz. Wo soll das enden. Auf dem Bahnsteig. Im Mülleimer. Danke." An den Stadträndern, rechts und links der Bahntrasse kleine, gepflegte, eingezäunte Gärten und überall die roten Fahne mit dem weißen Kreuz. Keine Graffitti an der Bahnhofswand. Nicht die ekligen Croissants von Crobag, sondern eine duftende Bäckerei und ein sauberer Supermarkt im Bahnhof von Vejle. Superbreite Radwege. Die Kellnerin guckt erstaunt: Sie wollen mit Bargeld zahlen?
    Das dänische Gefühl ruht auf soliden Zahlen: die höchsten Mindestlöhne, die bestausgestatteten Schulen, die niedrigste Arbeitslosigkeit, der geringe Abstand der Einkommen, die höchste Zufriedenheit, die glücklichste Bevölkerung - aus diesem Land kommen nur Erfolgsmeldungen. Außerdem haben sie ihre Juden geschützt, und großzügig Boat-People aus Vietnam aufgenommen und deutsche Kommunisten nach 1933 und Radikale, die in Deutschland nach 1972 nicht in den öffentlichen Dienst durften. Ein Land, das 80 Jahre lang von einer Sozialdemokratie geprägt wurde. Die zehn reichsten Dänen: kein Spekulant darunter, nur produzierendes Kapital. Sie haben es sich erarbeitet, das dänische Gefühl. Es war nicht immer so.
    Das Bild zeigt einen Hof, der hinten von einer Mauer und vorne durch einen Zaun umgrenzt ist. Auf einem Tor im Zaun ist auf einem Schild "Eingang" zu lesen.
    Das Fürsorgemuseum in Svendborg (Deutschlandradio / Mathias Greffrath)
    Die Mauer ist solide gemauert, mehr als mannshoch, schwer zu überwinden, auch ohne den Stacheldraht, der sie früher krönte. Die Mauer trennte die Arbeitsamen von den "arbeitsfähigen, aber faulen und unwilligen Subjekten". Die Mauer zerteilt den Hof der ehemaligen Fattig-og Arbejdanstalt, einer Fürsorgeeinrichtung der dänischen Kleinstadt Svendborg im Süden der Insel Fünen. Als sie 1872 in Betrieb genommen wurde, ein hochmoderner Versuch, den Armen aus der Schande heraus zu helfen: mit Arbeit, Beten, Enthaltsamkeit. Wer würdig war, dessen Fenster blickten in die Stadt, wer asozial war, der schaute auf den Hof. Dreizehn Stunden am Tag mussten die Insassen für ihre Unterkunft und das Essen arbeiten, der Ausgang war streng reglementiert. Die letzten Insassen wurden 1974 umquartiert. Seitdem ist Fattig‑gården ein Museum - ein Museum über die Frühzeit des dänischen Sozialsystems. Ein helles, ein freundliches Museum, nicht vollgestopft. Eine Zigarrenkiste voller Sturmfeuerzeuge - die den Rauchern abgenommen wurden; ein Männer‑Magazin aus den 50er‑Jahren, mit üppigen, aber wohlbekleideten Frauen; eine Blechdose mit einem Schlitz - die Bank der Armen. Die Arrestzellen, die Arbeitsräume, in denen die Fußmatten aus Kokosfasern gewebt wurden, auf einen Tisch in der Ecke hunderte Holzstäbchen von Lutschern und Eis am Stiel: Auf einem alten Foto reinigt ein Insasse der Anstalt solche Stäbchen, sortiert sie und bindet sie zusammen, damit sie der Produktion wieder zugeführt werden. Ich kann nicht widerstehen, stecke mir einen der Lollysticker ein. Handgepäck aus dem Sozialstaat, Erinnerung ans Armenhaus.
    Auf dem Boden eines kahlen Raums sind zahlreiche Holzstäbchen von Eis am Stil und Lutschern verstreut.
    Die "Lollysticker" (Deutschlandradio / Mathias Greffrath)
    Ein Raum ist dem dänischen Obdachlosenmagazin "Hus Forbi" gewidmet und einer der Statistik. Von 1999 bis 2011 hat sich die Zahl der offiziell Armen in Dänemark mehr als verdoppelt. "Was sind das für Menschen, die über Armut in Dänemark klagen, wo doch Millionen in der Welt verhungern?", an der Wand das Zitat des liberalen Abgeordneten Joachim B. Olsen, der gerade die Erbschaftssteuer abschaffen will. Daneben ein Block mit gelben Klebezetteln, man darf, man soll kommentieren - und das geschieht reichlich: "Du hast doch keine Ahnung", entziffere ich.
