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Experte: Abschaffung von Arbeitslosen- und Urlaubsgeld nötig

Der Soziologe Joseph Huber hat angesichts der wirtschaftlichen Probleme Deutschlands von den Parteien mehr Reformwillen verlangt. An die Reform des Arbeitsmarktes, der Beschäftigung und des Sozialstaats, wage sich in Wahrheit keiner ran. Huber schlägt als Maßnahmen unter anderem die Abschaffung von Arbeitslosen- und Urlaubsgeld vor.

Moderation: Bettina Klein | 02.08.2005
    Bettina Klein: Dass wir vor einer Richtungswahl stünden, wird längst dementiert. Zu offenkundig ist, dass alle Parteien, gleich welche an die Macht kommen werden, vor den gleichen oder vergleichbaren Problemen stehen, die gelöst werden müssen. Bleibt natürlich die Frage nach den Rezepten; die unterscheiden sich schon. Aber allen fehlt das Wichtigste, nämlich der Mut zu einem grundlegenden Politikwechsel. Das sagt Professor Joseph Huber, Soziologe an der Universität Halle, und er befürchtet, wir könnten enden als eine DDR light. Der Sozialstaat West sei heute genauso am Ende wie zuvor der Staatssozialismus Ost, das ist eine seiner Thesen. Ich habe vor der Sendung mit ihm darüber gesprochen und ihn zunächst gefragt, ob das eigentlich nur eine plakative Zuspitzung ist, um ein bekanntes Problem deutlich zu machen.

    Joseph Huber: Nein, ich denke, dass seit eigentlich 30 Jahren in der Tat im Sozialstaat West wie im Staatssozialismus Ost im Bereich der Sozialpolitik und Arbeitspolitik die Verhältnisse sehr ähnlich waren, und das hat eben auch zu den gleichen Problemen geführt, inzwischen eben auch im Westen, dass wir längst eine Situation erreicht haben, wo die Wirtschaft dieses überbordende Ausmaß an Wohlstandsleistungen nicht mehr tragen kann und inzwischen auch zur Hauptursache dafür geworden ist, dass der Arbeitsmarkt nicht mehr in die Gänge kommt und die Wirtschaft eben stagniert. Um es kurz zusammenzufassen, es wird zuviel konsumiert, die Investitionen kommen zu kurz und es wird zuwenig wettbewerbsfähig gearbeitet. Wir haben zu viele nicht Erwerbstätige und zu wenige Erwerbstätige, und das ist eine sich selbst verstärkende Spirale.

    Klein: Um auch mal kurz bei dem Vergleich zu bleiben, nun gab es allerdings auch erhebliche Unterschiede zwischen beiden deutschen Staaten, zum Beispiel im Hinblick auf das Wirtschaftssystem, das man so eigentlich nicht vergleichen kann.

    Huber: Ja, natürlich. Ich betone ausdrücklich die Gemeinsamkeiten in punkto Sozialpolitik und Arbeitspolitik. Da waren die Verhältnisse sehr viel ähnlicher über den Sozialstaat hinaus, die soziale Versorgung, die soziale Sicherung, übrigens auch im Bereich de so genannten "Arbeitskorporatismus", also die korporative Struktur in der Arbeitswelt, der Einfluss der Gewerkschaften, die gesetzliche Regulierung, die faktische Unkündbarkeit oder geringe Kündbarkeit und all diese Dinge. Da sind diese Systeme sich sehr viel ähnlicher immer gewesen, als die Propaganda des Kalten Krieges es dargestellt hat. Sie waren nicht gleich, aber wenige weit voneinander entfernt, als man das wahrhaben möchte.

    Klein: Viele Menschen, die aber jetzt gerade die Linkspartei wählen wollen, wollen vielleicht nicht nur das, eine DDR light nämlich, sondern sogar eine DDR echt, zumindest was den Wunsch nach einer bestimmten sozialen Sicherheit angeht. Also die Partei kann ja gerade dadurch große Erfolge erzielen, indem sie genau das wieder verspricht.

