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Evangelischer Kirchentag
"Wir sollten als Protestanten Kontroversen austragen können"

Der Göttinger Staatsrechtler Hans Michael Heinig kritisiert die "kulturelle Hegemonie des sogenannten Linksprotestantismus" auf dem Kirchentag. "Es gibt schon so einen Typus des unversöhnlichen Rechthabers beim Kirchentag, der einem Angst macht", sagte Heinig im DLF. Er plädiert dafür, Kontroversen offen auszutragen.

Hans Michael Heinig im Gespräch mit Christiane Florin | 22.05.2017
    Kirchentag
    Gilt das Motto des Kirchentags für alle? (epd-bild/JensxSchlueter)
    Christiane Florin: Eine Willkommenskultur für Menschen wie ihn vermisst unser Hörer Reinald Leistikow in der evangelischen Kirche – unsere Landeskorrespondentin Claudia van Laak hörte ihm zu. Auf unserer Homepage www.deutschlandfunk.de finden Sie das Portal "Hörerwelten" und dort können Sie diesen und alle anderen Beiträge unserer Reihe nachhören und nachlesen.
    In Hannover begrüße ich nun Hans Michael Heinig, er lehrt Staatsrecht an der Universität Göttingen und leitet das kirchenrechtliche Institut der EKD, der Evangelischen Kirche in Deutschland. Guten Morgen, Herr Heinig.
    Hans Michael Heinig: Guten Morgen.
    Florin: "Du siehst mich" ist das diesjährige Motto des Kirchentages, der Leitsatz. Werden Menschen wie Reinald Leistikow übersehen? Oder, anders gefragt, werden Positionen, die nicht einen multikulturellen, feministischen, ökologischen Geist atmen, bewusst ausgegrenzt?
    Heinig: Beim Kirchentag oder in der Kirche? Ich glaube, dazwischen müssten wir unterscheiden.
    Florin: Beim Kirchentag zunächst mal.
    Heinig: Das, was der Hörer beklagt hat, führt er ja auch selber ein. Also, er beklagt eine politisierte Kirche und will zugleich eine solche. Insoweit weiß man nicht so ganz, wie man sich dazu jetzt verhalten soll. Für den Kirchentag gilt, glaube ich, schon, dass er sich auf seine Pluralismus-Fähigkeit hin befragen muss, was theologische und gesellschaftspolitische Positionen angeht. Nicht punktuell – da sind Kontroversen durchaus erwünscht –, aber strukturell gibt es doch eine gewisse kulturelle Hegemonie des sogenannten Linksprotestantismus.
    Florin: Welche Positionen fehlen Ihnen?
    Heinig: Na, wie gesagt, es ist kein punktuelles Problem, wo man sagt, da fehlen jetzt AfD-Positionen oder migrationskritische Positionen: Die sind alle vorhanden. Und trotzdem ist die Gesamtstruktur so aufgebaut, dass eine gewisse Meinung und Grundhaltung affirmiert wird.
    "Es gibt zwei Kirchentage"
    Florin: Sie haben Ende April in einem Zeitungsartikel kritisiert, dass auf dem Kirchentag der "protestantische Wutbürger" dominiere. Wie kommen Sie zu dieser These?
    Heinig: Nun, jeder, der an einer Kirchentagsveranstaltung mal teilgenommen hat – ich hab zehn Jahre in der Präsidialversammlung gesessen und viele, viele Kirchentagsveranstaltungen vorbereitet oder daran mitgewirkt – es gibt schon so einen Typus des unversöhnlichen Rechthabers da beim Kirchentag, der einem Angst macht. Es ist Anschauung.
    Florin: Angst wovor?
    Heinig: Ja, davor, dass wir Kontroversen noch diskursiv austragen können. Da sind die Podien manchmal besser als die Publikumsperspektive, das ist so eine Beobachtung dabei.