    "Wir sind nicht nur Ausstellung", sagt Esben Hedegaard, der Direktor des Museums, mit dem ich in der konservierten Amtswohnung des letzten Armendiakons sitze. "Wir haben die Geschichte der Nachkriegskinderheime aufgearbeitet, den Missbrauch, die Prügel, die psychiatrischen Experimente, das ist alles noch nicht so lange her." Auf einer interaktiven Plattform konnten die Sozialwaisen, die sich ja nur mit Vornamen kannten, recherchieren, was aus ihren Freunden geworden ist. Bei der Planung von Ausstellungen lädt das Museum Experten ein - nicht Professoren, sondern Obdachlose, Ex‑Alkoholiker, Fürsorgeklienten. "Wer, wenn nicht die, weiß wie es ist", sagt Hedegaard. "Sie machen auch Führungen hier und auch das verändert ihr Leben noch einmal. Vor der Kommunalwahl haben wir ein Hearing über Armut gemacht, die Lokalpolitiker eingeladen, nicht sie durften reden, sondern die Armen, und die Politiker mussten zuhören, die Referenten kamen von der Straße."
    Die Wurzel: Ein Bischof
    Eine Statue des Bischofs, Autors, Philosophen und Historikers Frederik Severin Grundtvig (1783 – 1872) in Kopenhagen.
    Frederik Severin Grundtvig (imago)
    Im Museumsshop kaufe ich eine schwarze Tragetasche. "Die haben wir zum Ersten Mai bedrucken lassen", erklärt mir der freundliche Kassierer Henrik. Es sollen "wenige zu viel und eben so wenige zu wenig haben" steht darauf - ein Satz von Frederik Severin Grundtvig. "Der ist für uns so etwas wie Goethe bei Ihnen." Ich hatte von Grundtvig noch nie etwas gehört, aber ohne diesen Bischof, Schriftsteller und Philosophen kann man das dänische Gefühl kaum verstehen, In diesem Land ist die Sozialdemokratie aus dem pietistischen Protestantismus hervorgegangen. Aus Grundtvigs Praxis, aus der Armenpflege, aus der Einrichtung der dänischen Volkshochschulen (von denen es immer noch 100 gibt), aus den Genossenschaften, dem sozial aktiven Christentum und einer Vorstellung von Demokratie, in der auch die gewöhnlichen Menschen gleichberechtigt würden mit den "Gescheiten, Gebildeten und Wohlhabenden", wie Grundtvig es formulierte.
    Der Egalitarismus des dänischen Systems, die konservative Fürsorgementalität, die milde Gleichheit im Umgang miteinander - das sind die emotionalen Grundlagen auch noch des heutigen Sozialstaats. Der wird hier nicht als Dienstleister begriffen, sondern als Voraussetzung der Bürgerschaftlichkeit: Nur wer frei von Sorge ist, kann Bürger sein. Deshalb zahlen Dänen nicht nur mehr Steuern als andere Europäer, sondern, wenn man sie fragt, sie zahlen sie auch gern, betrachten sie als Investition ins gute Leben.
    So jedenfalls war es bis vor kurzem. Seit den 90er‑Jahren, sagt Hedegaard, schleiche sich etwas ein. An die Stelle der Solidarität trete immer stärker das Gefühl, nicht genug zu haben, die Angst, etwas zu verlieren. Schwer zu messen, aber spürbar. "Vielleicht", so überlegt der Direktor des Fürsorgemuseums, "vielleicht liegt es ja daran, dass die Zeit der Not so lange her ist. Ich bin in den 70er‑Jahren zur Schule gegangen, Armut war damals noch nicht so weit entfernt. Meine Mutter kam vom Bauernhof. Und die wusste noch, wie es ist, wenn man hungrig zu Bett geht."
    Ein System "unter Stress"
    Zei junge Männer helfen auf einem Bauernhof und tragen Kornähren.
