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Eva Sichelschmidt: "Bis wieder einer weint"
Niedergang eines Mannes, Tragödie einer Familie

In ihrem zweiten Roman "Bis wieder einer weint" erzählt Eva Sichelschmidt den Aufstieg und Fall einer Familie von der Adenauerzeit bis in die späten 1980er Jahre. Dabei verschwinden die Figuren teilweise hinter akribisch gezeichneter Alltagskultur. Ein ambitioniertes, nicht immer gelungenes Buch.

Von Christoph Schröder | 11.02.2020
Am Anfang von Eva Sichelschmidts Roman steht eine Erinnerung der unwahrscheinlichen Art: Kann sich ein Mensch bewusst an ein Ereignis erinnern, das sich zutrug, als er zehn Monate alt war? Exakt so alt nämlich ist die weibliche Hauptfigur des Romans, als Inga, ihre Mutter, an Leukämie stirbt. Die Familie hat sich bei den Großeltern versammelt. Und die Erzählerin rekonstruiert Jahre später Familienszenen anhand von Fotografien, die sich in Alben und lose in Schubladen herumliegend angesammelt haben: Inga, die Mutter, auf einem Reiterhof, links und rechts ein Pferd am Halfter führend. Und Wilhelm, der Vater, im eleganten Karo-Sakko am Lenkrad seines Cabrios. Bilder aus einer Aufbruchszeit, der Wirtschaftswunderzeit der Bundesrepublik, die Eva Sichelschmidt in ihrem opulenten, knapp 500 Seiten starken Roman ausgiebig und hin und wieder auch bis zum Überdruss inszeniert.
Sichelschmidt zieht alle Register, um das Ambiente, die Atmosphäre, das Klima der Adenauerzeit heraufzubeschwören. In den späten 1950er-Jahren lernen sich die siebzehnjährige Inga und der um zwölf Jahre ältere Wilhelm kennen. Der Altersunterschied markiert eine entscheidende Grenze: Während Inga, geboren 1941, in Geist und Bewusstsein ein Nachkriegskind ist, offen und persönlich unbelastet, ist Wilhelm als junger Flakhelfer unmittelbar vor Kriegsende in britische Gefangenschaft geraten und dort beinahe verhungert, bevor es ihm in einem Akt der Verzweiflung gelang, zu fliehen. Dieses Trauma wird ihn begleiten. Doch nicht nur in ihrem Erfahrungshintergrund sind Inga und Wilhelm ein ungleiches Paar:
"Letzten Sommer hat sie den ersten Platz bei der Wahl der "Miss schönsten Beine" belegt und als Preis acht Paar Feinstrumpfhosen der Marke Triumph nahtlos mit nach Hause genommen. Doch nicht nur ihr Liebreiz, neuerdings Charme genannt, ist es, was Wilhelm begeistert. Ihr Vater hat studiert. Sie stammt aus einem Arzthaushalt, in dem man klassische Musik hört und nicht den Wetterbericht. Sie sind füreinander mehr als nur eine gute Partie. Sie hat den Stil und er das Geld."
Flottes Alltagsidiom
Aus Passagen wie diesen lässt sich das gesamte Programm, das Eva Sichelschmidts Roman zugrunde liegt, herauslesen: Die Autorin pflegt ein flottes, der Epoche abgelauschtes Alltagsidiom, in das die Eigenheiten der Zeit geradezu manieristisch integriert werden. "Bis wieder einer weint" ist darüber hinaus ein akribisch zusammengestellter Warenkatalog von den 1950er- bis in die 1980er-Jahre hinein. Kein markanter Artikel aus der Konsumwelt aus diesen Jahrzehnten dürfte in Sichelschmidts Roman unerwähnt geblieben sein, kein Schokoriegel, keine Eissorte, keine Fernsehserie und keine Modeerscheinung.
Dieses Verfahren, das eigentlich Anschaulichkeit herstellen möchte, ist die größte Schwäche des Romans, denn vor allem im ersten Teil des Buchs drohen die Figuren hinter Sichelschmidts breit aufgefächertem Katalog der Zeitgeschichte als Charaktere zu verschwinden. Ganz davon abgesehen, dass das Prinzip der listenhaften Abarbeitung von Alltagskultur nicht eben neu ist.
Der Eindruck der Starrheit ist aber auch das Resultat einer Aporie, in der Sichelschmidts Roman gefangen ist: Es geht nun einmal auch darum, die festgefügten gesellschaftlichen Strukturen der bundesrepublikanischen Wirtschaftswunderzeit sichtbar zu machen. Anders gesagt: Gerade zu Beginn ist Sichelschmidts Personal exakt so simpel und eindimensional als bloße Rollenträger gezeichnet, dass man wahrscheinlich von purem Realismus sprechen muss.