    Huber: Ja, das ist in der Sackgasse, weil die Grenzen der Staatsverschuldung längst erreicht sind. Man kann das natürlich noch weiter fortsetzen. Mann kann auch die Steuer- und Abgabenquote noch mal raufsetzen. Man wird damit die Beschäftigung noch weiter abwürgen und die Schwarzarbeit und Schattenwirtschaft ausdehnen. Aber irgendwann würde das System dann endgültig zusammenbrechen müssen, weil das so nicht länger haltbar ist. Das sind natürlich unhaltbare Versprechen, mit denen eigentlich, ich muss sagen, nicht nur die Linksparteien, sondern tatsächlich auch alle Parteien der Mitte auch in diesen Wahlkampf wieder hineingehen, indem sie zwar rhetorisch sagen, manches muss anders werden, aber eine grundlegende Reform des Arbeitsmarktes, der Beschäftigung und insbesondere auch des Sozialstaats, da wagt sich in Wahrheit keiner ran. Der Hauptgrund ist, dass die Parteien vor der Wahl Angst vor ihrer eigenen Courage haben. Sie wollen ja gewählt werden, und wenn sie wirklich ausbreiten würden, welche harten Strukturveränderungen und welche harten Einschnitte in der Tat vorgenommen werden müssten, um dieses System zu gesunden, dann würde sie keiner wählen, und davor haben sie Angst.

    Klein: Aber wenn Sie sagen, der Einfluss der Gewerkschaften muss beschnitten werden, wir müssen weg vom Flächentarifvertrag, von anderen arbeitsrechtlichen Bestimmungen, ich meine, da gibt es Parteien, die da ranwollen. Insofern ist ja da Ihre Klage nicht berechtigt.

    Huber: Na ja, das ist mehr oder weniger berechtigt. Ich habe bisher auch von Seiten der Union und der FDP, die ja solche Dinge zumindest ansprechen, in der Realität bisher auch immer nur erlebt, dass sie im entscheidenden Moment vor bestimmten Konflikten, Konfrontationen zurückgeschreckt sind. Das war schon vor über 20 Jahren so. Die Einsicht der Notwendigkeit von Reformen gibt es ja eigentlich seit dem Ende der Ära Schmidt und den Beginn der Regierung Kohl, aber Kohl hat sehr bald aufgehört, den Staat reformieren zu wollen. Er wollte nur noch die nächste Wahl gewinnen. Das war dann auch bei Rot-Grün so, und ich sehe nicht, dass sich dieses ändert. Auch die Union sagt zwar, wir wollen den Regierungswechsel, aber sie beginnt ihren Wahlkampf mit einer Mehrwertsteuererhöhung, das heißt also nicht Wechsel, sondern weiter so.

    Klein: Auf welchen Politikwechsel warten Sie jetzt?

    Huber: Das ist schwierig in einem Satz zu sagen. Vieles weiß man. Es müsste dringend sofort Frühverrentung unterbunden werden. Es müsste das Rentenniveau eingefroren werden, bis es ein bestimmtes tragfähiges Niveau erreicht hat. Es müsste sofort ergänzt werden um die Möglichkeiten steuerbefreiter Rückstellungen, die nachgelagert zu versteuern wären, so dass die private Vorsorge heranwachsen kann. Es müssten die Schul- und Studienzeiten radikal verkürzt werden, Studiengebühren eingeführt werden. Verschiedene noch vorhandene Wirtschaftswunderleistungen wie insbesondere Arbeitslosengeld, Urlaubsgeld und so weiter müsste man vollkommen abschmelzen und ähnliche Dinge, Flächentarifverträge haben Sie gerade angesprochen. In der Krankenversicherung müsste sofort ein Übergang zur Individualversicherung eintreten, natürlich bei solidarischer Mischkalkulation zu Gunsten der Alten, von Müttern und Kindern und ähnlichen, wie die Versicherer sagen, so genannten "schlechten Risiken". Das müsste man alles machen, aber es fehlt dafür erstens der politische Wille bei den Parteien. Es fehlt aber auch in Wahrheit die Akzeptanz auf Seiten der Wähler, die sich eben in den bestehenden Verhältnissen inzwischen seit Jahrzehnten so eingerichtet haben. Viele haben verstanden, dass dieser Richtungswechsel stattfinden müsste, aber er kann nur stattfinden durch eine gewisse Zeit von Heulen und Zähneklappern, und davor haben alle Angst. Deswegen wird dieser Richtungswechsel weiter verschoben.

