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Europas Krise
Was vom Westen übrig bleibt

Diktaturen breiten sich aus, Demokratien geraten in die Krise, Populisten feiern Erfolge. Der Westen ist schwach wie nie zuvor. Warum es dem europäisch-amerikanischen Bündnis an Zusammenhalt fehlt und wer die Wertegemeinschaft doch noch retten könnte, das beschreibt der amerikanische Journalist und Politikberater William Drozdiak in seinem Buch "Der Zerfall".

Von Martin Winter | 16.10.2017
    Eine zerrisssene Europaflage an einem Fahnenmast.
    Es steht viel auf dem Spiel für Europa. (picture alliance / dpa / Jen Kalaene)
    Mit dem Westen geht es unverkennbar bergab. Schon am Ende des vergangenen Jahrhunderts fragte mancher sich besorgt, ob und wie der Westen in der unübersichtlicher gewordenen Welt weiter eine bestimmende Rolle spielen kann. Aber weder der Umbau der Nato noch der Ausbau der Europäischen Union haben seinen Zerfall gestoppt. Im Gegenteil. Die Politik- und Wertegemeinschaft zwischen den freiheitlichen Demokratien Nordamerikas und Europas, die während des Kalten Krieges für transatlantische Sicherheit und globale Stabilität zugleich gesorgt hat, scheint ihrem Ende entgegen zu taumeln. Kühl beschreibt William Drozdiak in seinem Buch "Der Zerfall" die Lage:
    "Das atlantische Bündnis treibt seit dem Ende des Kalten Krieges quasi ziellos dahin, Europa und den Vereinigten Staaten fehlt es an Zusammenhalt und einem gemeinsamen Zweck, der sie vor dem Zusammenbruch des Sowjetreiches verband."
    Dieser Verlust des gemeinsamen Gegners spielt gewiss genauso eine Rolle beim Auseinanderdriften des Westens wie der Aufstieg neuer großer Mächte wie China oder Indien.
    Schwachpunkt Europa
    Den Kern der Krise verortet Drozdiak aber im Westen selbst, vor allem in Europa. Die USA könnten ihre globale Führungsrolle nur mit einem starken Europa an ihrer Seite spielen. Doch dieses starke Europa gebe es nicht. Der alte Kontinent sei ein Raum der Unsicherheit geworden. Quer durch die Europäische Union sieht Drozdiak Anzeichen von Zerfall. Er kennt Europa wie wenige andere Amerikaner. Lange berichtete er für die renommierte Washington Post aus Paris und Brüssel, er engagierte sich in transatlantischen Stiftungen und ist heute ein gefragter Politikberater.
    Nun ist es kein Geheimnis, dass die Europäische Union durch schwere Zeiten geht. Wer wüsste das besser, als die Europäer selbst, die inzwischen fast atemlos immer wieder neue Anläufe unternehmen, ihre Probleme in den Griff zu bekommen. Ob ihnen das gelingt, das entscheidet aber nicht nur über ihre eigene Zukunft, sondern zugleich über den Kurs der Welt. Die Europäer hätten es in der Hand, ob der Westen als ein Konzept von Demokratie und Freiheit überlebt, schreibt Drozdiak.
    "Tatsächlich könnte das Schicksal dieses stark gefährdeten, weil zerfallenden Kontinents über das zukünftige Überleben der westlichen Demokratie angesichts überwiegend autoritärer Regierungsformen auf der Welt entscheiden."
    In der Tat. Viele Regionen in Asien, in Afrika oder in Lateinamerika, die nach dem Ende des Kalten Krieges großes Interesse an dem europäischen Modell hatten, werden sich frustriert von ihm abwenden, wenn die Europäer weiterhin so schludrig mit ihm umgehen. In dem Maße, in dem Europa versagt, werden autoritäre Politikansätze attraktiv.
