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Exklusiv-Recherche zu Missbrauch
"Anspruch auf Schadenersatz von der Kirche einklagen"

Der 1988 verstorbene Bischof von Hildesheim, Heinrich Maria Janssen, soll Jugendliche sexuell missbraucht haben, das Bistum versprach Aufklärung. Der Strafrechtler Reinhard Merkel hat Opfer sexuellen Missbrauchs durch katholische Amtsträger ermutigt, Schadensersatzansprüche geltend zu machen - auch wenn diese bereits verstorben seien.

Von Sebastian Engelbrecht | 22.11.2018
    Die Bischof-Janssen-Straße in Hildesheim. Gegen den früheren Bischof werden Missbrauchsvorwürfe erhoben.
    Janssen war von 1957 bis 1982 Bischof von Hildesheim. Er ist noch immer Ehrenbürger, eine Hauptstraße ist nach ihm benannt. (Deutschlandradio/Sebastian Engelbrecht)
    "Am 3. Oktober bekomme ich eine E-Mail, wo sich jemand über seine Zeit Ende der 50er-Jahre in Hildesheim ausschreibt und berichtet, wie er massiv missbraucht worden ist durch Jugendliche, also Gleichaltrige, dann aber auch durch einen Lehrer, durch andere Priester und eben durch den Bischof, zu dem er von einem Priester gefahren wurde," erzählt Heiner Wilmer. Er ist erst wenige Wochen Bischof von Hildesheim, als ihn die Mail des 70-jährigen Mannes erreicht.
    Wenn es stimmt, was der Mann schreibt, dann ist einer seiner Vorgänger im Amt, Bischof Heinrich Maria Janssen, ein Missbrauchstäter. Schon vor drei Jahren beschuldigte ein ehemaliger Ministrant, Janssen haben ihn zum Oral- und Analverkehr gezwungen. Der Mann bekam Geld vom Bistum zur Anerkennung des Leids, der ehemalige Bischof wurde jedoch nicht als Täter bezeichnet. Nun steht darüber hinaus der Verdacht im Raum, dass eine Gruppe von Klerikern - darunter Janssen - systematisch Kinder missbrauchte. Janssen war von 1957 bis 1982 Bischof von Hildesheim. Er ist Ehrenbürger, eine Hauptstraße ist nach ihm benannt, seine Gebeine ruhen im Dom. Noch zumindest.
    Heiner Wilmer, Bischof von Hildesheim
    Heiner Wilmer, Bischof von Hildesheim (Bistum Hildesheim/dpa)
    An der Aufarbeitung des Falls arbeitet Wilmer gemeinsam mit Andrea Fischer. Die frühere Bundesgesundheitsministerin leitet seit Dezember vergangenen Jahres den bischöflichen Beraterstab sexualisierte Gewalt. Auch sie kennt die E-Mail vom 3. Oktober.
    "Der Junge war nicht zu gebrauchen"
    Sie sagt: "Der Betroffene war Messdiener in Hildesheim. Er beschrieb auch ein Missbrauchsvergehen durch Bischof Janssen. Demnach soll der Bischof den Messdiener aufgefordert haben, sich nackt vor ihm auszuziehen. Der Bischof soll ihn anschließend mit den Worten weggeschickt haben, er könne ihn nicht gebrauchen. Zum Bischof gebracht und wieder abgeholt wurde der Betroffene seinen Angaben zufolge durch den Leiter des Bernwardshofs."
    Was ihm Ende der 50er-Jahre passierte, schilderte der Zeuge der Leiterin des Beraterstabs und dem heutigen Bischof Wilmer Mitte November im persönlichen Gespräch. Er berichtete, er sei auch vom Leiter des Bernwardshofs, eines katholischen Kinderheims, und von einem Kaplan am Hildesheimer Kinderheim Johannishof missbraucht worden. Von einem Lehrer am Bernwardshof sei er geschlagen worden. Auch jugendliche Mitbewohner der Kinderheime hätten ihn sexuell missbraucht.
    Heiner Wilmer will nun eine externe Untersuchungskommission einsetzen. Sie soll herausfinden, ob die Täter – Bischof Janssen, die Priester an der Spitze der Kinderheime, der Kaplan und andere – zusammengearbeitet haben.