    Florin: Wenn ich die Liste der Politprominenz-Namen durchgehe: Ich nehme jetzt nur mal Merkel, De Maizière, Schäuble, natürlich Barack Obama – was ist daran Wutbürger?
    Heinig: Naja, es gibt ja zwei Kirchentage. Die einen finden statt auf dem Podium, die anderen finden statt in der Breite der hunderttausend Teilnehmer und deren Diskussionen und … Das Wutbürgertum, in einem bestimmten protestantischen Sinne, finden wir eher auf den Papphockern unten als oben. Aber, wie gesagt, strukturell ist der Kirchentag so aufgestellt, dass er bestimmte Positionen nur ungern zulässt. Also, oft hört man dann in den Vorbereitungsgruppen: Dieser oder jener sei nicht kirchentagsgemäß, obwohl die Expertise unbestreitbar ist. Und das ist ein Problem auf Dauer für den Kirchentag.
    "Ich halte den Kirchentag für eine großartige Einrichtung, aber er hat auch Schwächen"
    Florin: Ihr Artikel ist nun schon einige Wochen alt. Wie waren die Reaktionen darauf?
    Heinig: Ach, ich glaube, wir sind im Protestantismus im Moment nicht so gut darin, solche Kontroversen auszutragen. Also, es gibt viel Schweigen, dann gibt es so ein Twitter-Geraune und eine häufige Reaktion war: Das ist alles richtig, was ich geschrieben habe – aber das sagt man nicht laut. Und ich finde, wir sollten als Protestanten in diesem Land durchaus Kontroversen austragen können und Dinge, bei denen wir Unbehagen haben, laut aussprechen. So, wie der Hörer es ja auch gemacht hat, den Sie gerade eingeschaltet hatten. Wo man sagt, das ist schon eine Position, mit der man sich auseinandersetzen muss. Man muss es nicht teilen, ich halte den Kirchentag für eine großartige Einrichtung, aber er hat auch Schwächen: Er muss sich seiner Vergangenheit stellen, auch kritisch mal stellen, und er muss sich organisatorisch-institutionell auch weiterentwickeln ins 21. Jahrhundert hinein.
    Hans Michael Heinig (Foto: imago stock&people)
    "Im Kern führen wir eine Auseinandersetzung um das Verhältnis von Glaube und Politik" - Staatsrechtler Hans Michael Heinig (imago stock&people)
    Florin: Es ist im Moment schick, sich über, wie es abfällig heißt, Gutmenschen zu echauffieren. Gutmenschen werden bespottet oder oft auch diffamiert. Warum reihen Sie sich da ein?
    Heinig: Nein, das … da möchte ich mich auch gar nicht einreihen. Vom Gutmenschen habe ich auch nicht gesprochen. Im Kern führen wir, glaube ich, innerhalb des Protestantismus im Moment noch mal eine Auseinandersetzung um das Verhältnis von Glaube und Politik. Und da haben wir zwei Pole und beide Pole haben ihre Berechtigung. Die einen vertreten eher ein eschatologisch-messianisches Politikverständnis: Da will man schon das Reich Gottes in dieser Welt verwirklichen.
    Und die anderen erinnern dann an Luthers Lehre von den zwei Regimenten, die natürlich die Politik auch von der Kirche befreit hat, die daran erinnert, dass wir in der Politik ganz oft über vorletzte Fragen sprechen, die aus dem Horizont des christlichen Glaubens sehr unterschiedlich beantwortet werden können. Ob Armutsbekämpfung am besten gelingt durch Umverteilung oder durch wettbewerbsbasierte Vollbeschäftigung? Das ist eine strittige Frage, die viel mit weltlichen Fragen und wenig mit Heilsfragen zu tun hat.
    Unterscheiden statt trennen
    Florin: Sie neigen eher dazu, dass sich die evangelische Kirche und auch ein Kirchentag um die letzten Fragen kümmert? Nicht so sehr um die vorletzten, also die politisch angesagten Maßnahmen?