    Ein dänischer Bauernhof im Jahr 1953 (imago)
    Auch der Ökonom Torben Andersen, den ich in Aarhus besucht hatte, sieht das System unter Stress. Mit dem liberalen deutschen Hans Werner Sinn hat er das dänische Sozialmodell analysiert. Titel: Zu schön, um wahr zu sein? Andersen lacht: Der Sinn wollte gar nicht glauben, dass man mit so hohen Staatsausgaben dennoch ein so solides Wirtschaftswachstum verbinden kann. Aber der öffentliche Sektor ist auch einer der Gründe dafür, dass Dänemark die Krise der 90er‑Jahre relativ unbeschadet überstanden hat. Die dänische Qualität der kommunalen Dienste - fünfmal so viel beschäftigte, zehnmal so viel Ausgaben wie in Deutschland (auf die Gesamtbevölkerung gerechnet) steigert nicht nur die Lebensqualität, sondern stabilisiert auch die Beschäftigung.
    Und das hohe Maß an Konsensbereitschaft hat die berühmte dänische Flexicurity ermöglicht: Dänische Arbeitnehmer können leicht gekündigt werden, erhalten aber über 80 Prozent ihres Gehalts als Arbeitslosengeld und eine effektive Arbeitsverwaltung und die gute allgemeine Ausbildung sorgen dafür, dass sie schnell wieder in Arbeit kommen. 20 Prozent der Arbeitnehmer wechseln so jedes Jahr ihren Arbeitsplatz. Und wo in der Welt sonst noch gibt es eine Gewerkschaftschefin, die der "Financial Times" einen Brief schreibt, in dem sie das Sozialmodell ihrer Regierung preist? "Es gibt", sagt der Ökonom Andersen, "es gibt bei uns keine hässlichen Kapitalisten, die den öffentlichen Sektor abbauen wollen, und niemand will die Steuern senken - bis auf ein paar Ultras". Das System ruht auf qualifizierten Arbeitern - weswegen der Mindestlohn etwa anderthalb mal so hoch ist wie bei uns. Und: Es funktioniert nur, wenn die überwiegende Zahl der Menschen in Beschäftigung ist und die hohen Steuern zahlt. Der unqualifizierte Arbeitslose passt nicht ins System. Der unqualifizierte Arbeitslose aber: Das ist der Migrant.
    "Aber warum sollten wir sie nicht reinlassen?" hatte Henrik, der freundliche ältere Herr im Museumsshop in Svendborg gesagt und dabei ein wenig verschmitzt gelächelt. "Ich lese immer nur, dass uns im Jahr 2030 70.000 Handwerker fehlen sollen. Wir haben die Hugenotten reingeholt und dann die Polen, warum denn nicht die Menschen aus den, wie sagen die Politiker immer, den 'nicht-westlichen Ländern'?"
    Und das Kopftuch? Wieder lächelte er breit: "Bei dem ständigen Wind in Dänemark ist das ein sehr nützliches Bekleidungsstück."
    Ein Dorf für die Älteren
    Ove macht gerade Mittagsschlaf. Aber draußen warten schon zwei seiner Hühner auf ihn und scharren im Sand. Wenn Ove aufwacht, wird er vielleicht eine Runde auf seinem Hometrainer drehen, der hinter dem Sofa steht, dann in seine Küche gehen und danach den Hühnerstall reinigen. Wenn es noch ein wenig wärmer wird und die Erde locker, wird ein Gemüsegarten entstehen mit Beeten für Karotten, Kartoffeln, Salat. Und vor dem Bauwagen werden sie dann alle miteinander grillen. Die grüne Mulde mit dem Teich und dem Bach wird einem Dorfanger immer ähnlicher. Nur, um den Anger herum wachsen ein paar Hecke, und hinter den Hecken ein Zaun. Damit niemand verloren geht. "Der Zaun ermöglicht ihnen freie Bewegung", sagt Annette Søby, die Projektleiterin der Demenzstadt Bryghuset. 125 Menschen wohnen hier, fast alle leiden an Alzheimer. Bryghuset liegt auf dem Gelände einer ehemaligen Brauerei; als die zu einem Pflegeheim umgebaut werden sollte, ist Annette Søby mit vier Kolleginnen nach Holland gefahren; sie habe sich die Einrichtung in Holland angeschaut, in der Demente wie in einem Dorf leben, und dann beschlossen, etwas ähnliches auch hier in Svendborg aufzubauen. Die Projektleiterin zeigt mir den Frisörsalon, den Fitnessraum, das Herrenzimmer mit dem Ölgemälde der notorischen Zigeunerin, der Dartscheibe und den Spielautomaten. "Na ja, das war vielleicht eher unsere Fantasie über ältere Männer", lacht sie, "aber sonst haben wir schon drauf geachtet, dass wir es so einrichten, wie die Bewohner es wollen und nicht so, wie wir denken, dass sie es wollen."
