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Evolution
Wie kommt es zum menschlichen Geburtsdilemma?

Im Lauf der menschlichen Evolution sind die Köpfe der Neugeborenen größer geworden, aber die Becken der Frauen zugunsten des aufrechten Ganges schmal geblieben. So erklärt es zumindest das sogenannte Geburtsdilemma. Doch das vor etwa 60 Jahren entstandene Erklärungsmodell ist inzwischen umstritten.

Von Lennart Pyritz | 16.08.2019
Ein Arzt untersucht eine schwangere Frau mit Ultraschall und zeigt ihr etwas auf dem Bildschirm.
Wie konnte sich ein so schmerzhafter und umständlicher Prozess wie die Geburt des Menschen im Lauf der Evolution ausbilden, fragen Forscher seit über 60 Jahren (dpa/Daniel Karmann)
"Das Dilemma bedeutet, dass wir hier zwei gegensätzliche Evolutionsdrücke haben."
Martin Häusler, Leiter der Arbeitsgruppe Evolutionäre Morphologie am Institut für Evolutionsmedizin der Universität Zürich.
"Auf der einen Seite der Evolutionsdruck für ein relativ schmales, energetisch effizientes Becken, das optimal ausgerichtet ist für den aufrechten Gang."
Geburtsdilemma - ein etwa 60 Jahre alter Begriff
Auf der anderen Seite wurden im Lauf der menschlichen Entwicklungsgeschichte die Gehirne und damit Köpfe der Neugeborenen immer größer – was auch eher große mütterliche Becken begünstigen sollte. Ein evolutionärer Konflikt, der einerseits den für Frauen schmerzhaften Geburtsvorgang erklären könnte; andererseits die Tatsache, dass Neugeborene neurologisch unterentwickelt zur Welt kommen, da ihrer Gehirn- bzw. Kopfgröße im Mutterleib Grenzen gesetzt sind. So zumindest die ursprüngliche Interpretation des vor etwa 60 Jahren geprägten Begriffs Geburtsdilemma. Doch inzwischen ist das alte Erklärungsmodell umstritten.
"Das Problem ist, dass diese Grundannahme, dass ein weites Becken eigentlich ineffizient ist für den aufrechten Gang, diese Grundannahme wurde nie richtig getestet, es gibt keine Daten dafür. Es gibt hingegen jetzt eine Studie, die zeigt, dass die Beckenbreite nicht relevant sein soll für die energetischen Kosten des aufrechten Ganges."
Anderen Theorien zufolge entstehen bei zunehmender Beckenbreite Probleme mit der Muskulatur des Beckenbodens oder der Thermoregulation des Körpers. Auch die Ernährung könnte eine Rolle spielen. Eine Überlegung: Fehlt es den Müttern während des Heranwachsens an proteinreicher Nahrung, bleibt das Becken auch im Erwachsenenalter relativ klein.
"Das kann dann zu Konflikten führen, wenn die Ernährung während der Schwangerschaft wiederum relativ gut ist. Dann bekommt man größere Kinder, die dann eben nicht mehr durch das enge Becken hindurchpassen."
Studie anhand der anatomische Maße von Müttern und Neugeborenen
Wieder andere Studien legen nahe, dass nicht die Beckengröße der begrenzende Faktor für die Größe des Kindes ist, sondern die Energie, die die Mutter in das Kind investieren kann. Um das Hypothesenknäuel etwas zu entwirren, haben Martin Häusler und sein Team jetzt auf historische Daten zurückgegriffen.
"Wir haben eine Studie gemacht – oder sind immer noch daran – Daten aus dem späten 19., Anfang 20. Jahrhunderts, von der Geburtsklinik in Basel zu analysieren."
Die Daten zeigen den Verlauf anatomischer Maße der Mütter und Neugeborenen zwischen 1896 und 1939. Die setzten die Forscher wiederum in Beziehung zu sich wandelnden sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen im Untersuchungszeitraum. Ein Ergebnis: Frauen und Kinder wurden durch die bessere Nährstoffversorgung immer größer – die Beckengröße aber blieb gleich. Theoretisch gesehen wurde das Gebären also immer schwieriger.
"Und das ist doch überraschend. Bei größeren Müttern erwartet man eigentlich auch größere Becken, und das haben unsere Daten nicht gezeigt."
Das heißt: Die veränderten Ernährungs- und Lebensbedingungen für Mütter und Kinder scheinen die Beckengröße zumindest in der Schweizer Stichprobe nicht zu beeinflussen. Es gibt also offenbar einen anderen Faktor, der das Beckenmaß begrenzt. Ist es die Muskulatur des Beckenbodens? Oder doch die Biomechanik des aufrechten Ganges? Das Dilemma lebt – und bietet weiterhin viel Stoff für Forschung.

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