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Ewigkeit und Wimpernschlag

Was einmal kleine Täler am Fluss waren, in denen wir Beeren pflückten, sind jetzt schmale Buchten voller Fluss. Was einmal Felswände am Berghang waren, sind jetzt Mauern, die senkrecht zum Wasser abfallen.

Eine Kritik von Siggi Seuß | 29.05.2004
    Der Staudamm ist fertig, der wilde Fluss Gatineau liegt vor uns als stiller, großer See. Die Erzählerin in Brian Doyles Roman "Mary Ann Alice" verstummt und man fühlt sich den Menschen in Martindale so nah, als säßen wir mit den Eltern der Titelheldin auf der Veranda, betrachteten den See, der einmal ein Fluss war, und lauschten dem Nachklang der Geschichten, die für immer dort unten versunken wären, würde es nicht Chronisten wie Mary Ann Alice geben.

    Fast könnte man glauben, die Titelheldin sei eine Seelenverwandte von Boston Jane, die sieben Jahrzehnte früher ein abenteuerliches Leben in der Wildnis führte. Aber mehr noch als das Mädchen aus Jennifer L. Holms gleichnamiger Roman könnte Mary Ann Alice McCrank eine Figur aus dem wirklichen Leben sein. Ihre Erzählungen über die Ereignisse rund um einen gewaltigen Staudammbau in der kanadischen Provinz Quebec - vom Herbst 1926 bis zum folgenden Sommer -, ihre Erzählungen sind ein Reigen von Erinnerungen an die Menschen, die dort lebten, an ihre Sehnsüchte, Hoffnungen und an den entbehrungsreichen Alltag. Es sind Erinnerungen voller Herzensgüte und mit Blick für die wirklich entscheidenden Dinge des Lebens.

    ... und die beiden haben jetzt sieben Kinder. Der Vater von Mickey junior, Mickey senior, wurde erwachsen und heiratete Martha McCooey, die Tochter vom alten Boner McCooey, und sie bekamen Mickey junior, die ungefähr so alt ist wie ich und der mit mir durch die Dachbrücke ging, als ein Vogel, der Schreiende Ziegenmelker, so viele helle Melodien schmetterte, dass einem die Ohren schon davon wehtaten, sie alle zu hören.

    Aber kümmert euch nicht darum, ihr kriegt das sowieso nicht auf die Reihe, also vergesst einfach, dass ich überhaupt erst versucht habe, das alles zu erklären.


    Was die dreizehnjährige Mary Ann Alice erzählt, ist manchmal zum Heulen schön und wahrhaftig. Brian Doyle stattet sie mit einer Empfindsamkeit für Mögliches und Unmögliches aus, für Wirkliches und für Fantastisches, dass man, ohne zu zögern, ihren Lebensmut, ihre Trauer und ihren Humor teilen möchte.

    Dass der Roman nicht in Sentimentalitäten versinkt wie ein Großteil des Farmlandes im Stausee, hat er den harten Tatsachen zu verdanken, auf die die Dichterseele Mary Ann Alice immer wieder gestoßen wird.

    Ich bin ziemlich poetisch, das räum ich gern ein. Mein Lehrer, Patchy Drizzle, sagt von mir, dass ich eine Dichterseele habe. Das hat er unter eine Geschichte geschrieben, die ich letztes Frühjahr abgegeben habe.

    Die realen historischen Ereignisse, die Brian Doyle in die Geschichte webt, die Charakterfülle seiner Figuren und schließlich die Entschiedenheit der sympathischen Eltern des Mädchens rücken romantische Perspektiven immer wieder zurecht. Bis auf eine Ausnahme: Den Zeitpunkt, an dem Mary Ann Alice ihren liebsten Freund Mickey McGuire junior endlich küssen wird, bestimmt sie selbst und niemand sonst. Punktum. Kein Satz bezeichnet die Dialektik von Fantasie und Realität besser als der, den die Mutter der jungen Schriftstellerin entgegen hält:

    Also, Dichterseele hin oder her, nimm dir deinen Eimer und dann ab nach draußen. Da gibt es poetische Kühe zu melken, die warten schon auf dich!

    Wenn man sich mit den Verhältnissen vor Ort vertraut gemacht hat, spätestens dann, wenn man Mrs. Kealeys köstlichen Schmorbraten im Speisesaal eins des Bauarbeitertrupps kostete und all den verrückten Typen über den Weg gelaufen ist, wenn man sich also an der Seite Mary Ann Alices durch den gewöhnlichen, aufgeregten, aufregenden Tag in Martindale gepirscht hat, dann bleibt man plötzlich staunend vor einem Phänomen stehen, das all das quirlige Treiben zu einem Wimpernschlag in der Ewigkeit schrumpfen lässt.

    Unser Lehrer Patchy Drizzle sagt, dass die Wände aus kristallinem Kalkstein bestehen, vermutlich aus Dolomit, sagt er. Weil es sich um Kalkstein handelt, hat das reißende Wasser über Millionen von Jahren hinweg an den Steilhängen Formen und Höhlen und Tunnel geschaffen. Marmorstatuen aus einer anderen Welt. Das Wasser, das zwischen diesen Formen und durch die Höhlen strömt, macht so viele verschiedene Geräusche, dass man kaum noch einen klaren Gedanken fassen kann. Patchy Drizzle sagt, das ist wie ein gewaltiges Symphonieorchester, wobei jeder ein anderes Lied spielt und es keinen Dirigenten oder sonst wen gibt, der verhindern würde, dass ein hoffnungsloser Murks daraus wird.

    Nicht dass der Augenblick, trotz Staudamm und verlorener Illusionen, nicht lebens- und liebenswert wäre. Wer aber je mit Mary Ann Alices Lehrer Patchy Drizzle die Geheimnisse der steinernen Welt um den Gatineau River erforschte, der glaubt mit eigenen Augen gesehen zu haben, wie die Elemente schleuderten und brodelten, sich wälzten und falteten und malmten und atmeten und scharrten - vier Milliarden Jahre lang.

    Jetzt ahnt man, warum Mary Ann Alices Vater, obwohl er augenzwinkernd mitten im Leben steht, oft sein Waldhorn hervorholte, am Fluss entlang zu den Pauganfalls hinunterging und sein Horn zum Donnergetöse des Wasserfalls blies, als seien Ewigkeit und Wimpernschlag eins. Am Ende der Geschichte, wenn man mit den McCranks auf der Veranda sitzt und auf den stillen See hinunterschaut, der einst ein wilder Fluss war, weiß man, dass es stimmt.

    Brian Doyle:
    Mary Ann Alice
    Aus dem kanadischen Englisch von Cornelia Krutz-Arnold. Sauerländer Verlag, Düsseldorf 2004, 184 Seiten, 13,90 Euro ab 12