    Ein Zimmer mit einem schwarzen Sessel, dem Gemälde einer Zigeunerin und einer Dartscheibe.
    Das Herrenzimmer in der Demenzstadt in Bruyghus (Deutschlandradio / Mathias Greffrath)
    Fast dreimal soviel Steuergeld wie in Deutschland ist den Dänen ein würdiges Lebensalter wert. Das macht sich vor allem im Personalschlüssel bemerkbar: Im Bryghuset kommen 120 Betreuer und drei Krankenschwestern, die in Schichten arbeiten, auf die 125 Bewohner. Die Bewohner zahlen Miete und Essen, rund 2.000 Euro im Monat - selbst einem Sozialrentner ohne weiteres Vermögen bleiben da noch 500 Euro Taschengeld. Und die Pflege wird in voller Höhe von der Gemeinde getragen - überall in Dänemark.
    In dem geräumigen Restaurant - es ist so eingerichtet, dass mir das Wort Speisesaal nicht in den Kopf kommt - unterhalten sich noch ein paar Bewohner lebhaft. "Dass sie dement sind, würdest du erst merken, wenn du ein paar Minuten mit ihnen redest und es wiederholt sich", sagt Annette. "In diesem Saal findet jede Woche einmal Live-Musik statt, dann tanzen wir und trinken ein paar Schnäpse."
    Sie sagt "Wir", die Projektleiterin Søby, das fällt mir auf. Aber - Schnäpse im Altersheim?
    "Ja, warum denn auch nicht?" Sie sieht mich etwas ratlos an. "Wieso sollen wir denn nichts trinken? Wir lieben es gern gemütlich." Dann sagt sie wirklich das Zauberwort. "Wir haben es gern hyggelig. Ich weiß nicht, ob du das Wort kennst."
    Hyggelig
    Es sich hyggelig machen, das heißt natürlich auch: Tür zu . Um 17:30 Uhr sind die Straßen von Svendborg leergefegt. Die Geschäfte schließen um diese Zeit, die Dänen sind daheim. Nur vor der Hafenbar sitzen noch ein paar dubiose Gestalten mit Bierflaschen und blinzeln in die Frühlingssonne. Es ist warm, und so radle ich zum reetgedeckten Bauernhaus am Skovbostrand, vier Kilometer außerhalb. Hier wohnte Bertolt Brecht mit Helene Weigel und seinen Mitarbeiterinnen Ruth Berlau und Margarete Steffin, von 1933 bis 1939. Hier entstanden das Leben des Galilei, Furcht und Elend des Dritten Reiches und die Svendborger Gedichte. Zum Beispiel dieses:
    Über die Bezeichnung Emigranten
    Immer fand ich den Namen falsch, den man uns gab: Emigranten.
    Das heißt doch Auswandrer. Aber wir
    Wanderten doch nicht aus, nach freiem Entschluss
    Wählend ein anderes Land. Wanderten wir doch auch nicht
    Ein in ein Land, dort zu bleiben, womöglich für immer.
    Sondern wir flohen. Vertriebene sind wir, Verbannte.
    […]
    In den 80er‑Jahren dann hat die Kommune Svendborg das Haus gekauft, ein Museum hat sie dem Kommunisten Brecht denn doch nicht widmen wollen, so wurde das Haus zu einem Aufenthaltsort für Schriftsteller. Es steht nicht mehr so einsam wie in den 30er‑Jahren, und ein paar 100 Meter weiter liegt eine dieser graugestrichenen Wohnanlagen in Strandnähe - wie überall in Europa - und rundherum viele rote Dänenfahnen, selbstverständlicher kommen sie mir vor, nicht so ostentativ wie unsere Kleingartenbeflaggungen. Ein frischer Baumstumpf glänzt hell - war das der Birnbaum, unter dem Brecht und Walter Benjamin Schach spielten?
    "Es ist hier angenehm", so hatte Brecht Benjamin eingeladen. "Gar nicht kalt, viel wärmer als in Paris. [...]Wir haben Radio, Zeitungen, Spielkarten, Öfen, kleine Kaffeehäuser, eine ungemein leichte Sprache, und die Welt geht hier stiller unter. [...] Außerdem verschafft einem die Svendborger Bibliothek jedes Buch."
    Ein langgezogeses weißes Fachwerkhaus, umringt von Wiese und Bäumen.
