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Evangelische Kirche
Auf der Suche nach dem liebenden Ton

Welche Bibeltexte eignen sich für den Gottesdienst? Die Evangelische Kirche will mit einer revidierten Ordnung ihrer Predigten, Lesungen und Lieder an den Sonn- und Feiertagen auf neue theologische Entwicklungen eingehen. Dem Alten Testament wird deutlich mehr Raum gegeben.

Von Carsten Dippel | 19.12.2016
    Gottesdienst an Heiligabend 2011 in der Barockkirche der evangelischen Kirchengemeinde Schloß-Ricklingen bei Hannover. Pastor Christoph Dahling-Sander hält gemeinsam mit Mitgliedern der Gemeinde die Fürbitte.
    Fürbitten beim Weihnachtsgottesdienst in der evangelischen Kirchengemeinde Schloß-Ricklingen bei Hannover (imago/epd )
    "Da ist die Stimme meines Freundes! Siehe, er kommt und hüpft auf den Bergen und springt auf den Hügeln."
    Die Worte aus dem zweiten Kapitel des Hohen Liedes gehören vielleicht zum schönsten, was die Bibel über die Liebe sagt. Ursprünglich ein ganz profanes Liebeslied, wurde es in der jüdischen und christlichen Auslegungstradition vor allem des Mittelalters auf den kommenden Messias gedeutet. Was könnte passender sein für die Predigt zur zweiten Woche des Advents? Das fragte sich die Arbeitsgruppe der Evangelischen Kirche, die unter Leitung des Praktischen Theologen Alexander Deeg derzeit eine Revision der Perikopen erarbeitet. Der Bibelvers aus dem Hohelied soll künftig zum festen Bestandteil der Predigtordnung in der Evangelischen Kirche gehören. Alexander Deeg:
    "Wenn es um das Ende geht und um die Erwartung des zweiten Advents, dann fehlt uns eigentlich genau dieser Ton, der Ton der liebenden, freudigen Erwartung. Der Ton der Liebenden, die es gar nicht mehr erwarten kann, dass endlich der Bräutigam kommt, dass endlich der Freund wieder da ist. Das hat eine teilweise erstaunlich positive, teilweise auch fragend ablehnende Haltung ausgelöst, zeigt aber, wie wir versucht haben, den Klangraum eines Sonntags durch einen ganz anderen Klang herauszufordern, zu bereichern und zu verändern."
    Theologische Entwicklungen werfen Fragen auf
    Nicht nur am zweiten Advent wird es ungewohnte Bibelworte zu hören geben. Mit einer revidierten Ordnung ihrer Predigten, Lesungen und Lieder an den Sonn- und Feiertagen will die Evangelische Kirche den Klangraum des Gottesdienstes, wie es heißt, behutsam verändern. 1978 wurde zum letzten Mal diese sogenannte Perikopenordnung überarbeitet, die teilweise bis in die Reformation und ins Mittelalter zurückreicht und altkirchliche Traditionen bewahrt hat. In den letzten Jahren hat es jedoch theologische Entwicklungen gegeben, die neue Fragen aufgeworfen haben: Kommen Frauen, die in der Bibel und im Glauben eine tragende Rolle spielen, in der gegenwärtigen Ordnung angemessen vor? Erscheint die Bibel gleichwertig in ihren beiden Teilen, dem Alten und dem Neuen Testament, hat das Alte Testament überhaupt eine eigene Stimme? Aus den Gemeinden kam zudem eine ganz praktische Frage:
    "Sind die Texte, die wir jetzt in der Ordnung haben, denn wirklich für die Lesung und für die Predigt so tauglich, wie wir das gerne hätten?"
    Eine Veränderung der Lese- und Predigtordnung, selbst eine moderate, wie von vielen gewünscht, birgt jedoch auch Risiken. "Perikope" kommt von auslassen. Schon Luther stand vor der schwierigen Frage, was man für die Gottesdienstordnung aussuchen solle. Die Schweizer Reformation hatte mit der lectio continua, einer fortlaufenden Lesung der Bibel, bewusst einen anderen Weg beschritten.
    "Jede Ordnung von Lese- und Predigttexten hat ein grundlegendes Problem: Sie kann nicht die Bibel im Ganzen abbilden. Das heißt, die Bibel ist immer reicher als jede Ordnung von Texten, die man dann vorsieht. Das heißt, jede Entscheidung für bestimmte Texte ist auch eine Entscheidung gegen andere Texte, die auch in der Bibel stehen. Dieses Problem ist uralt."
    Mehr Raum für das Alte Testament
    Beibehalten wird in jedem Fall der sechsjährige Jahreszyklus. An jedem Sonn- und Feiertag gibt es auch weiterhin jeweils drei Predigt- und Lesetexte. Insgesamt geht es um mehr Abwechslung, das betrifft einzelne biblische Bücher wie auch unterschiedliche Textgattungen und Themen. Deutlich mehr Raum wird künftig vor allem aber dem Alten Testament eingeräumt. Dessen Anteil in den Texten wird nahezu verdoppelt. Dafür entfallen Texte aus den Episteln, den neutestamentlichen Briefen, die viele als zu komplex, dicht und theologisch einseitig empfänden.