    Klein: Aber Heulen und Zähneklappern ist ja vor dem Hintergrund der Beispiele, die Sie gerade aufgeführt haben, ja vielleicht auch durchaus verständlich. Also wenn Sie sprechen von Renten einfrieren, Renten kürzen und anderen sozialen Leistungen, die eingefroren oder zurückgefahren werden, da sagt man sich, gut, der versorgte Bürger, aber viele Menschen haben vielleicht dazu keine Alternative, sich versorgen zu lassen. Haben sie kein Recht zu verlangen, dass ihnen das nicht gestrichen wird?

    Huber: Ja, das ist eines der großen Probleme. Es ist eben in der Tat so, wie ich vorhin schon sagte, wir haben heute mehr nicht-erwerbstätige Erwachsene als erwerbstätige Erwachsene, und es ist auch so, dass der Löwenanteil, nämlich 70 bis 80 Prozent der Bevölkerung nur im geringen Maße oder gar nicht zu den Steuern und Abgabenlasten beitragen, während der Löwenanteil dieser Leistungen von wenigen mittel- bis besserverdienenden Erwerbstätigen getragen werden muss. Von daher ist es so, dass die Mehrheit der Wähler, wie soll ich sagen, unter dem Strich netto profitiert von den bestehenden Verhältnissen, während andere die Lasten tragen. Von daher sind die Interessen nicht so ausgewogen, wie das in einer Demokratie eigentlich der Fall sein müsste, sondern wir haben hier eine Überstimmung, wenn Sie so wollen, der Lasten tragenden Minderheiten durch die Mehrheit der Nettosozialstaatstransferbegünstigten, und die wollen natürlich die Dinge so weit wie möglich so lassen. Es ist auch insofern nachvollziehbar als natürlich sich diese Dinge nicht mit ein paar wenigen Maßnahmen in wenigen Monaten bereinigen lassen. Das wird eine Restrukturierungskrise geben, die notwendigerweise über mehrere Jahre, wenn nicht noch länger, gehen muss. Wir haben heute zwar das Leitbild des mündigen, selbständigen Bürger, aber die Realität ist, dass zu viele Bürger in der Bundesrepublik abhängige Sozialstaatsklienten geworden sind, die, selbst wenn sie es wollten, nicht über die Mittel und Möglichkeiten verfügen, für sich selbst zu sorgen, also weniger von staatlichen Regelungen und gewerkschaftlichen und Arbeitgeberwohltaten abhängig zu sein. Das ist eines der sehr großen Probleme, und es ist ein sehr wichtiger Grund, warum eben immer wieder die Parteien vor ihrem eigenen Mut zurückweichen und eben das bestehende System noch mal ein Stück fortsetzen. Man muss wohl leider annehmen, dass es auch diesmal so sein wird, und das Tal der Tränen wird nachher umso tiefer sein.

    Klein: Aber wenn es genug Leute wollen, dann ist es eben die Mehrheit und dann wird sie sozusagen auch das Sagen haben in der Demokratie. Was also ist denn ihr Ausweg?

    Huber: Es gibt hier keinen leichten Ausweg. Der Lernprozess, der begonnen hat, also erstens das Verständnis dafür, dass es so wie bisher nicht weitergehen kann, muss weitergehen. Im Prozess der Demokratie müssen Parteien und Wähler noch besser als bisher verstehen, dass ein System, wo jeder auf individuelle Vorteilnahme über den Staat hin arbeitet eben da endet, wo wir heute sind, in wenig Beschäftigung, Überschuldung der Staat, Niedergang der Investitionen und ähnlichem mehr. Davon muss man runterkommen, und das beinhaltet, sich eine Zukunft vorzustellen, in der generell der Staat für sehr viel weniger Dinge zuständig ist, als es heute der Fall ist.

    Klein: Vielen Dank für das Gespräch.