    Das Wohnhaus Brechts in Svendborg (Deutschlandradio / Mathias Greffrath)
    Bücher für alle
    Zwei Drittel der Dänen nutzen öffentliche Bibliotheken. Seit 1920 gibt es in Dänemark ein Büchereigesetz, das alle Kommunen verpflichtet, öffentliche Büchereien vorzuhalten. Es garantiert den Bürgern den freien Zugang zu Kultur und Informationen.
    Die prächtige moderne Bibliothek von Aarhus, direkt am Hafen, sieht ein wenig wie ein Terminal aus, mit der Rolltreppe geht es in die Eingangshalle und dann in einen ganzen Kontinent von Lernlandschaften. Auf den bequemen roten Couches schmökern Menschen aller Altersstufen, an den Tischen wird wissenschaftlich gearbeitet oder im Internet recherchiert, in einer schalldichten Koje, mit weichen Teppichen ausgelegt, können Kinder oder Liebespaare sich Märchen anhören, in einem "Maker-Space" ist eine Gruppe von 12jährigen grade dabei, Computerspiele - auch die werden hier reichlich angeboten - selbst zu entwickeln.
    Ein langgezogener, heller Raum in einem modernen Gebäude. In der Mitte ein paar Regale mit Büchern, im Vordergrund liegt ein junger Mann auf einer Couch und liest.
    Die Bibliothek DOKK 1 in Aarhus (Deutschlandradio / Mathias Greffrath)
    "Da oben", sagt Marie Østergård, Direktorin der Zentralbibliothek, "da oben sitzen ein paar Start-ups und planen ihre nächsten Aktionen, das habe ich auch erst jetzt gemerkt. Nicht jeder, der jung ist und einen Computer hat, ist ein Student." DOKK 1 ist ein Forum, ein Freiraum, eine vielfältige Werkstatt für alle Bürger der Stadt. Dies ist die größte Bibliothek Skandinaviens, aber sie hat auch einen Yogaraum, einen Turnraum für Kinder und vieles mehr. Im Erdgeschoss kann man seinen Ausweis abholen, seinen Führerschein verlängern; Behördendinge aller Art erledigen.
    Einen Abend lang sitze ich in einer der Nischen, erledige meine Mails, lese Zeitungen in diesem schönen überdachten dänischen Forum; um kurz vor neun eine freundliche Ansage: "Die Bibliothek wird geschlossen, aber Sie können noch bis 22:00 im Wohnzimmer bleiben." Wohnzimmer, das ist die Hälfte des Erdgeschosses, wo man in einem der roten Sessel zu Ende lesen kann oder noch einen Kaffee trinken. Ab jetzt ist nur noch ein Techniker im Haus, der schließt dann ab. Dann und wann schlägt eine große Glocke an im zweiten Stock: Aarhuser wissen: Jetzt ist in einem der Krankenhäuser der Stadt ein neuer Bürger geboren worden, die Eltern dort haben auf einen Knopf gedrückt, um das schöne Ereignis hier auf dieser Bürgerbildungsinsel im Hafen publik zu machen.
    "Ein Bürokrat für das Schöne"
    "Neuseeland und wir liegen in der Digitalisierung ganz vorn. Die Bürger kriegen keine Post mehr von uns, jedenfalls 90 Prozent der Bürger. Nur noch wer will." Hosea Dutschke ist gerade im Büro angekommen, mit dem Fahrrad, er ist der Chef von 7.000 Angestellten im Gesundheits- und Pflegewesen der Stadt Aarhus. Dutschke, so sagt er es gern von sich, ist Bürokrat. Und einer, der Effizienz liebt: "Da liegen wir im Weltbank-Ranking auf Platz drei." Da spricht Stolz. Hinter seinem Schreibtisch im Rathaus von Aarhus ein großes Gemälde in grau und weiß: eine Arbeitsgruppe von Männern, die miteinander diskutieren, sich verabreden, sich streiten: Verschwörer, Politiker, Manager. "Ein bisschen 'kafkaesk'", sagt Dutschke, auf dem Schreibtisch liegt ein Rugby‑Ball. In seinem Buch "Rudi und ich", einem sehr intimen und klugen Buch der andauernden Trauer und Erinnerung an seinen Vater Rudi Dutschke, findet sich der Satz: "Ich bin dafür angestellt, den amtierenden Volksvertretern bei der Umsetzung ihrer Politik zu helfen. Das ist Demokratie - und das ist schön. Ein Bürokrat für das Schöne zu sein ist nicht das Schlechteste." Auch die Pflegeheime in Aarhus, die ich besucht habe, waren lebendiger als diejenigen in Deutschland, die ich kenne. Mehr Wirbel auf den Fluren, mehr sichtbares Personal, die Gemeinschaftsräume weniger steril, das Essen frisch zubereitet. Es wurde gesungen und die Räume waren offen.