    "Großer Schadensbefund"
    Wilmer: "Es ist ein großer Schadensbefund, der uns dazu auffordern muss, die Bedingungen und Strukturen zu überdenken, unter denen der Dienst des Priesters ausgeübt wird."
    Allein im Bistum Hildesheim waren zwischen 1946 und 2014 mindestens 153 Menschen Opfer sexualisierter Gewalt. Beschuldigt werden 46 Priester. Zehn von ihnen leben noch. Diese Zahlen wurden Ende September vom Bistum veröffentlicht.
    Wenn ein Missbrauch kirchenintern angezeigt wurde, versetzten die Vorgesetzten den Täter in eine andere Gemeinde. Das war über Jahrzehnte üblich. Ein Beispiel ist der Fall des Priesters Peter R. Als Lehrer am Berliner Canisius-Kolleg in den Jahren 1972 bis 81 soll er 41 Schüler sexuell missbraucht haben. 1982 versetzte ihn der Jesuitenorden nach Göttingen. Dort wurde er Dekanatsjugendseelsorger. Sieben Jahre später, 1989, wurde er Pfarrer der Gemeinde "Guter Hirt" in Hildesheim und stand nun unter der Personalverantwortung des Bistums. Der damalige Bischof Josef Homeyer kannte Peter R.s Vorgeschichte.
    Der Hildesheimer Diakon Wilfried Otto blickt zurück:"Bischof Josef hat ihn damals aufgenommen. Obwohl, wie sich jetzt herausstellte, etwas schon von auch Missbrauchsvorwürfen bekannt war. Die Jesuiten haben es nicht geheim gehalten. Es gibt dort einen Schriftwechsel. Die Jesuiten haben ihn auch bestätigt, dass sie das Bistum sehr wohl in Kenntnis gesetzt haben, weil das Bistum auch nachgefragt hat, aber das Bistum hat immer behauptet: 'Wir wussten ja von nichts'."
    Der Hildesheimer Diakon Wilfried Otto
    Der Hildesheimer Diakon Wilfried Otto (Deutschlandradio/Sebastian Engelbrecht)
    1997 versetzte Bischof Homeyer Peter R. nun von Hildesheim nach Wolfsburg. Homeyer zog Diakon Otto ins Vertrauen: Eine junge Mitarbeiterin des Kindergartens seiner Hildesheimer Gemeinde hatte sich gemeldet.
    "Der Bericht verschwand vor meinen Augen im Papierkorb"
    Wilfried Otto erinnert sich: "Diese Mitarbeiterin beschwerte sich bei Bischof Josef und den Mitarbeitern über sexuelle Übergriffe. Da ging es um die Frage der Freiwilligkeit und ähnliches. Und ihre Bedingung war: Wenn am Wochenende in der Gemeinde "Guter Hirt" nicht bekannt gegeben wird, dass Peter Riedel versetzt wird, gehe ich am Montag zur Staatsanwaltschaft. Also hat man darauf reagiert und hat gesagt: Er muss da weg."
    Otto erinnert sich an das Schweigegelübde, das Bischof Homeyer ihm abverlangte. "Weil es dann in dem Gespräch auch hieß: Es gab andere Vorkommen, von denen wissen wir. Es war in Göttingen schon was und bei den Jesuiten. Aber Sie dürfen darüber nie reden!"
    Wilfried Otto wurde Nachfolger von Peter R. in der Gemeinde "Guter Hirt" in Hildesheim. Er deckte auf, dass Peter R. sich das Schweigen seiner Opfer erkauft hatte. Er schenkte Kindern und jungen Erwachsenen, die er sexuell missbrauchte, Fotoapparate, technische Geräte, teure Flaschen Wein – bis hin zu einem VW-Bus. All das finanzierte der damalige Hildesheimer Priester aus dem Gemeindeetat und aus Spendenmitteln für eine Suppenküche. So entstand dem sozialen "Mittagstisch" der Gemeinde "Guter Hirt" ein Schaden von 200.000 DM. Im Jahr 2002 schrieb Diakon Otto einen Bericht, in dem er die Veruntreuungen dokumentierte, und ging damit zum Generalvikar des Bistums Hildesheim, Karl Bernert.
    Otto erzählt: "Und dann ist dieser Bericht vor meinen Augen in den Papierkorb geworfen worden. Vom Generalvikar. Weil die einzig anstehende Frage war: Müssen wir mit Rückforderungen der öffentlichen Hand rechnen und wird davon was nach außen dringen?"