Moralischer Puritanismus - und Tragödien
"Bis wieder einer weint" hat zwei Erzählebenen: Zum einen rekonstruiert eine auktoriale Erzählstimme die Verbindung zwischen Inga und Wilhelm bis zu Ingas Tod im Juni 1971. Geografisch ist der Roman am Rande des Ruhrgebiets angesiedelt. Inga ist die Tochter eines Augenarztes, der in dem fiktiven Dorf Schwelte, das als Idylle gezeichnet ist, praktiziert. Wilhelm hingegen führt gemeinsam mit seinem Bruder Karl die familieneigene Maschinenfabrik und lebt mit seiner herrischen, bösartigen Mutter in einer auf Kante getrimmten Villa oberhalb der Ruhr, in die später auch Inga mit einziehen wird. Hier herrscht der moralische Puritanismus der evangelischen Freikirche. Irgendwann wird Wilhelm sich, das ist Teil seiner Tragödie, fernab von allem und allen ein hofgutartiges Anwesen errichten lassen, Reitstall und Tennisplätze inklusive.
Die zweite Erzählebene ist die der jungen Halbwaise, von ihren Großeltern "Suse" genannt. Ob das ein Kosename oder eine Abkürzung ist, bleibt offen. Sie bleibt nach dem Tod der Mutter bei Ingas Eltern, während der Vater die sechs Jahre ältere Schwester Asta zu sich nimmt. Das Mädchen wächst liebevoll behütet, aber streng erzogen auf. Der Titel des Romans ist ein Zitat, mit dem die Großmutter allzu ausgelassene Kinderspiele zu beenden pflegte:
"Meine Großmutter mochte es nicht, wenn wir albern waren und laut lachten. Giggeln nannte sie das. Übermut tut selten gut. ‚Bis wieder einer weint.‘"
Kette von Demütigungen
Es ist also der große, klassische Bogen vom Thomas Mann'schen Aufstieg und Fall einer Familie über Jahrzehnte hinweg, den Eva Sichelschmidt zu schlagen versucht. Das ist ambitioniert und nur streckenweise geglückt. In den perspektivisch wechselnden Kapiteln baut Sichelschmidt zwei Tragödien auf, die im Lauf der Zeit kulminieren und sich wechselseitig überlagern:
Die Großeltern haben es nicht über sich gebracht, der Enkelin zu erzählen, dass der Vater sie nach ihrer Einschulung zu sich nehmen wird. Ab diesem Zeitpunkt wird das Leben für das Mädchen zu einer Kette von Demütigungen: In der Schule kommt sie nicht mit, wird gehänselt und zur Außenseiterin. Sie steht fremd in der Welt und sehnt sich nach Konstanten. Jede noch so kleine Veränderung macht sie nervös.
Wilhelm, den Vater, wiederum, kümmert das wenig. Denn die gesellschaftlichen Konventionen haben ihn in mehrfacher Hinsicht zum Lügner gemacht. Seine Homosexualität musste er verstecken, seine Selbstverwirklichung opfern zugunsten des Narrativs von Wohlstand, Aufbau, Fortschritt und Familienglück.
Niedergang eines Mannes
Im zweiten Teil ist "Bis wieder einer weint" dann tatsächlich eine spannende und mitreißende Lektüre, weil dort die sorgsam aufgebaute und auch überinstrumentierte Kulisse auf Lebenslügen und enttäuschte Sehnsüchte prallt und in sich zusammenstürzt:
"War der Vater daheim, liefen die Abende immer nach dem gleichen Muster ab. Nach ein paar Bieren und den dazugehörigen Schnäpsen stand er vom Sofa auf und ging grußlos ins Bett, ganz gleich, ob noch Gäste im Haus waren. Aber mitten in der Nacht, wenn endlich alles still war und auch die Töchter schliefen, stand er wieder auf, holte die Flasche Dimple aus der Bar und legte eine Platte auf. Es war nicht die Musik, es war das Weinen, das mich weckte, unzählige Male."
Die Schriftstellerin Eva Sichelschmidt
Beschreibt zwei Familientragödien, die einander überlagern: Schriftstellerin Eva Sichelschmidt (Privat)
Wie Eva Sichelschmidt am Ende des Romans Tabula rasa macht, ist bemerkenswert und auch von großer literarischer Kraft. Der Niedergang eines Mannes aus der Flakhelfergeneration, der in Psychosen, Depressionen, Alkoholismus, Wutausbrüchen und Selbstmitleid endet, geht einher mit dem Bankrott des Familienbetriebs. Man hat beim Lesen von "Bis wieder einer weint" nicht selten die Bilder von Regina Schillings bahnbrechender Dokumentation "Kulenkampffs Schuhe" aus dem Jahr 2018 vor dem inneren Auge. Dieser Mann, dieser Wilhelm, ist in seinen traumatischen Erfahrungen und in seinen Existenzniederlagen durch nichts mehr zu trösten.
Hoffnung gibt es nur noch für die beiden Töchter. Wie ihre Schwester zuvor ergreift die Protagonistin, sobald sie volljährig ist, die einzige Chance, die sie hat: Sie macht sich aus dem Staub. Dass die Biografie der Ich-Erzählerin Überschneidungen mit der der Autorin aufweist, ist für den Roman nur von sekundärer Bedeutung: "Bis wieder einer weint" ist ein streckenweise merkwürdiges, nicht immer gelungenes, am Ende aber radikal zupackendes Buch.
Eva Sichelschmidt: "Bis wieder einer weint".
Rowohlt Verlag, Hamburg, 480 Seiten, 22 Euro.