    Hosea Dutschke
    Hosea Dutschke (Deutschlandradio / Mathias Greffrath)
    Hosea Dutschke glaubt an das dänische System der Pflege. Es gehe einfacher, wenn es der Staat in der Hand hat. "So entfällt", so sagt er, "der Einfluss der Versicherungswirtschaft, die Vielzahl der Unternehmer, die Gewinn machen müssen. Es bleibe das Problem mit der Bürokratie und vor uns liege das Problem einer älter werdenden Gesellschaft und knapper Mittel. "Aber mit Rationalisierung und Technik werden wir einiges auffangen können", sagt er, "und wir werden uns wohl auch an Pflegeroboter gewöhnen müssen."
    Natürlich reden wir über Flüchtlinge und Migranten und die öffentliche Meinung. Von Dutschkes 7.000 Mitarbeitern sind 13 Prozent aus Ländern der dritten Welt - der offizielle Sprachgebrauch in Dänemark: aus dem nichtwestlichen Ausland - das entspricht etwa ihrem Anteil in der Stadt und Probleme gebe es da keine großen. Aber natürlich wachse hier ein Problem heran mit denen, die nicht integriert sind. Wie genau sich hier Fremdenfeindlichkeit und Angst um den eigenen Wohlstand mischen, im Einzelnen, das kann niemand genau sagen, es wird beides sein. Aber im Vordergrund steht in den Gesprächen, die ich führe, immer das kühle materielle Argument: Wenn 80 Prozent der Dänen arbeiten und einzahlen, aber nur 50 Prozent der Migranten Arbeit haben, dann ist das eine Belastung.
    Die Parteien, sagt Dutschke, hätten das Problem lange verdrängt. "Nun hat uns die Dänische Volkspartei - mit ihrer massiven Anti-Migranten-Politik - aber gezwungen, uns ehrlich zu machen. Hier in Dänemark wird jetzt endlich wenigstens über das Problem geredet. Die Schweden lügen sich immer noch etwas in die Tasche." Die Schweden - hatte Dutschke das gesagt? - die Schweden gelten in Dänemark als die Deutschen Skandinaviens und sie selbst sehen sich gern als die Italiener das Nordens.
    Migranten als "Münze"
    Die Migrationsfrage ist in Dänemark - wie in fast allen europäischen Ländern - zur Münze im parteipolitischen Kampf um Prozente geworden. Mehr als 60 Veränderungen im Ausländer- und Asylrecht sind unter der jetzigen Regierung, unter dem Druck der Volkspartei beschlossen worden. Für radikale Sprüche gibt es die schnellsten Schlagzeilen. Oft sind das nur publikumswirksame Parolen, die - jedenfalls bis jetzt - ohne Chance auf Verwirklichung sind. Ob nun die Volkspartei im Europarat vorschlägt, Menschenrechte in vollen Umfang nur noch dänischen Staatsbürgern zu gewähren - um die Abschiebungsbarrieren zu senken, oder ob es kleine Nadelstiche sind, mit denen das gesichtsverbergende Tragen von Mützen, Schals oder Kopftüchern unter Strafe gestellt werden soll. Oder der ohnehin sinnlose Plan, mit einem kilometerlangen Zaun den Übertritt von Wildschweinen nach Dänemark zu verhindern, der den Sprecher der Dänischen Volkspartei zur Bemerkung veranlasste, man könne den Zaun ja auch noch ein wenig höher bauen, um auch andere am Grenzübergang zu hindern. Ob der Ghettorede des Ministerpräsidenten, der Migranten aus tatsächlichen oder vermeintlichen Brennpunkten evakuieren will, um das Mischungsverhältnis von Migranten und ethnischen Dänen zu verbessern, Taten folgen werden, ist noch ungewiss - das Parlament muss die Mittel dafür erst bewilligen. Aber die Stimmung hat sich gedreht. Außer der kleinen linksgrünen Einheitspartei wollen alle politischen Gruppierungen Migration ganz verhindern und Asyl erschweren. Am radikalsten gedreht haben sich die Sozialdemokraten. Von deren Parteivorsitzender Mette Frederiksen kam der Vorschlag: Wer in Dänemark Asyl beantrage, der solle in ein Lager "außerhalb von Europa" verbracht werden, dort sollten dann die Anträge geprüft und von dort aus sollen die Asylbewerber in ihre Herkunftsländer abgeschoben werden. "Der neue Freiheitskampf" heißt das Programm, das den Wohlfahrtsstaat bewahren soll.
