Mittwoch, 17. April 2024

Archiv


Exil für verfolgte Juden in Schanghai

Viele Länder hielten ihre Grenzen zur NS-Zeit geschlossen, obwohl sie wussten, dass Hitler-Deutschland die Juden in Europa systematisch tötete. Schanghai im fernen China war aber noch offen. Rund 20.000 Juden entkamen dort den Nazis.

Von Silke Ballweg | 09.11.2013
    Ein paar alte Gassen, verblichene Schriftzüge an Häusern, die zur Gedenkstätte umgebaute, ehemalige Ohel-Moshe-Synagoge. Im Schanghaier Stadtviertel Hongkou erinnert heutzutage nicht mehr viel daran, dass hier vor mehr als 70 Jahren tausende Juden aus Europa lebten.

    "Im Winter war es kalt, meine Eltern hungerten oft. Und auch der Schmutz und alles, was uns umgab, das war für meine Eltern furchtbar",

    erinnert sich Sonja Mühlberger. Die 74-Jährige wurde 1939 als Kind jüdischer Flüchtlinge in Schanghai geboren, dort verbrachte sie ihre ersten Lebensjahre:

    "Meine Eltern hatten mehrfach Malaria, ich war auch einmal sterbenskrank. Das war normal, dass man die Ratten sah, die Bettler sah und die vielen Krabbeltiere, und mein Vater hatte einen Spruch und sagte dann, ja, die Marienkäfer sehen hier halt anders aus."

    Sonja Mühlbergers Eltern hatten sich 1938 nach Schanghai gerettet, aus Deutschland, vor den Verfolgungen der Nationalsozialisten - so wie rund 20.000 weitere Juden. Der Alltag in China war den Europäern fremd, kaum einer verstand anfangs die Sprache. Die Juden kamen, weil sie nicht wussten, wohin sonst. Denn seit der Konferenz von Evian 1937 verschlossen immer mehr Länder ihre Tore vor ihnen - so wie Großbritannien oder auch die USA. Schanghai aber hatte offene Türen, erzählt Professorin Zhong Zhiqing von der Pekinger Akademie der Sozialwissenschaften. Die Literaturwissenschaftlerin ist Spezialistin für die Geschichte des Judentums:

    "Nach Schanghai konnte man damals ohne Visum einreisen. Das lag an dem sogenannten internationalen Status der Stadt. Man brauchte nur ein Visum für die Ausreise aus Europa, aber in Wien gab es zum Beispiel einen chinesischen Diplomaten, er allein hat insgesamt 2000 jüdischen Flüchtlingen Visa ausgestellt."

    Ein Koffer und zehn Reichsmark – mehr durften die Juden aus Europa nicht mitnehmen bei ihrer Reise ins Exil. In Schanghai richteten sie sich ein, so gut es eben ging. Jüdische Geschäfte eröffneten, es gab Handwerker, Schneider und auch Cafés. Der Stadtbezirk rund um die Huoshan-Straße hieß bald Klein-Wien, dort luden Musiker zu Konzerten ein, sogar Zeitungen auf Deutsch sind herausgegeben worden.

    "Aber die Ungewissheit über die Zurückgebliebenen und die Frage, was kommt, das war sehr tragisch. Mein Vater, ich seh‘ ihn noch, wie er täglich, obwohl das verboten war, die Nachrichten in Englisch abgehört hat. Es wurden natürlich die Kriegsgeschehnisse verfolgt."

    Während Juden im deutschen Herrschaftsbereich in Europa systematisch ermordet wurden, versuchten sie sich während des Krieges in Schanghai irgendwie über Wasser zu halten. Dort waren sie immerhin davor geschützt vernichtet zu werden. Doch die Situation verschlechterte sich, als Ende der 1930er mit Nazi-Deutschland verbündete japanische Truppen Jahre die Metropole an der Jangtse-Mündung eroberten. Jetzt plötzlich reichte Hitlers Einfluss auch bis China. Himmlers Gestapo verlangte von der Regierung in Tokio, die Juden auch in China liquidieren zu lassen. Ein Ansinnen, das jedoch nie umgesetzt worden sei, hat Yang Yue Fei erfahren. Die chinesische Studentin führt in der ehemaligen Synagoge Besucher durch die Ausstellung zur Geschichte der Schanghaier Juden:

    "Die Chinesen töteten die Juden nicht, aber sie schränkten ihr Leben ein. Die Juden mussten ab 1943 in einem Getto leben, das sie nur mit einem Passierschein verlassen durften. In manchen kleinen Häusern wohnten 20, 30 Personen zusammengepfercht. Es waren miese Lebensbedingungen."

    Immerhin, die Juden konnten sich weiter sicher fühlen. Doch mit dem Kriegsende im Spätsommer 1945, nach der Kapitulation Japans, packten die meisten von ihnen sofort wieder ihre Koffer. Viele suchten ein neues Leben für sich in den USA, in Australien oder in Israel. Sonja Mühlberger dagegen reiste mit Vater und Mutter zurück in die Heimat. Ihre Eltern waren unruhig, spürten zugleich aber eine bange Hoffnung.

    "Also - von unserer Familie hatte in Deutschland niemand überlebt. Die, die geblieben waren, sind umgekommen. Wir waren dann allein."

    70 Jahre später prägen die Schanghaier Kindheitsjahre noch immer das Leben von Sonja Mühlberger. Sie engagiert sich in einem weltweiten Netzwerk ehemaliger Schanghai-Flüchtlinge, hält Vorträge an deutschen Schulen.

    In der Volksrepublik China selbst, wo historische Themen vom Staat sonst streng kontrolliert werden, ist die Erinnerung an die Schanghaier Juden lebendig geblieben. Zwar werden negative Ereignisse der eigenen Geschichte - zum Beispiel das Massaker an oppositionellen Studenten auf dem Pekinger Platz des Himmlischen Friedens vor 25 Jahren - noch immer unterdrückt. In der Rolle des humanitären Helfers aber sieht sich China durchaus gerne, wie Professorin Zhong Zhiqing begründet:

    "Die Juden hatten damals keinen Ort der Zuflucht, doch die Chinesen haben sie angenommen, das ist doch eine gute Tat. Und sie wurden in Schanghai nicht ermordet, nein, sie überlebten. Deswegen ist dieser Teil der Geschichte für uns Chinesen durchaus positiv."