    Gefahr des Isolationismus
    Natürlich kann Europa den Westen nicht alleine retten. Die Amerikaner müssen das Ihre dazu beitragen. Unter der Regierung von Donald Trump ist das gegenwärtig eher nicht der Fall. Drozdiak sieht das sehr wohl. In einem eigenen Kapitel erinnert er seine Landsleute daran, dass die USA immer einen sehr hohen Preis bezahlen mussten, wenn sie der Versuchung nachgaben, sich von der Welt zu isolieren. Aber es geht ihm vor allem darum, den europäischen Problemen auf die Spur zu kommen und einen Weg zu finden, wie sie unter Kontrolle gebracht werden können.
    Ein Jahr lang reiste Drozdiak durch europäische Hauptstädte, um mit den Mächtigen und manchmal auch mit den nicht so Mächtigen zu reden. Herausgekommen ist dabei ein interessantes politisches Reisebuch, das den Leser von Berlin über Madrid, Riga und Athen bis nach Moskau, Ankara und sogar Tunis führt. Zwar hat Drozdiak an manchen Stellen dem Anekdotischen mehr Platz eingeräumt, als dem Analytischen gut tut. Aber insgesamt ist es ihm gelungen, die vielschichtige Problemlage Europas zu erfassen. Vieles davon wird dem an der europäischen Politik interessierten Leser bekannt sein.
    Bedrohung durch den Populismus
    Aber die Gesamtschau durch die Augen eines amerikanischen Beobachters ist schon beeindruckend - und auch bedrückend. So sieht Drozdiak im Votum der Briten gegen die Europäische Union weit mehr als nur einen innereuropäischen Krach. Der Brexit sei das Resultat eines wachsenden Misstrauens gegen die Globalisierung und ihre Folgen im gesamten Westen.
    "Insofern passt der Ausgang des britischen Referendums ins Profil der Antiglobalisierungsbewegung, die populistische Aufstände gegen etablierte Politiker in Europa und in den Vereinigten Staaten antreibt."
    Anders als die USA haben etwa Frankreich und die Niederlande der populistischen Versuchung zwar widerstanden. Aber das heißt nicht, dass sie aus der europäischen Welt verschwunden ist. Sie lebt nicht nur in fast allen Ländern der EU fort, sondern sie bekommt auch immer wieder neue Nahrung, solange die Wirtschafts- und Währungsprobleme der Union nicht zufriedenstellend und sozial gelöst sind. Solange es keine überzeugende Antwort auf die Migration gibt, solange die europäischen Grenzen nicht sicher sind und solange die Bedrohung durch autokratische Systeme und durch Kriege in der Nachbarschaft Europas weiter wächst. Die Antwort liegt auch für Drozdiak auf der Hand: eine starke und politisch wesentlich vertiefte Europäische Union.
    Letzte Hoffnung Berlin
    Aber wer soll sie schaffen? Die Deutschen, sagt Drozdiak:
    "Wieder einmal stellt sich die deutsche Frage, die Europa jahrzehntelang lang verfolgt hat. Diesmal geht es jedoch nicht darum, ob Deutschland zu stark oder zu schwach ist. Denn in absehbarer Zukunft wird das Schicksal Europas in Berlin entschieden."
    Wirklich? In seinem eigenen Reisebericht beschreibt Drozdiak die Brüche in der EU, die dem im Wege stehen. Da ist zum einen der Nord-Süd-Konflikt über den richtigen Pfad aus der Eurokrise. Deutschland wird dabei von vielen im Süden vorgeworfen, nur auf ihre Kosten Gewinne zu machen. Zum anderen gibt es den West-Ost-Bruch. In Polen, Ungarn oder Tschechien sind Nationalisten an der Regierung, für die Brüssel das neue Moskau ist und Berlin der ideale Bösewicht, an dem man sich historisch und politisch reiben kann, zwecks Befeuerung des eigenen Nationalismus. Das ist eine für Deutschland fast unmögliche Lage. Aber, und auch das zeigt Drozdiaks Reise, eine Alternative ist dazu nicht in Sicht.
    William Drozdiak: "Der Zerfall. Europas Krisen und das Schicksal des Westens"
    Orell Füssli Verlag, 328 Seiten, 24 Euro.