    Lagerpläne
    Feist und selbstzufrieden ist der Mann mit Vollbart am Cafétisch, ihm gegenüber kichert eine kindlich-blöde Frau. Der Kellner bringt ein Stück Torte, der Mann füttert die Nymphe, die sich unter dem Tisch selbst befriedigt, beide stöhnen, der Kellner und einige ältere Damen in dem Café werfen indignierte Blicke - am Nebentisch sitzt ein Mann und beobachtet die Szene, schmunzelt und schreibt in ein Notizheft. Es ist der Schriftsteller Kaspar Colling Nielsen, und die ganze Kaffeehaus-Szene ist ein Werbespot für Nielsens Bestseller "Der europäische Frühling": ein dystopischer Roman über Spielarten westlicher Dekadenz: Die Wissenschaftlerin im Roman arbeitet an der Unsterblichkeit der weißen wohlhabenden Rasse und der Herstellung von intelligenten, sprachfähigen Haustieren; der Künstler - der fette Mann im Werbespot - vögelt sich mit der grenzdebilen Minderjährigen durch das Buch; der reichgewordene Expunkrocker und Galerist kleidet sich in Loden von Manufactum und wendet sich entschlossen einer komfortablen Naturidylle zu. Technischer Wahnsinn, hedonistische Dekadenz und verlogene Romantik: Die Oberschicht Europas zieht in gated communities und baut Zäune gegen den anbrandenden Süden.
    In diesem Buch errichten die dänischen Sozialdemokraten - noch bevor Mette Frederiksen in der politischen Wirklichkeit ihren ernst gemeinten Vorschlag machte, als Reaktion auf die zunehmenden ethnischen Kämpfe in den europäischen Staaten Auffanglager für afrikanische Migranten in Mozambique: eine Containerstadt, in der sie eingezäunt, bewacht und von dänischen NGO‑Idealisten betreut werden - die wird man dabei dann auch noch gleich los.
    Nielsen ist von Sozialdemokraten gelobt worden, er befördere eine notwendige Diskussion. Das Buch wurde zum politischen Knüller, verkaufte sich gut, und kommt nicht ohne etwas kalkulierte pornographische Pointen aus.
    Nach den plakativen Verbevideos hatte ich einen eitlen Bestsellerautor erwartet, aber Kaspar Colling Nielsen, den ich in Kopenhagen treffe, ist ein Linker, der in der anbrechenden neuen Weltordnung für linke Politik keine Chancen mehr sieht, ein ruhiger, aber nervöser Mann, tief verzweifelt über die Zukunft der Welt, des Kontinents, Dänemarks, der Menschen.
    Der Autor Kasper Colling Nielsen
    Kasper Colling Nielsen (Foto: Isak Hoffmeyer)
    "Das westliche Zivilisationsmodell ist zusammengebrochen", sagt Nielsen und raucht eine Zigarette nach der anderen. Wir trinken Kaffee, im Hinterhof seines Verlagshauses Gyldendal, dem ältesten und renommiertesten Dänemarks. "Der Humanismus, in dem wir großgeworden sind, an den wir geglaubt haben, ist zusammengebrochen. Und die Idee, dass die ganze Welt so denken und so leben wird wie wir und unsere Idee der Menschenrechte teilt, die ist gescheitert. Vielleicht wollen diejenigen, die kommen, auch gar nicht so leben wie wir. Was immer wir tun, wir geben uns auf: Wenn wir unsere Grenzen öffnen, werden hunderte von Millionen kommen, von Not und Katastrophen getrieben; und wenn wir sie schließen, verraten wir unsere Werte." Und dann holt er aus, zu einem knappen Blick auf die Dimensionen seiner Desillusionierung.
    "Ich bin von Haus aus Ökonom, aber ich begreife das Bankwesen nicht mehr; ich benutze das iPhone, aber ich kann mir nicht mehr vorstellen, wo die sozialen Netzwerke uns hinführen. Es gibt keine einzige politische Partei, die sich für die Flüchtlinge einsetzt, sie sehen nicht einmal mehr hin, sie machen keinen Unterschied zwischen Asylbewerbern, Flüchtlingen, Migranten. Und dann der Medienzynismus. Ja, es ist schlimm, wenn zehn oder hundert im Mittelmeer ertrinken, aber die hunderttausende, die in Südsahara leiden und sterben - das ist keine Größe mehr, die wir begreifen."