    Heinig: Nein, da würde ich mich missverstanden fühlen. Ich würde nur dafür plädieren, letzte und vorletzte Fragen doch in diesem luther'schen Sinne unterscheiden zu können.
    Florin: Voneinander zu trennen.
    Heinig: Sie sind aufeinander bezogen. Die Kirche hat eine politische Wirkung. Die christliche Botschaft hat eine politische Wirkung. Die Frage ist nur, wie sie wirkt. Eine zu aufgeheizte Religiosität macht mich da unruhig, dazu sind wir durch die Aufklärung gegangen. Und wenn wir gegenüber bestimmten islamischen Strömungen daran erinnern, dass Aufklärung was Vorteilhaftes ist, was die Gesellschaft zivilisiert, dann müssen wir uns als Christen selber daran auch halten. Das heißt, diese Grundeinsichten des modernen Christentums immer wieder neu beachten: Achtsam sein mit dem Rechtsstaat - vorletzte Fragen von letzten Fragen zu unterscheiden wissen. Nicht trennen – aber unterscheiden. Aufeinander bezogen – aber doch differenzieren können.
    "Die bessere Kirche"
    Florin: Ich möchte doch nochmal auf den Gutmenschenvorwurf zurückkommen: Das Wort haben Sie nicht benutzt, aber trotzdem, das kommt ja sehr, sehr häufig, wenn von der evangelischen Kirche die Rede ist. Nun ist es aber doch so, dass diejenigen, die sich auf Kirchentagen treffen, nicht diejenigen sind, die bloß reden und ihre moralische Überlegenheit vor sich hertragen. Das sind doch Christen, Bürger, die sich in ihren Gemeinden engagieren, die sich aber auch sozusagen in der Welt engagieren, die wirklich etwas tun. Ohne die würde doch eine Gesellschaft überhaupt nicht zusammenhalten. Was ist daran so verwerflich oder kritikabel?
    Heinig: Daran ist gar nichts zu kritisieren. Es ist ganz bemerkenswert, wie viele Menschen sich engagieren innerhalb der evangelischen Kirche und dann auch den Austausch auf dem Kirchentag suchen. Wenn Sie aber mit Kirchentagsfunktionären sprechen, haben Sie oft den Eindruck, dass man sich dort als "die bessere Kirche" begreift. Eine Kirche, die die erreicht, die gar nicht in der Gemeinde sind. Und das ist ein Trugbild innerhalb des Kirchentages. In der Tat, die engagierte Kerngemeinde kommt auch zum Kirchentag. Das Selbstverständnis des Deutschen Evangelischen Kirchentages ist allerdings ein anderes: Nämlich, dass man dort den frei flottierenden Protestanten erreicht, der mit der Kirche als verfasster Institution wenig zu tun hat. Und so ist es nicht.
    Bewegung und Verankerung
    Florin: Also man gibt vor, Opposition zu sein, rebellische Basis zu sein – und ist in Wirklichkeit Establishment? Kann man das so sagen?
    Heinig: Man neigt ein wenig zur Schizophrenie, würde ich sagen. Einerseits ist es schon bewusst, gibt es schon ein Bewusstsein dafür, wer da kommt und von wem man lebt. Also, der Kirchentag begreift sich ja als Bewegung. Aber gesellschaftliche Impulse können aus einer Bewegung alleine natürlich nicht entfaltet werden, sondern man braucht immer auch die institutionelle Verankerung – und das ist die Kirche. Und deshalb bräuchte man wahrscheinlich oft mittelfristig so eine etwas klarere Ekklesiologie, eine Lehre der eigenen Kirchlichkeit, im Kirchentag.
    Florin: Vielen Dank, Herr Heinig. Mit Hans Michael Heinig, Professor für Staatsrecht in Göttingen, habe ich über den Kirchentag als Echokammer der Empörten gesprochen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.