    "Das Alte Testament ist ja ein riesiges, ein wunderbares Buch, eine große Bibliothek. Wir wollen das Alte Testament gern weiter und breiter repräsentieren. Vor allem seine Erzählüberlieferungen wahrnehmen. Das Alte Testament steckt voller Geschichten, die viele aus dem Kindergottesdienst noch kennen oder aus den Kinderbibeln, aber die bisher in unseren Gottesdiensten nicht vorkamen, weil sie nicht gepredigt wurden."
    Manche dieser Texte hätten es bisher schwer gehabt. Etwa die Geschichte des Kampfes von Jacob mit dem Engel am Fluss Jabbok, von Hagar und Ismael, die eine große Wirkung in der Kunstgeschichte entfalteten. Oder die Geschichte von Hiob, die bislang nur an einer kleinen Stelle erwähnt werde. Zum ersten Mal werden künftig auch Psalmen gepredigt.
    "Das Alte Testament hat einen unglaublichen Schatz an Weisheit mit vielen Texten, die für heute und für die Gegenwart interessant sind, schön sind und gut zu lesen. Was ist eigentlich ein gutes Leben mit Blick auf Gott und seine Gerechtigkeit, mit Blick auf den Nächsten?"
    Kritik und Wünsche auch online
    Doch ausgerechnet um die Bedeutung des Alten Testamentes für die christliche Frömmigkeitspraxis hat es in den vergangenen Jahren eine lebhafte Debatte in der Evangelischen Theologie gegeben.
    "Viele haben in dieser Diskussion gesagt, wir brauchen das Alte Testament, weil wir sonst als Christinnen und Christen in der Luft hängen und gar nicht wissen, wer dieser Jesus eigentlich ist. Das Alte Testament ist ja ein Text, der erstaunlich viel und umfangreich da ist in der Frömmigkeit von Menschen. Es zeigt sich auch, dass Pfarrerinnen und Pfarrer sehr, sehr gerne Texte aus dem Alten Testament predigen, auch und vor allem, weil sie das Altes Testament als sehr lebensnahes und gegenwärtig relevantes Buch empfinden."
    Die Arbeitsgruppe um Alexander Deeg, in der sich Theologinnen und Theologen unterschiedlichster Strömungen befinden, hat im Sommer 2014 einen Entwurf vorgelegt, der von den Gemeinden ein Jahr lang getestet werden konnte. Zusätzlich zu den Voten aus den Gemeinden gab es für jeden Interessierten auch online die Möglichkeit, Kritik, Anregungen und Wünsche zu äußern. Es gab dabei durchaus auch kritische Stimmen. Ist dieses Perikopensystem, so fragten manche, wirklich noch zeitgemäß?
    "Es gab andere, starke Stimmen, die sagten, nein, es ist doch gut, wenn wir als Kirche der Reformation etwas bewahren, was tatsächlich alt ist, was uns durch die Jahrhunderte in wesentlichen Teilen mit den Vorvätern und Müttern im Glauben verbindet. Wir sind mit großer Vorsicht an die wirklich alten Teile der Lese- und Predigtordnung herangegangen, so dass wir mit etwas weniger Vorsicht an die neueren Elemente heran sind und da auch gern das eine oder andere weggeschnitten, weggenommen bzw. umgestellt haben. Das heißt, wir bleiben insgesamt in einem System, lassen die bewährten Texte drin und haben hier und da neue und hoffentlich interessante Akzente gesetzt.
    "Aufwendiges, aber lohnenswertes Verfahren"
    Zum Advent 2018 wird die neue Perikopenordnung eingeführt. Bis dahin werden die Stimmen aus den Gemeinden, die Vorschläge und Änderungswünsche geprüft und eingearbeitet, bevor auf den verschiedenen Synoden der Evangelischen Kirche und ihrer Gliedkirchen über die endgültige Fassung abgestimmt werden kann. Ein aufwendiges, insgesamt acht Jahre dauerndes Verfahren, das sich, so die Hoffnung von Alexander Deeg, lohne.
    "Meine allergrößte Hoffnung ist, dass durch diese neue Perikopenordnung in den Gemeinden die Lust auf Bibel und vor allem auch die Lust auf das Alte Testament wächst. Dass evangelische Kirchen, die ja eigentlich Kirchen der Bibel und Kirchen des Wortes sind, vielleicht noch begeisterter als sie das bisher tun, die Bibel wieder zur Hand nehmen, dass Menschen noch mehr Lust auf die Predigt, aber eben auch die Lektüre der Bibel haben. Dass man erkennt, welch großartiges, reiches Buch die Bibel ist."