    "Wir brauchen realistische Lösungen"
    Irgendwie - es ist ungefähr die sechste Zigarette in einer Stunde - sei es auch sinnlos geworden, zu kritisieren, wenn man keine Alternativen anbieten könne. "Neulich habe ich einen Vortrag bei Amnesty gehalten: Wir auf der Linken müssten realistische Lösungen anbieten, habe ich gesagt, sonst machen es die anderen. Das ist nicht gut angekommen. Die glauben immer noch, es sei nur rechte Propaganda zu sagen, man könne nicht alle reinlassen." Früher habe er an Kunst geglaubt, aber das war die Kunst, die noch Kraft hatte, weil sie religiös inspiriert war, die Menschen verbunden, Gemeinschaft gestiftet hat, jetzt sei sie von Individualisten und oft genug kranken Genies betrieben. "Die Säkularisierung ist zu Ende gebracht und die menschliche Fähigkeit zu Neugier und Liebe stirbt ab. Jetzt fangen sie an, Genmanipulation und Informationstechnik zu kombinieren, wir bräuchten einen großen neuen Philosophen, um das alles zu verstehen."
    Der Aschenbecher ist voll, wir brechen auf. "In letzter Zeit", sagt Nielsen, "denke ich oft darüber nach, was das Böse ist, und wo es her kommt. Ich denke, es gibt das Böse wirklich. Wir können so vieles verstehen, mit dem Kopf, aber die Gefühle kommen einfach nicht hinterher." Als letztes hat er ein Theaterstück geschrieben, in dem die Wölfe in die Stadt eindringen und mit nichts zu bekämpfen sind - außer mit Poesie. Wenn man ihnen Gedichte vorliest, fliehen sie. In seinem Roman, dem Europäischen Frühling sind es genmanipulierte sprechende Hunde und schreibende Elstern, die über Menschen- und Tierrechte philosophieren und über Angst - die unbegründete Furcht, die Furcht vor etwas, das wir nicht erkennen.
    Der Begriff Angst, das war das zweite große Buch von Søren Kierkegaard, der vor 200 Jahren im ersten Stockwerk dieses ehrwürdigen Verlagshauses Gyldendal die Borgerdyd School besuchte, die Schule für Bürgertugenden. Alles kommt darauf an, auch das hat Kierkegaard geschrieben, "was es heißt, Mensch zu sein, und zwar nicht, was es heißt, überhaupt Mensch zu sein, sondern was es heißt, dass du und ich und er und sie, dass wir jeder für sich Menschen sind." Eine Frage, die sich jeder in seinem Leben stellen müsse, allein stellen - auch wenn er sie gemeinschaftlich mit anderen beantwortet.
    Nein, wir finden keinen schönen Abschluss. Nielsen schließt sein Fahrrad auf, wir gehen die Straße entlang, er zeigt mir das Café in der Buchhandlung Busck. Im Eingang liegen drei große Stapel mit den Büchern von Meik Wiking, dem Direktor des Kopenhagener Glücksforschungs-Instituts. Was ist Hygge? Was ist der Weg zu Hygge? Macht Hygge glücklich? Es geht um Kerzen auf den Tisch, um das Reduzieren von Ansprüchen, um die Freude an kleinen Dingen: die Möbel, das Sonnenlicht, das Smørrebrød, die Wellen des Ozeans und: nicht zu oft in die sozialen Netzwerke schauen. Ich fürchte, mit Hygge werden die Dänen, aber auch wir, die Angst nicht loswerden vor der Veränderung. Angst kommt ja gerade dann auf, wenn man so stark ist, dass man eigentlich nichts mehr befürchten muss, so wie es in Nielsens Roman die intelligente Elster sagt. Angst ist die Flucht vor der Furcht, die hinsieht.
    Auf sechs Reisen sucht Mathias Greffrath nach dem, was die Europäer noch miteinander verbindet und macht eine fragmentarische Bestandsaufnahme. Gibt es ein gemeinsames kulturelles Erbe und nicht nur politisch ausbeutbare Identitäten? Wie steht es um die kulturellen und wissenschaftlichen Errungenschaften, die Europa geformt haben, und die wir - in verwandelter Form - in die Zukunft mitnehmen müssen? In diesem Fall als Handgepäck - unauffällige Gegenstände, die man einsteckt im Vorübergehen, als Merkzeichen, als Erinnerungen, als Fetische der Zukunft.