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Europawahl
Machtspiele um Postenbesetzung

Das EU-Parlament möchte Martin Schulz als Jean-Claude Junckers Stellvertreter in der Kommission sehen. Die Regierungschefs der Mitgliedstaaten wehren sich gegen den Vorstoß. Der Machtanspruch des Parlaments stellt die komplizierte Verfassungsstruktur Europas vor grundsätzliche Fragen.

Von Stephan Detjen | 02.06.2014
    Der christdemokratische Spitzenkandidat für die Europawahl, Jean-Claude Juncker und Bundeskanzlerin Angela Merkel umarmen sich am 23.05.2014 in Saarlouis bei einer CDU-Wahlkampfveranstaltung.
    Angela Merkel vergeht das Lachen: Im Falle einer Großen Koalition im EU-Parlament soll Martin Schulz Stellvertreter von Jean-Claude Juncker (r.) werden. (Uwe Anspach, dpa picture-alliance)
    Noch in der Wahlnacht vor einer Woche - so berichtet es heute der Spiegel - sollen die beiden Spitzenkandidaten der großen europäischen Parteienfamilien einen Pakt geschlossen haben: Eine EU-GroKo - eine große Koalition aus christlich-konservativer EVP und Sozialdemokraten hat danach nicht nur das Amt des Kommissionspräsidenten, sondern auch das seines Stellvertreters unter sich aufgeteilt. Öffentlich forderten die bisherigen Fraktionsvorsitzenden der Parteiengruppen bislang nur das Spitzenamt für Jean Claude Juncker. Vor allem aus Sicht der SPD aber dürfte es bei dem Deal auch darum gehen, ihrem Frontmann Martin Schulz, der ihr einen für Europawahlen sensationellen Stimmenzuwachs erkämpft hat, zu einer attraktiven Machtposition in Brüssel zu verhelfen. Der Vorsitzende der Unionsfraktion im Bundestag, Volker Kauder, setzt sich gegen eine Verknüpfung der Personalien vorsorglich zur Wehr:
    "Martin Schulz hat gesagt, wer gewinnt, soll Kommissionspräsident werden. Er hat aber nie formuliert, wer verliert, wird was anderes. Er hat nicht gewonnen, um es mal vornehm zu formulieren. Juncker hat gewonnen. Jetzt wird er das und es gibt keine Automatismen,"
    sagte Kauder gestern im ARD Fernsehen. Sollte Schulz auf europäischer Ebene Teil eines Personalpakets werden, dass dem EVP-Spitzenkandidaten Juncker die Kommissionspräsidentschaft sichert, brächte das die Unionsführung in Deutschland in ein Dilemma: Angela Merkel müsste Schulz dann für den deutschen Sitz in der Kommission nominieren. In ihrer Partei aber ist sie mit der Erwartung konfrontiert, dass die CDU als Wahlsiegerin den Platz für eine zweite Amtszeit von Günter Oettinger beanspruchen kann. Oettinger hatte am Wochenende in mehreren Interviews - unter anderem im Deutschlandfunk - Interesse an einer Vertragsverlängerung signalisiert.
    "Ich bin auf beides vorbereitet, aber ich habe keinen Grund, mich von Brüssel zu verabschieden. Ich fühle mich dort wohl, ja!"
    Kauder: "Unverständliches Vorpreschen"
    Der Blick auf die Weiterungen der Personalentscheidung, die Angela Merkel im Europäischen Rat aushandeln muss, erklärt ihre Verärgerung über die Entschlossenheit, mit der die Allianz von Juncker und Schulz den Staats- und Regierungschefs das Heft des Handelns aus der Hand genommen hat. Merkel - so heißt es - habe bei einem Treffen der EVP Spitze vor dem informellen Rat am letzten Dienstag von einer "Kriegserklärung" der Parlamentarier gesprochen. Auch Volker Kauder nimmt die Kritik auf:
    "Es war ein für mich völlig unverständliches Vorpreschen der Fraktionsvorsitzenden des alten Parlaments. Die haben da ja gar nichts mehr zu sagen - sich in die Sache einzumischen. Die Kanzlerin versucht, auch noch diejenigen einzubinden, die beispielsweise in Europa etwas zu sagen haben, aber nicht Mitglied in der EVP sind."
    Noch aber ist auch die Große Koalition im Europaparlament nicht besiegelt. Förmliche Koalitionsverträge gibt es in Europa ohnehin nicht. Schließlich ist auch die Kommission keine Regierung, sondern eine Mischung aus Exekutive und oberster Verwaltungsbehörde der Union. Der neue Machtanspruch des Parlaments, den Kommissionspräsidenten wie einen Regierungschef auf nationaler Ebene zu bestimmen, stellt die komplizierte Verfassungsstruktur Europas vor grundsätzliche Fragen. Entwickelt sich die EU in Richtung eines europäischen Bundesstaates? Oder drängen die Nationalstaaten über ihre Vertreter im Rat den Einfluss der Brüsseler Zentralmacht wieder stärker zurück, wie es der britische Premier David Cameron fordert?