    Organisierte Verantwortungslosigkeit
    Erst 2017 gab das Bistum Hildesheim ein externes Gutachten in Auftrag, das "Fälle von sexualisierter Gewalt" analysierte, unter anderem den Fall Peter R. Den Inhalt fasst Volker Bauerfeld zusammen, Pressesprecher des Bistums.
    "Besonders in Bezug auf Peter R. lässt sich in dem Gutachten nachvollziehen, dass es – man kann das nicht anders sagen – im Bistum Hildesheim im Umgang mit Vorwürfen eine organisierte Verantwortungslosigkeit gegeben hat."
    Der Hildesheimer Bischof Wilmer sagt: "Sexualisierte Gewalt ist nicht einfach ein Versagen, sondern ein Verbrechen. Das verlangt Aufklärung sowie klares und konsequentes Handeln."
    Andrea Fischer, Leiterin des bischöflichen Beraterstabs sexualisierte Gewalt, hält Wilmer für geeignet.
    "Ich würde den bestehenden (amtierenden) Bischöfen durchaus unterstellen, dass sie ernsthaft sich bemüht haben, es besser zu machen als früher, nachdem sie begriffen haben, wie groß das Problem ist. Aber trotzdem wissen sie alle: Sie sind eigentlich ein Teil des Problems, weil sie haben früher nicht gut genug zugehört, sie haben nicht genug getan."
    Auch Heiner Wilmer ist Teil des Systems, allerdings hat er - anders als die meisten seiner Amtsbrüder - keine klassische Kirchenkarriere hinter sich. Er war Lehrer an einer Jesuitenschule in New York, Schulleiter im Emsland, zuletzt Generaloberer der Herz-Jesu-Priester in Rom.
    Die Rolle der Staatsanwaltschaften
    Mittlerweile hat die Verwaltung des Bistums Hildesheim die Akten über fünf noch lebende mutmaßliche Missbrauchstäter der Staatsanwaltschaft übergeben.
    Die Untersuchung im Auftrag der Bischofskonferenz, die sogenannte MHG-Studie, lässt absichtsvoll eine Lücke: Sie benennt keinen Verantwortlichen. Sechs Professoren für Strafrecht haben Ende Oktober Strafanzeigen bei allen Staatsanwaltschaften in Deutschland eingereicht, die für die 27 Diözesen zuständig sind. Einer von ihnen ist der Hamburger Strafrechtler Reinhard Merkel.
    Er sagt: "Wir wollen, dass die Staatsanwaltschaften ihrer Pflicht genügen, nämlich diese Lücken aufklären. Die Staatsanwaltschaften können das, und nicht nur das – sie müssen das, wenn ein hinreichender Anfangsverdacht auf Begehen einer Straftat gegeben ist."
    Die MHG-Studie spricht von mindestens 1.670 beschuldigten Geistlichen und 3.677 missbrauchten Minderjährigen. Damit besteht nach Ansicht der Strafrechtsprofessoren ein "zwingender Anlass zur Einleitung von Ermittlungsmaßnahmen zur Überführung der Täter". Gesetzesänderungen seien dafür nicht nötig, meint Reinhard Merkel. Die Staatsanwaltschaften hätten das Recht, bei hinreichendem Tatverdacht auf kirchliche Archive zuzugreifen.
    "Anspruch auf Schmerzensgeld"
    Den Opfern sexuellen Missbrauchs macht Merkel Mut, nicht nur strafrechtlich, sondern auch zivilrechtlich vorzugehen. Sie könnten Schadenersatzansprüche gegenüber den Kirchen geltend machen – auch wenn der jeweilige Täter nicht mehr am Leben sei.
    "Ich meine, das ist der Fall", sagt Merkel. "Das richtet sich nicht nur gegen den jeweiligen Täter, sondern auch gegen die Institution, die gegebenenfalls ein eigenes Verschulden trifft, mindestens ein Überwachungsverschulden, das solche Dinge unmöglich gemacht hätte oder deutlich erschwert hätte, also diese sexuellen Übergriffe erschwert hätte. Ich meine, die Chancen wären gut, dann wenigstes einen Schadensersatzanspruch in Verbindung mit einem fairen Anspruch auf Schmerzensgeld von der Kirche einzuklagen."